Читать книгу Fremde Schicksale, fernes Land - Andreas O. Müller - Страница 10
ОглавлениеLagebesprechung
11.00 Uhr Ortszeit.
Im Büro des Lagers fragte ich nach einer Liste mit der Einteilung der Einsatzgruppen. Die einzige Person, die ich antraf, war eine jüngere Frau, die nur Suaheli sprach. Sie wußte offensichtlich gleich, was ich suchte und schob mich aus dem Raum vor die Tür. Da sah ich den etwas zerknitterten Zettel, aufgespießt auf einen Nagel an der mit Lehm bestrichenen Wand. Darauf stand, mit Schreibmaschinenschrift, die Einteilung der Gruppen, die morgen erstmals zum Einsatz kommen und dabei die vorangegangene Mannschaft ablösen sollten. Ich nickte der Frau zu und fuhr mit dem Finger über die Reihe der Namen. Meinen fand ich mit weiteren unter dem Standort „Kibumba Süd.“ Darunter las ich : „Elisabeth M., Susanne K., Siglinde F., Karin A., Nadine F.“, und ich lächelte im Gedanken daran, meine Truppe leibhaftig kennenzulernen. „Piotr J.“ und „John K.“- wer waren wohl diese Beiden? Nach einem Blick auf meine Uhr schob ich die Frage beiseite, wandte ich mich schnell ab und eilte zur Häuptlingsbesprechung im großen Wigwam.
Nach dem gedämpften Stimmengewirr aus dem Inneren konnte mit den einführenden Worten gerade erst begonnen worden sein. Die Stimme von Manuel war zu hören. Ich schlug die Plane am Eingang des Zeltes auf, trat ein und blieb einen Augenblick lang stehen, um mich an das schummerig-düstere Licht zu gewöhnen. „Elisabeth, Karin, Nadine, Siglinde, Susanne“, wiederholte ich währenddessen im Geist nochmals die alphabetische Reihenfolge meiner Mitstreiterinnen. Meine Augen hatten sich an das Halbdunkel gewöhnt und nahmen eine sich weit nach hinten erstreckende Tischplatte wahr, beidseits gab es Stühle, deren schmutzig gelb gebeizte Sitzflächen und Lehnen sich mit schwarzen, runden Metallrohren zu unbequemen Sitzgelegenheiten zusammengefunden hatten. Nur wenige davon waren unbesetzt. Ich wurde kaum wahrgenommen, nur Manuel, ganz in der Tiefe des Raumes, schien mir einen kurzen Blick zuzuwerfen, er lächelte leicht, ohne seine Ausführungen zu unterbrechen. Tatsächlich endete er gerade mit dem Dank an uns alle für die Bereitschaft, sich hier mit unseren verschiedenen Fähigkeiten einzusetzen, und ein vorübergehend beschwerliches Leben mit nicht unerheblichen Einbußen an Zivilisation auf uns zu nehmen.
„Da habe ich wohl nichts Wesentliches verpasst“, dachte ich und ließ meinen Blick möglichst unauffällig über die Anwesenden gleiten, soweit es die mangelnde Beleuchtung ermöglichte.
„Das ist Paul“, hörte ich unerwartet, „er ist Gehirnchirurg, also stellt Euch gut mit ihm.“ Manuel deutete auf mich und alle Augen wandten sich mir zu, aber niemand lachte. Eigentlich war ich froh darüber. Manuels Bemerkung war nicht besonders witzig, dachte ich. „Muss ich jetzt etwas sagen?“ fragte ich mich, aber mir fiel nur ein „hallo“ ein. Es schien zu genügen, denn die allgemeine Aufmerksamkeit galt umgehend wieder Manuel, der einen neben ihm sitzenden jüngeren Mann mit einer Geste aufforderte, uns organisatorische Instruktionen zum üblichen Tagesablauf, insbesondere auch für den folgenden Tag zu geben.
Es erwies sich, dass der zweite Sprecher offensichtlich genau im Blick hatte, worauf es ankam. Seine Ausführungen erfolgten klar, knapp und doch umfassend. Er hinterließ bei mir einen kompetenten Eindruck, und ich nahm mir vor, ihn im Auge zu behalten, sicher besaß er weiteres Wissen, das mir nützlich sein konnte.
