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27. MAI 1932

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Annemarie saß zu Hause auf der alten Eckbank, hinten im spärlich eingerichteten Raum, wo auch ihr Bett stand. Sie nahm das Zwirnende in den Mund, hob das Nadelende gegen das Licht, fädelte den Zwirn durch die Öse und verknotete die beiden Enden. Sie hatte eben den zweiten Pfeil fertig gestickt und machte sich daran, den dritten, den obersten, auf das rote Tuch zu bringen. Sie mochte die Stickerei nicht besonders, aber den Vater freute es, wenn sie handarbeitend zu Hause saß, und der Gruppenleiter hatte ihr aufgetragen, ein Tüchlein mit drei Pfeilen, die einen Kreis durchkreuzen, zu machen. Die Partei hatte sich nämlich ein neues Zeichen ausgedacht, das ihren Kampf gegen die Hakenkreuzler symbolisieren sollte. Und deswegen ging an alle Frauen und Mädchen der Gruppe die Anweisung, eines zu sticken. Eine jede hatte ein rotes Tuch oder eine Fahne und eine Vorlage bekommen.

Die Mutter war beim Stricken. Zumindest war sie es gewesen, denn Hände, Stricknadeln und das Wollknäuel lagen bereits seit geraumer Zeit ruhend in ihrem Schoß. Sie saß in ihrem Stuhl, den Kopf nach hinten geneigt, den Mund offen. Sie war eingeschlafen. Der Vater war im Gasthaus bei seiner Kartenrunde, die beiden jüngeren Geschwister irgendwo unterwegs, im Wald wahrscheinlich. Gleich nach dem Abendbrot waren sie aufgestanden und rausgelaufen. Die Mutter konnte ihnen nur noch nachschreien, dass sie nicht zu spät nach Hause kommen sollen. Fast jeden Abend war es das Gleiche. Aber es waren ja noch Kinder.

Thusnelda hatte Annemarie am Vortag von einer Hakenkreuzler-Veranstaltung hier im Ort erzählt, und dass sie da unbedingt hinschauen mussten. »Es ist unsere Pflicht«, hatte sie gesagt. Aber Annemarie war gar nicht begeistert gewesen. Sie hatte geantwortet, dass sie noch die Stickerei fertig machen müsse, für den Ausflug in der kommenden Woche. Dann wollte sie mit den anderen Frauen die neuen Tücher und Fahnen der Gruppe präsentieren.

Natürlich war das eine Ausrede gewesen. Das hatte Thusnelda gleich erkannt: »Sticken kannst du später auch noch. Wenn Zeit dazu ist. Jetzt gibt es wichtigere Dinge zu tun.« Dann hatte sie gelacht. Thusnelda war aus Wien und schon über dreißig. Von ihrem ersten Ehemann war sie abgehauen, weil er grob zu ihr gewesen war. In den Zwanzigern ist sie dann wegen einem anderen Mann nach Innsbruck gezogen, der hier seinen Militärdienst ableisten musste. Bald darauf hatte sie mit ihm einen Sohn bekommen.

Thusnelda sagte manchmal wirklich verrückte Sachen. Gestern zum Beispiel, dass doch der Vater für sie sticken soll, der würde ansonsten ohnehin nur Karten spielen. Dabei schaute sie so ernst drein, dass Annemarie keine Ahnung hatte, ob sie nun lachen soll oder nicht. Der Vater und Sticken. Sie war sich gar nicht sicher, ob Männer das überhaupt können. Mit diesen Händen.

Einmal waren sie am Waldrand spazieren und weiter zum Planötzenhof rauf, da erzählte Thusnelda ihr von der Sowjetunion, von der Befreiung der werktätigen Frauen, die neben den Männern in den Fabriken stehen und das Land aufbauen. Und dann meinte sie, dass die sexuelle Emanzipation der Frau der Grundstein des Sozialismus sei. Annemarie wurde zunächst ein bisschen schwindelig, aber es gefiel ihr. Vor allem das mit der sexuellen Emanzipation.

Was diese Versammlung der Hakenkreuzler anbelangte, war Thusnelda stur geblieben: »Wir müssen uns diesen Kerlen stellen. Bevor sie noch die ganzen Leute verseuchen.« Annemarie blieb keine Ausrede mehr übrig: »Ich hol dich gegen halb acht ab«, sagte sie. Jetzt war es schon knapp vor halb acht.

Plötzlich hörte Annemarie ein dumpfes Poltern weit unten aus der Gasse langsam heraufziehen. Eine Amsel am Fenster zwitscherte aufgeregt. Annemarie legte ihr Tuch auf die Seite, um besser lauschen zu können. Es waren Schritte. Marschschritte. Die müssen von Innsbruck heraufkommen, dachte sie sich und ging Richtung Fenster, um nachzuschauen. Der Vogel flatterte davon und setzte sich auf die Mauer der gegenüberliegenden Gassenseite, blieb dort aber nicht lange allein, weitere gesellten sich hinzu, und gemeinsam, so schien es Annemarie, empörten sie sich über den ungebührlichen Lärm. Sie schmunzelte. Das rhythmische Auftreten war immer deutlicher zu hören. Marschierende Stiefel, wie bei den Hahnenschwänzlern oder den Schützen, dachte sie. Dieser ewige dumpfe Gleichschritt. Viele Männer hatten große Freude daran, an dem gemeinsamen Herumgehen im Gleichschritt. Vor allem im Stadtzentrum von Innsbruck machten sie das gerne. Paraden. In der Maria-Theresien-Straße, wo man sie gut sehen konnte, in ihren Uniformen und mit ihren Abzeichen. Aber auch hier in Hötting. Der Obsthändler Penz mit seiner Gausturmkompanie. In der ganzen Ortschaft war er gefürchtet. Wenn der mit seinen Männer herumzog, dann gab es nichts zu lachen. Der war schlimmer, als die Nazis es bis jetzt waren, richtige Rotehasser. Annemarie hatte sie ebenfalls bereits kennengelernt.

