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IST JEDE UMWELT GEBAUTE UMWELT?
ОглавлениеSollte der Klimawandel tatsächlich das Ende der Natur bedeuten, müssten wir wohl oder übel den Schluss ziehen, dass der postmoderne Zustand damit in Stein gemeißelt ist. Veröffentlicht hatte McKibben sein Buch, um eine weitere zeitliche Markierung zu nennen, ein Jahr, nachdem Francis Fukuyama seinen Essay »Das Ende der Geschichte?« verfasst hatte. Verkam Fukuyamas These seither jedoch zur Lachnummer der Theorie, wird der oben genannten auch weiterhin größtmöglicher Respekt gezollt. Zwar ist McKibben selbst, als der wohl bedeutendste Anführer der globalen Klimabewegung, inzwischen zu aussichtsreicheren Aktivitäten übergegangen, sein Nachruf auf die Natur aber ist im intellektuellen Klima haften geblieben, obwohl die ihm zugrunde liegende Argumentation, wie wir gesehen haben und auch weiterhin sehen werden, mehr als fragwürdig erscheint. So dient der Nachruf nun sowohl als Ausgangspunkt für Wapners Diskussionen über die Dilemmata des Umweltschutzes als auch für die jüngste Variante des philosophisch weit fortgeschrittenen und etwa von Steven Vogel unternommenen Versuchs, den die Natur betreffenden Konstruktionismus zu verteidigen.
In seinem ersten Buch Against Nature. The Concept of Nature in Critical Theory entspinnt Steven Vogel ein aus einer eigenwilligen Lektüre des Kanons der Frankfurter Schule gespeistes konstruktionistisches Programm. Dabei zeigt er vier Einsichten auf, aufgrund derer Natur als »eine soziale Kategorie« zu verstehen sei: Man könne niemals in eine Natur außerhalb des menschlichen Vorverständnisses treten; die Natur, die Forscher:innen zu untersuchen vorgeben, sei ein Produkt ihrer eigenen Praktiken – so weit alles postmoderner Grundstock –; natürliche Objekte seien in das Gesellschaftsleben integriert; und würden durch Arbeit hergestellt.32 Nur die letzte Auffassung, die originellste der vier, wird auch in Thinking like a Mall. Environmental Philosophy after the End of Nature beibehalten. Darin vertritt Vogel, obwohl er ein wenig von seinem früheren Idealismus zurückrudert, den Konstruktionismus stärker denn je. Als Ausgangspunkt dafür dient ihm die Annahme, dass McKibben recht hatte: Die Natur sei tatsächlich an ihr Ende gelangt, am offensichtlichsten aufgrund der steigenden Temperaturen. Die puristische Definition bejahend, hebt Vogel McKibbens These jedoch auf die nächste Stufe und behauptet, dass, wenn die Natur in dem Moment erlösche, in dem der Mensch mit ihr in Berührung komme, sie schon tot und begraben gewesen sein müsse, lange bevor irgendwelches CO2 aus Schornsteinen gebauscht gekommen sei.33 Ohne eine ausdrückliche Verbindung zur globalen Erwärmung zu ziehen, heißt es bei ihm, dass es sich bei dem »Ende der Natur um etwas handeln könnte, das in der Formulierung Heideggers, die hier relevant erscheint, immer schon geschehen ist.« Kraft axiomatischer Notwendigkeit habe die Natur »in dem Moment aufgehört zu existieren, als der erste Mensch in Erscheinung trat« – »vor so langer Zeit, dass wir außerstande sind, dafür ein Datum zu ermitteln«.34
Was also ist es, was uns heute zu umgeben scheint? Keinesfalls Diskurse oder der Schlamm epistemischer Gemeinschaften; auf dergleichen hat es Vogel längst nicht mehr abgesehen. Umgeben seien wir vielmehr von einer soliden realen Umwelt, bei der es sich jedoch um eine gebaute Umwelt handele, eine, die der Mensch buchstäblich von Grunde auf physisch konstruiert habe. Da es für den Menschen keine Möglichkeit gebe, »auf irgendeine Landschaft zu stoßen, ohne sie zu verändern«, müsse jedwede mit Menschen in Berührung gekommene Landschaft als gebaut klassifiziert werden, entlegene Inseln genauso wie Ballungsräume, die Wüsten ebenso wie Autobahnen und – hierin liegt der Kern des Buches – die Atmosphäre mindestens genauso wie das Einkaufszentrum.35 Nicht unbedingt die Schlussfolgerung, die McKibben vorgeschwebt sein dürfte, folgt sie dennoch einer kompromisslosen, wenn auch verschrobenen Logik. In Anlehnung an Aldo Leopolds zeitlose Aufforderung, »wie ein Berg zu denken«, um dem Land so näherzukommen, empfiehlt Vogel Umweltschützer:innen, vermehrt wie ein Einkaufszentrum zu denken, da ein Kaufhaus schließlich genauso Teil der Umwelt sei wie ein Berg und nicht weniger Schutz und Ehrfurcht verdiene.36