Anderthalb Stunden später wurden wir aus der Sitzung entlassen. Jetzt bot sich mir die Gelegenheit, die anderen Anwesenden anzusprechen, mich vorzustellen und erste Kontakte zu knüpfen. Besonders neugierig war ich selbstverständlich auf die Truppe, deren Namen ich bereits im Gedächtnis gespeichert hatte, denn das Treffen bestätigte mich in der Vermutung, dass wir die Mannschaft waren, die morgen das Basislager Kibumba Süd übernehmen sollte.
Piotr, der polnische Kollege, war vorgesehen für die Rolle des leitenden Arztes in unserem Team. Grund dafür war seine Angabe „Allgemeinarzt“ bei der Anmeldung. Er war noch jung, allem Anschein nach, und machte nicht den Eindruck eines gestandenen Mannes, soweit sich das aus seinem unsicheren Auftreten ableiten ließ. “Mit seinen vierundzwanzig Jahren kann er noch nicht viel gesehen und erlebt haben“, schätzte ich und nahm mir vor, ihm bei den kommenden Aufgaben ein wenig zur Seite zu stehen. Sein Job würde es sein, Transport und Sicherheit für uns zu organisieren und für die Komplettierung der medizinischen Ausrüstung zu sorgen. „Wenn das mal gut geht“, dachte ich, denn ich hatte Bedenken.
Piotr machte keine Anstalten, seiner Position entsprechend die einzelnen Teilnehmer unserer Gruppe zusammen zu holen, ganz im Gegenteil, er stand etwas verloren vor dem Zelt, und ich ahnte, dass er weitaus mehr als nur ein wenig Unterstützung brauchen würde.
Ich ging deshalb auf ihn zu, langsam, um ihn nicht zu irritieren und versuchte, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Seine Augen flackerten ängstlich, fast ratlos schaute er mich an, aber es war deutlich zu spüren, wie erleichtert er war, daß jemand sich seiner annahm. Er gestand mir ungefragt, seine Anwesenheit hier in Goma sei der Tatsache zu verdanken, daß er in Deutschland nach der Ausbildung zum Allgemeinmediziner keinen Arbeitsplatz gefunden habe und deshalb dem Aufruf der Ärztekammer gefolgt sei. Mir kam rasch der Verdacht, daß er glaubte, hier eine Art Anstellung gefunden zu haben. Konnte es sein, daß er überhaupt nicht begriffen hatte, um was es hier ging? Seine Augen waren die eines großen, unschuldigen Kindes, dessen Leben noch von keinem Schatten berührt worden war.
Merkwürdige Fragen, deren Antwort er von mir zu erwarten schien, bestärkten mich in meiner Befürchtung. So wollte er wissen, dabei schien ihm wichtig, dass niemand sonst zuhörte, wer für ihn in seiner Funktion als Gruppenleiter Protokolle und Arztberichte schreiben würde, und wo das Sekretariat sei. Allen Ernstes, das waren seine drängendsten Fragen. Im ersten Augenblick blieb ich sprachlos und überlegte, ob ich mich völlig in ihm getäuscht haben könnte, ob er mich etwa an der Nase herumführen wolle. Aber nein, seine ganze Persönlichkeit war in Unordnung, es ließ sich nicht übersehen. Wie er so ratlos und zugleich vertrauensvoll vor mir stand, der junge Piotr, überkam mich großes Mitleid, aber ich widerstand dem ersten Impuls, ihn tröstend in den Arm zu nehmen und beließ es dabei, ihm freundschaftlich meine Hand auf die Schulter zu legen. Etwas lahm bemerkte ich: „Du schaffst das schon, wir sind doch alle ein Team!“ Sein Augenausdruck verriet, daß er mir nicht glaubte, ja, dass er meine Zweifel deutlich bemerkt hatte. Aber mehr konnte ich ihm in diesem Augenblick nicht helfen. Es war der Umsicht Manuels zu danken, der ihn in seiner Unsicherheit auffing und für verschiedene logistische Aufgaben vorsah. Dies erfuhr ich allerdings erst am Folgetage.
Wenigstens gelang es mir noch, vier unserer Frauen heranzuholen, einige Worte mit ihnen zu tauschen und uns alle einander näher zu bringen.