»Der Krieg hat noch nicht aufgehört. Er ist noch da. Er wird auch nicht aufhören, solange es arm und reich gibt.« Das hat Thusnelda einmal zu ihr gesagt, als sie diese Truppe bei einem Aufmarsch erblickten, und halblaut sagte sie dann ins Leere: »Und es liegt am Proletariat, diesen Krieg zu gewinnen und zu beenden.«

»Was machst du denn am Fenster, Annemarie?«, rief die Mutter, eben aufgewacht und nach Orientierung ringend.

»Nichts, Mama. Ich schau nur. Nach den Amseln. Die haben so aufgeregt gezwitschert.«

»Lass doch die Vögel. Mach lieber die Küche zusammen.«

»Ich muss doch das Deckerl … und dann kommt ja Thusnelda. Wir gehen auf die Versammlung.«

»So spät noch? Morgen musst du ja früh aufstehen, arbeiten. Oder wäscht morgen der Chef für dich die Wäsche?«

»Nein, aber morgen ist nicht so viel los, weißt.«

Als Annemarie wieder bei ihrem Tuch saß und den dritten Pfeil stickte, schlief die Mutter erneut ein. Dabei war auch ihre Tochter schon müde. Beim Abendbrot-Zubereiten beklagte sie sich, dass sie einmal mehr den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war. In der Früh musste sie beim Vater in der Werkstatt aushelfen, dann war sie bei den Herrschaften, die unten am Inn das große Hotel hatten, in der Küche, denn die brauchten zu Mittag immer eine Aushilfskraft, und am Nachmittag war sie beim Bauern oben beim Käsen. Seit ihrer Kindheit machte sie das schon. Sogar ihre Mutter hatte bereits in der kleinen Käserei gearbeitet, erzählte sie immer wieder voller Stolz. Das war eine Familientradition. Zumindest bei den Mädchen und Frauen.

Draußen kamen die Stiefelschritte immer näher. Die müssen jetzt schon mitten in der Höttinger Gasse sein, dachte sie, während sie den schwarzen Faden hochzog. Dass in der Vorlage die drei Pfeile nach links unten zeigten, störte sie, darum hatte sie sie nach rechts oben zielen lassen. Es musste ja was weitergehen, nicht immer nur zurück. Und der Name »Eiserne Front« gefiel ihr auch nicht so gut. Im Scherz hatte ihr Vater einmal gesagt, dass sein Körper magnetisch sein müsse. Denn damals an der Front hatte er das Eisen angezogen wie kein anderer, und dann zeigte er auf die Stellen, wo sie ihm die ganzen Splitter, die Kugeln und das Schrot herausgezogen hatten. »Ein Wunder, dass ich noch am Leben bin. Dieses Stahlbad der Völker, von dem sie alle reden, macht nur die gesund, die nicht reinsteigen müssen. Die Oberen. Die unten macht’s nur hin.« Ansonsten erzählte er vom Krieg nicht viel. »Hauptsache keinen Krieg«, murmelte er manchmal beim Zeitunglesen oder wenn ihm Annemarie von den wiederkehrenden Aufmärschen in der Stadt berichtete.

Jetzt waren die Schritte da. In kräftigem Gleichschritt zogen sie unter dem Fenster vorbei, laut und wuchtig. Im Geschirrschrank klapperten das Geschirr und die Tassen im Marschrhythmus, die Spitze eines Fahnenbanners tauchte im Fenster auf und wanderte weiter, die Gasse dröhnte, als stiefelte eine ganze Armee nach Hötting hinauf. Die Mutter schnarchte, Gläser tänzelten klirrend auf der Kredenz, die Spitze einer weiteren roten Fahne zog vorbei, gleich darauf eine dritte. Die Mutter schmatzte kurz auf, draußen forderte eine keuchende Stimme im angestrengten Befehlston ein Lied, und, als würde die Mutter darauf antworten, murmelte sie im Schlaf: »Ist’s schon so weit?« Dazwischen donnerte das gleichzeitige Auftreten durch das ganze Mauerwerk, die Tassen schepperten immer lauter, und nun stimmte voller Inbrunst ein Haufen Männerstimmen an: »Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen …« Die Mutter schreckte kurz hoch, furzte, entschuldigte sich halblaut-verschlafen, griff wortlos zum Wollknäuel und begann zu stricken. Die Marschiergeräusche, der Chorgesang, der ganze Spuk entfernten sich langsam, auch das Geschirr beruhigte sich. Am Fensterbrett saß bald wieder eine Amsel, gleich darauf gesellte sich eine zweite hinzu, und sie begannen zu zwitschern. Das müssen sie gewesen sein, dachte Annemarie. Die Hakenkreuzler. Die unsrigen marschieren anders, singen anders, und dieses Lied, das war doch das Kampflied der SA. In diesem Moment ging die Tür auf und Thusnelda kam herein. Sie war ganz außer Atem.

»Annemarie, sie rücken schon an. Komm! Schnell, wir müssen gleich hin. Wir müssen die Abkürzung … beeil dich.« Dann nahm Thusnelda Annemaries Mutter wahr, wie diese sie aufgeschreckt ansah.

»Grüß Gott und einen guten Abend. Ich hab sie gar nicht gleich gesehen.«

»Na, weil ihr Jungen immer so hetzen müsst. Da habt ihr gar keine Zeit mehr für eure Augen.«

»Drüben beim Bären ist eine Versammlung, und die möchten wir uns gerne anschauen. Die Hitleristen reden dort.«

»Die Gottverfluchten? Die werden noch so lange schreien, bis sie ihren nächsten Krieg haben. Werdets schon sehen. Die werden noch unser Unheil sein.«

»Die stellen wir schon noch ab. Das dauert nicht mehr lange. Komm, Annemarie, wir müssen los!«

Die beiden machten sich auf den Weg, rannten über das Stamser Feld durch die Wiesen, die steile Kirschentalgasse hoch und schafften es knapp vor den anmarschierenden Nationalsozialisten zum Gasthaus. Durch die herumstehende Menge schlüpften sie in den Vortragssaal. Der Saal war bereits gut gefüllt, viele Arbeiter mit grimmigen Blick. Dazu ein, zwei Bauern und ein paar Beamte. Die Stimmung war angespannt.