Die Variante des hier herausgearbeiteten Konstruktivismus weicht offenbar vom Idealtypus ab: Wie Vogel mehrfach betont, verwendet er das Wort »Konstruktion« im wörtlichen Sinn, nicht anders also, als er es angesichts der Pyramiden gebrauchen würde. Folglich können wir zwischen einem idealistischen und einem buchstäblichen Konstruktionismus der Natur unterscheiden; Vogel und Smith sind beide von ersterem zu letzterem übergegangen, wohingegen Castree sich in die entgegengesetzte Richtung hat treiben lassen.37 Wichtig dabei ist es anzumerken, dass keiner von ihnen als Strohmann fungiert. Vogel meint wirklich, was er sagt. »In unserer Umwelt gibt es nichts, bei dessen Produktion wir nicht auf die eine oder andere Weise unsere Finger im Spiel hatten«, nichts Physikalisches oder Chemisches rings um uns, das fernab der Arbeit entstanden sei, »keine Rohstoffe, keine natürlichen Ressourcen‹, die nicht bereits selbst Gegenstand vorangegangener Konstruktionspraktiken gewesen« seien – Äußerungen, die sich in Dauerschleife durch sein aktuellstes Werk ziehen.38 Und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass Vogel wirklich will, dass wir das ernst nehmen. Tun wir das also. Wahr wird, was er sagt, dadurch dennoch nicht, wie sich an Kohle als hinreichendem Gegenbeweis zeigt: Wir wissen, dass sie sich gebildet hat, als Vegetation in Sümpfen absank, deren Wasser die Vegetation vor der Oxidation bewahrte. Als die abgestorbenen Pflanzen tiefer sanken, stiegen der Druck und die Temperaturen an; langsam und graduell verhärtete sich das Material zu Kohle, überwiegend während des Karbons vor etwa 286 bis 360 Millionen Jahren, als noch kein Mensch bei dem Prozess überhaupt hätte behilflich sein können. Kohle in einem Dschungel Borneos zu entdecken bedeutet also, eine Passage zu dieser Vergangenheit zu öffnen und das in unsere Zeit zu holen, was nicht von Menschenhand geschaffen wurde. Das Gleiche gilt für die Gewinnung jedes bisschen aus den Eingeweiden unseres Planeten geborgenen fossilen Brennstoffs.39
Dermaßen einfach – so einfach, dass sich der Spott geradezu aufdrängt, aber so ist sie nun mal, die Beschaffenheit dieser Theorie – lässt sich zeigen, dass der buchstäbliche Konstruktionismus empirisch falsch ist. Fossile Brennstoffe stellen in unserer Umwelt keine Kleinigkeit dar; ebenso wenig die Sonne, die Erdkruste, der Sauerstoff, das Element des Feuers … Man müsste schon einiges an Wortklauberei auffahren, um zu beweisen, dass etwas davon in irgendeinem Sinne vom Menschen »konstruiert« oder »gebaut« wurde, konstituieren doch gerade diese Dinge die Mise en Scène und Conditio sine qua non und was weiß ich noch alles der sich erwärmenden Welt. Die einzige Möglichkeit, den Konstruktionismus davor in Schutz zu nehmen, wäre es, auf eine Extremvariante der puristischen Definition zu bestehen: Bei jeglichem Kontakt mit den Menschen – sei es, auf sie zu fallen, sie zu tragen oder ihre Lungen zu durchströmen – würden dann Sonneneinstrahlung und Sedimentgesteine, Luft und alles andere auf magische Weise zu deren Produkten. Und wenn Vogel von »Bauten« und »Konstruktion« spricht, wirkt es, als setzte er eine derartige Metamorphose tatsächlich voraus. Etwas zu affizieren hieße dann, es zu bauen. »Es gibt nichts, was wir tun, das die Umwelt nicht irgendwie verändert und also baut«, behauptet Vogel in einer großzügigen Ausdehnung des Begriffs.40 So verwendet, wäre es mir möglich, rechtmäßig zu behaupten, eine Pyramide in Gizeh allein mittels Skalierung und schwarzer Farbe gebaut zu haben.