„Was ist mit John?“ ,fragte ich mich währenddessen. Elisabeth, die schon an einigen früheren Einsätzen teilgenommen hatte, wußte es:
“John ist unser Fahrer, er ist noch in Kibumba Süd und bringt heute Abend seine Gruppe zurück. Wir lernen ihn erst morgen früh kennen.“
„Und Susanne? Wo ist die?“
„Sie ist nicht mitgekommen. Sie hat eine der Impfungen nicht vertragen.“
„Fast eine diplomatische Glanzleistung“ nannte ich selbstzufrieden meine erfolgreiche Bemühung, uns alle zu einem gemeinsamen, verspäteten Mittagessen im „Biergarten“ zusammen zu bringen. Die allgemeine Zustimmung erleichterte mich, und wir gingen auseinander, um die morgens bereits zugeteilten Essenrationen aus unseren Zelten herbeizuholen.
Der Nachmittag blieb frei von Terminen und erwies sich als eine gute und notwendige Gelegenheit, sich zu akklimatisieren, körperlich und seelisch. Es ging allerdings nicht darum, einen Jetlag zu überwinden. Trotz des sechstausendfünfhundert Kilometer langen Anfluges hatten wir uns um nicht einmal zwanzig Längengrade nach Osten bewegt, da die Flugroute weitgehend in südlicher Richtung verlief. Eine relevante Zeitzonenverschiebung gab es also nicht.
Ich nutzte die noch verbleibende Ruhe vor der Konfrontation mit dem Flüchtlingsansturm, um einen Brief an meine Frau zu beginnen. Ich wußte nicht, ob ich ihn würde beenden, ob ich ihn würde abschicken können, ob er überhaupt eine Chance hatte, Deutschland zu erreichen. Aber das Suchen nach Worten, die meine ersten Eindrücke beschreiben sollten, beruhigte mich. Es gab mir inneren Halt, an mein Zuhause zu denken, an die liebenswerte Normalität des so weit entfernten Lebens, aus dem ich mich ausgekoppelt hatte, ohne mich recht zu erinnern, wie das geschehen konnte.
Fast unmerklich schlichen die Nachmittagsstunden angenehm träge dahin, und der Tag endete ereignislos, so als sei er einer von vielen schon vergangenen, immer gleichen Tagen, unwirklich, außerhalb unserer Zeit.
Ohne es zu bemerken, verpasste ich die Rückkehr der Wagenkolonne, die am späten Nachmittag im Camp eingetroffen war, Fahrzeuge und Mannschaften gleich staubig und abgearbeitet. Ich verpasste es auch, die Menschen zu begrüßen, die wir am Folgetage ablösen würden, verpasste die Informationen, die sie von ihren einzelnen Stützpunkten draußen im Gelände mitgebracht hatten, und war auch nicht dabei, als über die Erfahrungen und Erlebnisse der letzten Wochen gesprochen wurde. Es war nicht richtig von mir, dem fernzubleiben. Aber ich war zu sehr versunken in eine merkwürdige Mischung aus sentimentalen Gefühlen, undurchdachten Erwartungen und narzisstischen Vorstellungen von meiner Bedeutung in diesem mir so fremden Land.
Zwei Läufer kommen vorbei. Die junge Frau und ihr Begleiter sprechen miteinander, ohne ihr Lauftempo zu verringern. Sie wirft einen Blick auf ihr Handgelenk: “fünf Minuten fünfunddreißig Sekunden!“ Ihre Stimme klingt zufrieden, sie ist ganz ruhig, ohne Zittern. Beide tragen schwarze, eng anliegende Hosen, die bis zu den weißen Laufschuhen reichen. Die T-Shirts haben kurze Ärmel. Der Pferdeschwanz der Frau wippt im Takt zu ihren Bewegungen, die elastisch wie die eines Tieres sind. Der Mann hat einen harten, mechanischen Laufstil. Das Paar läuft mit regelmäßigen, harmonischen Schritten, aber nicht im Gleichschritt, wie es Paul bei den meisten vorbeikommenden Joggern beobachtet hat. Kann man daraus etwas ablesen? Ist es lediglich ein Hinweis auf die Eigenständigkeit der Personen oder ein Zeichen von Distanz, Ablehnung, Fremdheit, wenn man nicht im gleichen Tritt mit seinem Partner ist? Im übertragenen Sinne verstanden ist es sicher kein Zeichen besonderer Nähe. Mehr lässt sich daraus aber nicht ableiten.