Johann ging in einer Gruppe von Frauen und Männern, die alles unternahm, um äußerst entschlossen zu wirken, die Höttinger Gasse hinauf. Er ballte seine Hand in der Hosentasche zur Faust, andere Fäuste wurden sogar gegen den Himmel gestreckt, manche hatten Haselnussstöcke, die sie teils drohend, teils lässig mit sich führten. Es war fast zu sehen, wie der Mut von einer Person auf die andere übersprang, hin und her hüpfte, voller Übermut, bis die Gruppe von fünf Männern und acht Frauen von vorn nach hinten und wieder zurück zu albern, zu spotten und zu johlen begann. Hinten kicherten schelmisch ein paar Männer, vorne lachten Frauen lauthals und klopften sich dabei auf die Schultern.

Unten in der Innstraße sangen sie zeitweise und schrien ihre Parolen: »Diesen Hakenkreuzlern werden wir es zeigen«, skandierte eine vorne, und von hinten kam: »Diese germanischen Schweinehunde!«

»Arbeitermörder sind’s, und Südtirolverräter.«

Die Gruppe kam vom Gasthaus Ritter, dort hatte es zuvor eine Parteiveranstaltung gegeben, zu der der Kuprian gerufen hatte. Johann mochte ihn, weil er ein intelligenter Mann war und gut reden konnte. Letztes Jahr war ganz überraschend der Schutzbundführer Wagner verstorben. Alle, natürlich auch Johann, waren verzweifelt gewesen, denn die Zeiten waren schwierig. So diskutierten und analysierten sie es zumindest im Heimlokal. Die Heimwehr und die anderen Faschisten waren bis an die Zähne bewaffnet und konnten sich vollkommen frei und ungestört bewegen, wurden von den Christlichsozialen sogar unterstützt. Auch die Nazis wurden immer gefährlicher, und in genau diesem Moment starb der Wagner. Es hatte aber zum Glück nicht lange gedauert, und der Gustl, also der Kuprian, wurde zum neuen Führer des Republikanischen Schutzbundes ernannt.

So eine Veranstaltung und Herumrederei muss man aber mögen. Ein Haufen Schutzbündler stand recht unmotiviert herum, einige plauderten, andere hörten zu. Die Stimmung war zwar etwas angespannt, aber grundsätzlich gut. Dass die SA gestern Abend Schmählieder singend durch die Ortschaft gezogen war, sorgte immer wieder für Unmut. Johann stand in einem Kreis, in dem gerade darüber geredet wurde. Alle waren empört. Er selbst hatte die SAler am Vortag auch gehört, weil sie direkt an seinem Fenster vorbeimarschiert waren. Aber das erwähnte er nicht, sondern tat so, als sei es auch für ihn eine Neuigkeit. Er schlug mit seiner Faust in die Hand, dass es klatschte, und rief: »Denen wird das Singen schon noch vergehen!«

Dann sagte Jakob zu Johann, dass sie jetzt losgehen würden, zu viel von diesem Gequatsche sei nicht gut für die Ohren, und man könne das ja morgen sowieso in der »Volkszeitung« nachlesen. Er sagte zu ihm, dass sie nun raufgehen wollten zum Bären und deutete auf die Gruppe, die bereits beim Ausgang zusammenstand.

»Ausgerechnet im Gasthof Goldener Bär, in unserem Gasthaus, hier bei uns in Hötting will diese Germanenbande sich versammeln? Das werden wir zu verhindern wissen!« So hatte Johann am Vorabend im Bären zu den Genossen gesprochen. In den Tagen zuvor war viel über diese Veranstaltung der Hitleristen geredet worden. Geschichten machten die Runde, denn in den letzten Monaten war es immer wieder zu Angriffen der SA gekommen. Ein paar von den Jungen mussten einiges einstecken. Johann klopfte auf den Tisch, und beim Gestikulieren schwappte ihm, weil er schließlich ganz aufgeregt wurde, ein großer Schluck Bier aus dem Krug – mitten auf die Hose vorne beim Schritt. Das sah natürlich etwas unvorteilhaft aus, aber war auch kein Malheur. Der bärtige Marinus nahm den Redeschwung gleich auf, auch wenn er nicht mehr ganz nüchtern war, aber seine Ausflüge ins Philosophische waren allseits beliebt, und er konnte auch betrunken noch Schlauheiten von sich geben, während andere nur noch lallten. Über Marinus wusste ansonsten jeder etwas zu berichten in Hötting. Es hieß, er würde lesen wie andere Karten spielten. Jeden Abend. Er habe schon über hundert Romane gelesen und auch Bücher und Broschüren, die von der Partei herausgebracht worden waren. Schriften von Friedrich Nietzsche, Max Adler, Otto Bauer, sogar Marx und Engels habe er gelesen und dann noch einen gewissen Spinoza und Bücher von der Frau Woolf. Als Johann noch ein Junge gewesen war, hatte ihm Marinus öfter ein Buch von Alfons Petzold geliehen, das er dann heimlich nachts las.