Sobald der Mensch mit einer Landschaft in Berührung komme, verändere er diese zwangsläufig; indem er sie verändere, baue er sie; insofern habe der Mensch jedwede Landschaften gebaut (und logischerweise sollte das auch für den Mond und den Mars und alle weiteren Himmelskörper gelten). Der offensichtliche Schwachpunkt dieses Syllogismus, der doch das ganze Argument stützt, besteht in dem Gebrauch des Wortes »Bauen« als Synonym für »Affekt« oder »Veränderung«. Vogel verteidigt die Gleichsetzung dieser Wörter, indem er beteuert, »etwas zu bauen heißt, ein Material ›zu affizieren‹ und es dadurch in etwas Neues umzuwandeln – Holz in ein Bücherregal, Ton in ein Gefäß, Silikon in einen Speicherchip«.41 Gewiss, wobei gerade das keineswegs auf dem Spiel steht. Schneide ich Holz zurecht und gestalte damit ein Bücherregal, habe ich dieses Bücherregal zweifellos gebaut – wenn ich jedoch einen Zweig vom Baum absäge, habe ich diesen Baum dann ebenso gebaut? Darauf läuft Vogels Argumentation hinaus: Nicht indem man etwas baue, affiziere man Materie, sondern indem man Materie affiziere, baue man sie. Im allgemeinen Sprachgebrauch meint man mit diesem Wort etwas anderes. Würden wir uns Vogels vorgeschlagener Neudefinition anschließen, hätte dies enorme Konsequenzen: Schauen Sie sich die Markierung an, die ich in meiner Wohnung hinterlassen habe – sehen Sie, ich bin es, der diese Eigentumswohnung gebaut hat. Oder wie Val Plumwood angemerkt hat: Ich affiziere die mir nahestehenden Personen, verändere ihre Leben tatsächlich durch und durch; folglich könnte ich behaupten, sie gebaut, produziert oder konstruiert zu haben.42 An dieser Stelle läuft der Konstruktionismus wahrlich völlig aus dem Ruder.
Was bedeutet es also, etwas gebaut oder produziert – buchstäblich konstruiert – zu haben? Auch diesmal liefert Kate Soper die überzeugendste Antwort: Das ausschlaggebende Kriterium bestehe darin, »ein Produkt einzuführen, das zuvor noch nicht existiert hat«.43 Wenn wir davon sprechen, dass der Pharao Cheops die Große Pyramide von Gizeh erbaut hat, wollen wir damit ausdrücken, dass es sie zunächst nicht gab und es dieser Mann war, der vor etwa 4600 Jahren einen Konstruktionsprozess in die Wege leitete, der das Bauwerk an genau jener Stelle hervorbrachte, an der es auch heute noch steht. Es ist die menschliche Erbauerin, die eine Entität hervorbringt. So etwas wie eine Uhr oder ein Computer werden durchaus gebaut oder produziert, schließlich verdanken sie ihre Existenz menschlichen Handlungen – indem sie ausgewählte Materialien auf eine bestimmte Art affizieren, erschaffen die Menschen diese Dinge de novo –, Kohle und Ozeane und der Kohlenstoffzyklus fallen jedoch in eine andere Kategorie. Und mit dem Klima verhält es sich allem Anschein nach ähnlich. Denn die Erde wies ein Klima auf, lange bevor sie überhaupt Menschen aufwies.