Читать книгу "Bodhisattvaweg" und "Imitatio Christi" im Lebensgang Rudolf Steiners - Andreas Neider - Страница 6
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Vier Arten des Verständnisses eines Bodhisattva
ОглавлениеUm den Begriff eines Bodhisattva, wie wir ihn in diesem Buch verwenden wollen, richtig zu verstehen, kommen wir nicht umhin, vier mögliche Verständnisformen eines Bodhisattva zu unterscheiden.
Zunächst haben wir die bekannteste und auch von Rudolf Steiner häufig gebrauchte Form,21 nämlich den Bodhisattva als die letzte Inkarnation eines Menschen vor dem Aufstieg zum Buddha. Der historische Buddha war in diesem Sinne in seinem uns bekannten Erdenleben ein Bodhisattva, der durch seine Erleuchtung zum Buddha wurde und sich nach seinem Tod folglich nicht mehr inkarnierte. Im buddhistischen Kontext meint der indische Ausdruck «Bodhisattva» ein nach Erleuchtung und Befreiung von irdischem Leiden strebendes menschliches Wesen. Auf den historischen Buddha folgt in der Tradition des Mahayana-Buddhismus, an die sich auch Rudolf Steiner angelehnt hat, der Maitreya-Bodhisattva, der sich vor seiner letzten Inkarnation laut Rudolf Steiner immer wieder auf Erden inkarnieren wird, um im Sinne des Christus wirksam zu sein. Dabei inkarniert sich aber ein solcher Bodhisattva im Verständnis Rudolf Steiners nur in seiner letzten Inkarnation vollständig in einem menschlichen Leib.
Als zweite Form gibt es im Hinblick auf den zum historischen Buddha gewordenen Bodhisattva aber die von Rudolf Steiner mitgeteilte Tatsache, dass sich der historische Bodhisattva nach seinem Aufstieg zum Buddha nicht in das Nirvana zurückgezogen hat, sondern in Form eines Geistleibes, des Nirmanakaya, weiterhin auf Erden wirksam war und ist. Die Wirksamkeit des «Nirmanakaya» des Buddha hat Rudolf Steiner vor allem in den Vorträgen über das Lukas-Evangelium ausführlich beschrieben, und zwar in einer deutlich über das Verständnis des «Nirmanakaya» im Buddhismus hinausreichenden Form.22
Diese Wirksamkeit entspricht insofern einem Bodhisattva, als dieser sich im Zusammenhang des Mahayana-Buddhismus, der erst nach dem Mysterium von Golgatha entstanden ist, durch ein Gelöbnis verpflichtet, sich nicht in das Nirvana zurückzuziehen, sondern auch nach seiner Erleuchtung auf Erden so lange weiterzuwirken, bis alle Wesen von irdischem Leiden befreit sein werden. Im Falle des historischen Buddha inkarnierte sich also diese Bodhisattva-Wesenheit nicht mehr in einem physischen Leib, sondern erscheint in Form eines «Nirmanakaya» wirksam.
Als dritte Form unterscheidet der Buddhismus die transzendenten oder kosmischen Bodhisattvas, die mit den zu ihnen gehörenden transzendenten oder kosmischen Buddhas zusammenwirken. Im Wesentlichen gibt es im Mahayana-Buddhismus acht solcher kosmisch wirksamen Bodhisattvas. Diese inkarnieren sich nicht als Mensch, können aber sehr wohl durch einen Menschen hindurch wirken. Von solcher Wirksamkeit hat auch Rudolf Steiner an verschiedenen Stellen gesprochen.23
Auch auf diese Form wollen wir in unserer Darstellung jedoch nicht näher eingehen. Eine der bekanntesten, kosmisch wirksamen Bodhisattva-Wesenheiten ist der zum kosmischen Amitaba-Buddha24 gehörige Bodhisattva Avalokiteshvara, der im japanischen Buddhismus Kannon und im chinesischen Buddhismus als weiblicher Bodhisattva Guanyin bekannt ist. Die künstlerische Darstellung Avalokiteshvaras zeigt eine Wesenheit mit zehn Köpfen, die übereinander und in alle Himmelsrichtungen angeordnet erscheinen. Dabei hat er hunderte von Armen und Händen, in denen sich Augen befinden. Avalokiteshvaras Haupteigenschaft ist die Fürsorge für alle in Not befindlichen Menschen. Im Mahayana-Buddhismus kann sich der Praktizierende daher immer an Avalokiteshvara, Guanyin oder Kannon wenden, wenn er sich in Not befindet.
Uns interessiert jedoch in diesem Buch hauptsächlich die vierte Form eines Bodhisattva, nämlich die ebenfalls aus dem Mahayana-Buddhismus stammende und eigentlich in diesem Kontext gebräuchlichste Form: der Bodhisattva als Erleuchtungswesen, der auf dem Wege zur Erleuchtung ein Gelöbnis ablegt, das sogenannte Bodhisattva-Gelöbnis, welches besagt, dass der nach Erleuchtung strebende Geistesschüler sich nicht zum eigenen Vorteil, das heißt um der möglichst schnellen eigenen Befreiung willen auf den Wege eines Bodhisattva begibt. Er will sich nur deshalb befreien, um auch allen anderen Wesen zur Befreiung und Erleuchtung verhelfen zu können. Deshalb geht es für ihn auch nicht um das möglichst schnelle Erreichen eines jenseitigen Nirvana. Das Ideal eines Bodhisattva besteht für ihn vor allem darin, sich so lange auf Erden wieder zu verkörpern, bis auch alle anderen Wesen befreit und erleuchtet worden sind. Diese im Zusammenhang mit dem Bodhisattva-Ideal stehende Form eines Bodhisattva ist im Mahayana-Buddhismus nicht auf eine einzelne auserwählte Persönlichkeit beschränkt. Sie ist vielmehr mit einem weiter unten näher beschriebenen allgemein zugänglichen Schulungsweg verknüpft. Auf diesen Schulungsweg werden wir in den nächsten beiden Kapiteln anhand zweier ausgewählter Quellentexte genauer eingehen.