Jetzt zitierte Marinus den Adler, wobei er diesen fast bei jeder passenden Gelegenheit ins Spiel brachte, und zwar mit einer geradezu theatralischen Hingabe. Er hatte ein Gespür dafür, welche Wörter eine Situation am besten zum Ausdruck bringen konnten, sodass alle am Tisch ausriefen: »Genau, Marinus!«, »Sapperlot, ja, so ist es!« oder gar: »Besser hätt ich es nicht ausdrücken mögen!« Seine Beobachtungsgabe und Treffsicherheit versetzten Johann und die anderen immer wieder in Erstaunen. Am gestrigen Abend war es genauso gewesen, als Marinus anhob, über das Flugblatt der Hakenkreuzler zu philosophieren: »Man erkennt die Faschistensprache an dem ›statt‹«, sagte er, legte den Zettel in die Tischmitte und zeigte mit dem Finger auf das Wort, das zwischen »Gebt Arbeit« und »Almosen!« stand. »Das ›statt‹ ist die Zuckerspur der Verführer. Doch wir wollen nicht nur Arbeit, wir wollen Sozialismus. Denn die Dialektik beginnt dort, wo das ›statt‹ aufhört. Was die wollen, ist, dass wir in den Fabriken oder Buden verrecken. Denn in Wirklichkeit paktieren sie nicht nur mit den ganzen Industriellen, wie wir das gerade in Deutschland sehen, sondern scheren sich einen Pfifferling um uns Arbeiter.«

»Und hier, schaut, was soll denn das heißen – ›Juden bleiben zu Hause‹«, setzte sich Johann in Szene. »Das soll heißen, dass die Arischen am End’ die Narrischen sind. Dieser Hitler hat nämlich ganz schlechte Nerven. Er glaubt, dass überall die Juden lauern, und es zwickt ihn auch schon überall. Darum schreit und zuckt er auch ständig herum.« Das war die Adelheit. Wenn die sich das Wort nahm, war immer eine Gaudi. »Der leidet nämlich unter einem Judenverfolgungswahn.« Sie hatte die seltene Gabe, jede Geschichte in einem Gelächter enden zu lassen, wobei sie selbst meist am lautesten lachte und die Schlusspointe noch mit einer aufschlagenden Faust unterlegte. Den Männern gefiel das.

An diesem Abend vereinbarten sie, dass sie etwas unternehmen mussten und dass sie sich den Vortrag dieses Hakenkreuzlers Theo Stadler einmal genauer anhören würden.

Ähnliche Gespräche wurden auch im Gasthaus Ritter geführt. Jakob, der schon die ganze Zeit zum Aufbruch drängte, meinte: »Man darf den Hakenkreuzlern nicht die Chance bieten, sich ungestört auszubreiten. Sind sie auch keine wirkliche Gefahr für uns, denn so dumm sind die Arbeiter und die Arbeiterinnen nicht, dass sie auf Hitler reinfallen. Aber die Beamten, die Studenten und die ganzen Geschäftstreiber … Na, ihr werdet sehen, auch in Deutschland werden sie das bald begreifen und dem eine Ende bereiten. Ich bin jedenfalls dafür. Gehen wir hinauf und machen Schluss mit den germanischen Spinnereien!«

Dann gingen sie vom Gasthaus Ritter los.

In der steilen Höttinger Gasse wurde es in der Gruppe ruhiger. Einige hörte man bereits keuchen, und die Schritte schepperten in der Gasse. Johann war zunächst an den Spitze des Zuges, fiel aber im Verlauf des Aufstiegs immer weiter zurück. Es lag nicht an der Anstrengung. Mit jedem Schritt näher zum Gasthaus sank sein Mut, denn jetzt, wo sie nicht mehr sangen oder herumalberten, kamen Gedanken auf, die ihn an ihrem Vorhaben zweifeln ließen. Die Hakenkreuzler waren landesweit als Schläger bekannt, ein paar ihrer Fäuste hatte er bereits persönlich kennengelernt, und bei der Polizei waren sie, die Sozialisten, sowieso schon unten durch. Die würde ihnen wohl kaum helfen, sondern in ihrer rustikalen Manier zeigen, auf welcher Seite sie stand. Ein geschlagener Hund läuft seinem Peiniger nicht schwanzwedelnd entgegen, dachte er sich. Besser sich etwas zurückfallen lassen und, wenn es brenzlig wird, laufen. Aus ihm sprach weniger die Feigheit oder die Vernunft, sondern seine Erfahrung aus der gebeutelten Wirklichkeit. Wie oft hatte er schon Schläge abfangen müssen, weil er unbedingt in der ersten Reihe stehen musste oder seinen Mund nicht halten konnte. Dieses Mal wollte er keine Prügel abbekommen, und solange er es sich aussuchen konnte, würde er weglaufen, denn hier kannte er sich aus. Hier war er zu Hause, es war sein Revier. In Hötting, oberhalb des nördlichen Innufers, keine halbe Stunde von der Innsbrucker Altstadt entfernt, war er aufgewachsen und lebte dort mit seinen Geschwistern und der Mutter. Seit vier Jahren arbeitete er in einer Möbeltischlerei, unten in der Kirschentalgasse, und er war zufrieden damit. Achtzehn Jahre war er alt, kräftig und geschickt, und seine Welt war das Inntal und das Karwendel. Jede Gasse, jedes Haus und jeden Hof, die Wiesen und natürlich auch die Wirtshäuser kannte er. Warum sich schlagen lassen und nicht einfach laufen?

Sie waren nun schon fast oben an der Kreuzung zur Schneeburggasse. Links bei dem großen Bürgerhaus standen ein paar Gestalten, ihre Schiebermützen hatten sie ins Gesicht gezogen. Sie wirkten eindrucksvoll konspirativ. Die Gruppe schien sie kaum zu beachten, gleichwohl fühlte sich Johann bei jeder Bewegung bis auf die Knochen beobachtet. Dann ein kurzes Servus. Man kannte einander schließlich. Diese Rätekommunisten sind ein sonderbares Völkchen, immer abseits, dachte er, als er grüßend mit seinem Finger ans Schild der Ballonmütze strich. Sind gegen Sozialdemokraten, gegen Bolschewiken, und trotzdem wollen sie Sozialismus. Die große Welt im Kleinen, das war Hötting und Innsbruck. Zwar seien die Klerikalen und Deutschnationalen überproportional vertreten, aber auch die könnten die weltgeschichtliche Bewegung nicht aufhalten, hatte Jakob einmal in einem Vortrag gut erklärt. Dass nämlich die Geschichte immer von einem Extrem ins andere umschlage und dass jetzt die Zeit der Arbeiter und Arbeiterinnen gekommen sei. Das Bürgertum sei der Extremismus des Kapitals, die Kleinbürger die Extremisten des Faschismus und die Arbeiter und Arbeiterinnen würden mit dem Sozialismus dem Ganzen ein Ende setzen. Punkt. Und diese Zeit gelte es nun vorzubereiten, sagte er.

Johann hatte damals einfach nur eine Lehrstelle finden wollen, und schließlich hatte er sie auch gefunden. Später wollte er mehr Lohn, weil er sich ein Fahrrad kaufen wollte. Dass er dabei irgendwie auch die ganze Geschichte mitveränderte, daran zu denken, das war ihm anfangs zu viel.

Doch dann hatte er den Otto Bauer reden gehört, unten in Innsbruck. Der erklärte alles so schön, dass Johann ganz stolz darauf wurde, ein Arbeiter zu sein. Seither hatte es für ihn auch etwas Erhabenes, ein Sozialdemokrat zu sein und sich nicht nur um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Er verstand, dass, wenn er mehr Geld bekommen würde, es schließlich für die ganze Menschheit besser war.


Kaum waren die Nazis in Formation mit Faschistengruß und Heil-Hitler-Geschrei in den Saal marschiert, kam es auch schon zu lautstarken Auseinandersetzungen und Beschimpfungen.

Hier ein »Ihr arischen Sauschädel!«, dort ein »Deutschland erwache!«, und so folgte Ruf um Ruf um Ruf – »Hinaus mit den Faschisten!«, »Ein Volk, ein Reich!«, »Wir werden euch eure Misthemden schon ausziehen!«, bis schließlich gar kein Wort mehr zu verstehen war, sondern nur noch Geschrei.

Thusnelda zupfte Annemarie am Ärmel und rief ihr ins Ohr: »Pass auf, da wird’s bald losgehen. Da wird nicht mehr viel geredet.«

Annemarie drehte sich launig in alle Richtungen, überall sah sie zornige Gesichter, aufgerissene, schreiende Münder, Frauen, die ihre Fäuste hoben, Männer, die wild gestikulierten, und von allen Seiten wurde bereits geschubst und gedrängt. Die ganze Menge wogte hin und her, schlug wie eine Welle in einer felsigen Brandung auf und wie ein Kreuzer drängte sich die SA durch die Menge und schob sich immer tiefer in den Raum.

»Nein, schaut nicht so aus, als würde da noch ein Vortrag kommen.«

Die wenigen Polizisten im Raum gestikulierten heillos überfordert und versuchten, der Gruppe Hakenkreuzler den Weg zur Bühne zu bahnen. Plötzlich flog eine Flasche, später hieß es, sie kam aus den Reihen der Faschisten. Annemarie sah sie erst, als sie bereits flog. Weil sie sich so schön in der Luft drehte, konnte sie gar nicht anders als hinzuschauen. Es war ihr, als würde sich die Zeit in dem Moment etwas Zeit nehmen, es ein bisschen gemächlicher angehen. Wie sie die Flasche durch den Raum fliegen ließ, als würde die Zeit abwarten, was passierte. Das kleine gläserne Flugzeug steuerte in weitem Bogen genau auf einen Arbeiterkopf zu, der selbst noch ganz mit Schreien beschäftigt war, nichts davon ahnte, was in diesem langen Moment auf ihn zugeflogen kam. Ganz im Zorn war er, und den drückte er in voller Leidenschaft aus, die Halsadern gespannt – das Blut im Kopf erzeugte eine deutliche Rötung in seinem Gesicht, bis die Flasche plötzlich aufschlug, mitten auf den Arbeiterkopf, von dort abprallte, wie ein Flugzeug mit Maschinenschaden weiterflatterte, eine Schulter traf, zurücktaumelte und im Sturzflug schließlich am Boden zerschellte. Nun ging der Radau richtig los. Von allen Seiten flogen Flaschen, Gläser und Fäuste hin und her, dort sauste ein Stuhlbein knapp neben Annemaries Kopf vorbei, krachte auf einen Rücken, der zu Boden ging. Ein Ellbogen stieß in ein Gesicht und verschob eine Nase, vorne touchierten zwei Schädel im Taumel, Schmerzensschreie, Blutspritzer versprengten sich in der Luft, eine Faust flog zwischen abwehrende Hände und landete punktgenau im Gesicht, ein Kopf wankte, Haut platzte auf, irgendwo wurde kräftig ausgespuckt, Blut mit Zähnen, dort focht ein SA-Mann mit spitzen Gesten und seinem Totschläger gegen den Hilfsschmied, der in seiner groben Hand ein Stöckchen hielt und ihn mit hochrotem Kopf anbrüllte.

»Thusnelda, pass auf!«

Doch Annemaries Zuruf kam zu spät. Ein abgebrochener Flaschenhals streifte Thusneldas Stirn, anschließend prasselten Schläge wie ein Platzregen auf ihren Rücken nieder. Thusnelda versuchte gekrümmt seitlich wegzutauchen. Annemarie schrie nach ihr und drückte sich durch das Menschenknäuel, schob irgendwelche Leiber auf die Seite und kämpfte sich immer weiter zu ihr durch, bis ein uniformierter SAler sie von der Seite anrempelte, sie belustigt an den Haaren zog und als rotes Raufweib beschimpfte, was in Annemarie einen unvermittelten Reflex auslöste, der sie selbst überraschte. So schnell und zielsicher, wie ihr Bein diese Angelegenheit trittsicher erledigte, war das für alle Anwesenden beeindruckend, vor allem für den SAler, der sichtlich überrascht seine Augen verdrehte und in die Bodenregion abtauchte. In diesem Moment konnte Annemarie ihre taumelnde Freundin ergreifen und sie auf die Seite ziehen, wo schon andere verletzte Personen lagen, die stöhnten und fluchten und notdürftig behandelt wurden.

Kaum saßen sie am Saalrand, öffnete Thusnelda ihre Hand und zeigte sie Annemarie. Ein NS-Parteiabzeichen glänzte darin.

»Für die Fische im Inn«, sagte sie grinsend.

»Siehst du den Typen dort drüben, den Miniatur-Adolf mit dem Zahnbürstlbart und dem schütteren Haar? Nein, der weiter rechts, der so x-haxert dasteht und sich die Hände vor den Schoß hält. Einen schönen Gruß aus Hötting hab ich ihm gesagt. Rate mal, wohin ich dem getreten habe, diesem Schwein?«

Beide lachten laut auf, und Annemarie wischte Thusnelda mit einem Taschentuch das Blut von der Stirn. Es half jedoch nur wenig, die Wunde blutete zu stark. Überall hatte sie bereits rote Schmieren im Gesicht.

»Du musst es gegen die Stirn drücken – fest –, bis es aufhört. Komm, gib mir die Hand. Hier musst du draufdrücken. Ich hol einen Arzt, das muss genäht werden.«

»Wart noch, lass mich ein bisschen hier sitzen. Hier bewegt sich alles so schnell. Ich möchte noch ein bisschen ausruhen.«

So saßen sie nun mit dem Rücken zur Wand. Annemarie hatte ihren Arm um Thusneldas Schulter gelegt, fuhr ihr streichelnd durchs Haar und kraulte ihren Hinterkopf, als wollte sie sie trösten. Aber hier gab es nichts Trauriges. Annemarie war, als säßen sie gemeinsam in den hinteren Reihen eines Theaters und vorne auf der Bühne kämpfte der Wahnsinn zum Gaudium des Publikums, das alte Stück »Wie es euch gefällt!«.

»Glaubst du, es wird einen Sieger geben?«

»In der Politik gibt es immer einen Sieger.«

»Und was, wenn man nicht mitspielen möchte? Wenn man sich einfach raushält?«

Thusnelda lächelte: »Das kann man leider nicht selbst bestimmen. Das kommt auf den Sieger an. Der bestimmt das Spiel und die Regeln.«

»Glaubst du, dass wir gewinnen werden?«

»Ich weiß es nicht. Hinter dem Brenner der Faschismus und hinter Scharnitz die Nazis, die immer stärker werden. Die Kommunisten und Sozialdemokraten bekämpfen sich überall bis aufs Blut und die Bourgeoisie und die ganzen Kleinbürger scharen sich jubelnd um Hitler. Und hier in Tirol die Hahnenschwanzler und die Kirche. Da gibt es wenig Land zum Leben.«

»Ohne Ufer geht die beste Schwimmerin unter.«

»So ist es. Entweder lassen wir uns die Haxen wachsen bis zum Grund oder wir werden Fische.«

Während vorne noch Gläser klirrten, Stühle, Tische und Menschen herumflogen, schoben sich die beiden langsam Richtung Ausgang, nicht ohne einem hereinstürmenden Uniformierten das Bein zu stellen, dass dieser Kopf voraus in den Hintern eines Burschen stolperte, der sich kurz umdrehte und den Hakenkreuzler schließlich zu Boden drosch.

Draußen lagen die verwundeten Arbeiter und Arbeiterinnen, die uniformierten Nazis und Polizisten. Die Rettungskräfte waren bereits voll im Einsatz und versuchten, die Ersten notdürftig zu verarzten. Einige wurden gleich abtransportiert. Als einer der Sanitäter Thusnelda mit dem blutverschmierten Gesicht sah, nahm er sie beim Arm und führte sie zum Krankenwagen. Annemarie blieb stehen, als warte sie auch darauf, abgeholt zu werden, bis sie von einer heranströmenden Polizeieinheit auf die Seite geschoben wurde. Dort stand sie noch eine Weile und stierte gedankenverloren ins Treiben, drehte sich schließlich auf die Seite und wollte gerade die Schneeburggasse hinuntergehen, als ihr plötzlich ein junger Mann in die Arme lief.


Als die Gruppe – Johann hatte sich längst zurückfallen lassen – links in die Schneeburggasse einbog, kam ihnen ein Bursche mit wedelnden Armen entgegengelaufen: »Kommt schnell! Es geht schon los. Die Hakenkreuzler hauen alles kurz und klein.«

»Wie viele sind es?«

»Sicher hundert. Sie haben Totschläger und Messer dabei, und es kommen bestimmt noch mehr.«

Alle rannten los. Manche mit Gebrüll, manche schwangen ihre Stöcke, alle liefen sie, so schnell sie konnten. Es war ja nicht weit, die Schneeburggasse entlang, ein, zwei leichte Kurven in einer kleinen Steigung, und dann war man schon dort. Diese Flucht hieß Angriff. Ganz egal, wie viele es schließlich sein würden, sie waren fest entschlossen, ihren Genossinnen und Genossen zu Hilfe zu eilen. Johann auch, zumindest die ersten zehn, fünfzehn Meter. Dann löste er sich aus dem Pulk und schoss wie in Panik die Bachgasse hoch, wandte sich kurz um, sah nur noch Schemen von Gesichtern und Körpern seiner Freundinnen und Freunde die Schneeburggasse weiterlaufen, manche riefen: »Johann, Johann, wohin läufst du? Da lang!« Doch die Entfernung wuchs zu schnell mit jedem Schritt. Er war abgezweigt, er lief die Bachgasse hoch. Er war wie ein verwirrtes Projektil, ein Querschläger, der nicht hinüberrannte zum Gasthaus, sondern weiter hinauf in Richtung der alten Kirche, die Arme angewinkelt, der ganze Körper pulsierte, das Herz raste … die alte Glockengießerei, weiter rauf in die Bildgasse, er lief. Ein Bauer trat plötzlich aus einem Hauseingang, kurz stieß er an ihn, machte einen Zwischenschritt, sprang ein wenig zur Seite. Er war wie ein im Schwung von einem Hindernis zurückgeworfener Körper von einem weichen menschlichen Hindernis abgeprallt, ein dickes, bärtiges Bauernhindernis, das nach hinten kippte, leicht die Standhaftigkeit verlor, denn Johann hatte die Schutzhand vorgestreckt, ihn zur Seite gedrückt, wenig, nur ein wenig, er entschuldigte sich sogar, er atmete ein knappes Pardon aus, hechelte, stockte, ein unverständliches Schnauben, schon lief er wieder weiter, hinauf, immer nach oben. Das ganze Hötting bestand nur aus hinauf und hinunter, lag es doch am Fuß der Nordkette. In ganz Tirol ging es nur hinauf oder hinunter – außer im Inntal, ein kleiner Streifen, auf dem man sich hin und her bewegen konnte, ansonsten nur vertikal, und Johann dachte sich: Hinauf, bis es in der Lunge sticht, die Luft einem messerscharf die ganze Brust bis in den Magen hinunterschneidet und wieder rausfährt mit einem säuerlichen Geschmack, einem trockenen Röcheln, einem Schnauben wie ein alter Blasebalg eines Schmiedefeuers – und die nächsten Glutspritzer jagten die Brust runter und stoßen ins Hirn rauf, dass die Füße rennen, als wären sie unter eine Lok geschnallt. Johann rannte die Bildgasse weiter, »bis zum Höttinger Bild rauf«, sagte er hechelnd, leise, mehr zu sich selbst, wie ein Gedanke, der ohne Zutun zur Stimme drängte und laut wurde, »bis zu Jesus und der Maria – der ganze göttliche Glanz und Krempel –, bis zum heiligen Kreuz, dem Kreuz, das sie zum Hakenkreuz umbauen wollen. Weiter muss ich, immer weiter, nur nicht aufhören mit dem Laufen«, sagte sich Johann und spuckte aus, blies den Rotz weg, schnäuzte in die Luft hinaus. Mit einem seitlichen Bauernschnäuzer war er um die Ecke, die Stiegen hoch, zwei, drei, vier Stufen, ein kurzer Blick auf die obere Straße, dort lief ein Genosse, er erkannte Alfons an seiner dunkelblauen Jacke und seinem Hut, ansonsten sah er Bewegung, die sich drehenden Beine.

»Wo läufst denn du hin, Johann, du läufst ja rauf? Runter zum Bären müssen wir!«

Johann antwortete nicht, war schon längst hinter dem vorbeilaufenden Alfons über die Kirchengasse und weiter die Bildgasse rauf. Wie ein Gehetzter kam er sich vor. Er riss seinen linken Arm vor, zeitgleich stieß er seinen rechten Fuß nach vorn, ein Bein am Boden, eines in der Luft, Bewegung ist Kraft mal Wille und – zack – jetzt der rechte Arm, das linke Bein – zack – der heiße Rhythmus eines Sklaven auf der Flucht, aber wohin, wohin? Sein Kopf pulsierte, diese Hitze innen und die ansetzende Feuchtigkeit im Nacken, bei den Achseln, der ganze Rücken, der Druck auf den Schläfen, der Schweiß, der ihm von der Stirn zu rinnen begann, und dieser sanfte Wind, der ihm angenehm ins Gesicht fuhr – zack – zack – er sprang vom Gehsteig, blickte nach hinten: Kann sein, kann es sein, dass mich jemand verfolgt? Ein weiterer tanzender Umriss, der unten die Kirchengasse runterlief, mit einer Rute, mit einem Stock, war das einer von uns, einer von denen?

Er spuckte aus, bog links um die Ecke, ein unerwarteter Zusammenprall, ein kurzer Rempler, leichte Rückenlage, er ruderte mit den Armen, drehte die Hüfte, stieß den rechten Fuß in ein schlammiges Loch, rutschte, setzte nach, glitt, machte Tempo, trat in eine Lache – aus einer schwierigen Situation Geschwindigkeit machen, alles zu seinen Gunsten drehen, das ist die hohe Lebenskunst. Im Rutschen Tempo machen. So ist das fliehende Kämpferherz, kam ihm kurz in den Sinn, als er mit den Armen ruderte.

Er zog mit der linken Schulter das Sakko, das ihm im Drehen und Winden über die Schulter gerutscht war, wieder nach oben, riss den Kopf in die neue Richtung, sprang über ein Mäuerchen, stand in einer Wiese, sprang wieder zurück auf die Straße, vollendete die Kurve und rannte plötzlich wieder runter. Nur nicht die Dorfgasse, wenn sie mich da sehen, ist es aus, dachte er, beim Haus vorbei, über einen Zaun, er holperte einen kleinen Abhang hinunter, stampfte und bremste mit dem linken Fuß auf einem Maulwurfshügel, kippte mit dem Oberkörper nach vorn und sprang, um den Schwung nicht zu verlieren, über eine kleine Kuppe, ein, zwei Meter, stieß bei der Landung mit beiden Fersen in die Wiese, in den Hang, die Taschen des Sakkos flogen auf beiden Seiten nach vorn und hinauf. Das Taschenmesser, das in ein Taschentuch gewickelte Taschenmesser, schlug an seine Hüfte, er spürte es, dann rutschte er, die Hände am Boden, den Hintern auf Grashöhe, richtete sich auf, er fand den Tritt wieder und ritt in springenden Schritten die Wiese hinunter. Von hinten hörte er plötzlich jemanden schreien: »Bleib stehen, du Trottel! Was ist denn los? Was rennst denn so? Ist der Teufel hinter dir her?«

Dann der Zaun. Der ist zum Überspringen, der ist zu schaffen. Mit Schwung. Nur mit Schwung. Wer vor einem Hindernis stehen bleibt, hat verloren. Das ist eine alte Weisheit. Hindernisse nur im vollen Lauf, mit Geschwindigkeit. Der Schwung. Das ganze Universum würde in sich zusammenfallen, würde es nicht pausenlos rennen. Alles läuft, alles läuft wie geschmiert. Wohin nur? Es dämmerte bereits. Die Sonne stand schräg über dem Oberinntal. Ein Licht wie gelbes Feuer. Schatten. Die Schatten der knorrigen Obstbäume. Ein Baum stand genau vor dem Zaun und der Ast ragte hinüber, zeigte in voller Blüte auf Innsbruck hinunter, dass alles kräftig ist, treibt und wächst. Nichts machte es dem Baum, dass die Bretter an seinem Stamm festgenagelt wurden, er zu einer Zaunstütze wurde. Das hinderte ihn kein bisschen daran, im Frühling zu blühen und Früchte zu tragen, aber wie jetzt? Der Zaun, der Baum, springen? Hechten? Durchrollen? Seitensprung? Alles Möglichkeiten, und plötzlich ein erstes Brennen in den Oberschenkeln. Zu leicht wäre es, gäbe es immer nur eine Möglichkeit zum Weiterkommen, aber meistens, und das ist das Schwierige, gibt es zwei, drei. Daran scheiterten die Menschen. Selten an der Ausweglosigkeit. Selten landeten sie in einer Sackgasse. Meist waren es die freien Felder, die Wüsten, das offene Meer, wo sich die Menschen verliefen. Im Gebirge ist die Anzahl der Wege überschaubar. Das ist es, was er mochte. Eine überschaubare Anzahl von Möglichkeiten.

Er entschied sich, ohne weiter zu überlegen. Er war instinktiv, elegant, geschmeidig und sah eine leichte und erfrischende Variante. Er griff mit der linken Hand auf die oberste Latte des Zauns, beugte sich mit dem Schwerpunkt auf der linken Seite nach vorn, stieß ein Bein auf den Stamm, setzte das zweite nach, lief ihn mit ein, zwei Schritten hoch, streckte den linken Arm durch, der ganze Körper stieg immer weiter empor, bis er knapp über dem obersten Zaunbrett angelangt war – und jetzt sprang er schließlich drüber, mit der linken Hand am Zaun, der rechte Arm wehte durch die Luft. So landete er mit beiden Beinen parallel auf der anderen Seite. Elegant. Doch der Untergrund war weich. Richtig weich war er nur auf der rechten Seite, eine Mulde gab es da, und Johanns rechter Fuß, sein Talfuß, gab nach, sein Knie, sein Talknie gab nach, seine ganze rechte Seite, seine Talseite, wurde weich und sackte ein, als er in dem Moment nach links oben, zum Zaun und zum Obstbaum und den ganzen Hang hinaufblickte, da sah er zwei, drei Gestalten ebenfalls die Wiese hinunterpoltern wie eine Herde wild gewordener Ochsen, schnaubende und stöhnende Körper, die außer Tritt geraten waren, die den Hang heruntersprangen und -rutschten.

Scheißdreck! Verfluchter Scheißdreck!, dachte sich Johann. Klare Worte kamen ihm durch den Kopf. Doch er fing sich wieder. In der Furcht lernt man laufen.

Runter. Jetzt nur noch runter. Er überquerte einen weiteren Weg, dann über die nächste Wiese, stolpernd, jagend, was die Beine hergaben, was der Boden zuließ. Wir sind nichts weiter als Geröll am Abhang. Die ganze Menschheit, eine einzige Lawine, die alles zudrückt und unter sich vergräbt. Die großen Zeiten sind große Katastrophen, dachte er sich, und dann sah er diese Kleinigkeit, dass sich auf den letzten Metern sein Schuhband geöffnet haben musste, die beiden Bänderhälften schlenkerten wild durch die Gegend. Albtraum. Bei dieser Geschwindigkeit den Hang runter, in einem solchen Lauf offene Schuhbänder, da war ein Sturz vorgezeichnet, das war wie das »Bitte Lächeln« beim Fotografen, und dann Puff! Das ist wie im Bilderbuch, wie es Vater, Mutter, Oma, Opa, alle Verwandten, sogar die Nachbarn, alle erwachsenen Menschen immer berichtet hatten, das sich immer irgendwie zeigte und unausweichlich war.

Und jetzt waren seine Schuhbänder offen. Wie irre schwangen die beiden Enden der Bänder links und rechts über den linken Schuh. Was sollte er tun? Da kam schon die nächste Querung, ein Weg, davor eine Senke. Es drückte ihn rein, links weiter, straucheln, rutschen, in die Knie gehen, ausgleichen, die Arme links, rechts, rudern, Flügel schlagen, es geht weiter, alles stabil. Er lief die Straße nach oben, eine kleine Steigung, riss das linke Bein hoch. Er sprang, so gut es ging, mit dem rechten weiter, auf einem Bein hüpfte er die Straße entlang, mit kräftigen Sprüngen, das linke Bein angewinkelt, sein Körper leicht vorgebeugt, hochkonzentriert, hüpfend, in gleichmäßiger Fortsetzung seines springenden Rhythmus’: Nur nicht das Gleichgewicht verlieren!, und mit den Händen schnell, aber ohne Hektik, mit Ruhe, die beiden Enden des Bandes wieder zu einer Masche bringen, mit geschickten Fingern, sie verknoten und dabei das rechte Bein mit voller Kraft vorwärts stoßen, mit laut aufschlagender Sohle – und fertig! Beide Beine wieder am Boden, rechts hinunter, wieder in der Dorfgasse, ein guter Laufweg, fester Boden, vorbei am ersten Bauernhaus, seitlich der Garten, wie schön es wächst!

Doch plötzlich sah Johann einen Kuhkopf und dachte an Goebbels. In dem Moment, als dieses Rindvieh den Kopf aus seiner Koppel streckte, in seine Laufbahn hinausstreckte, und er die braunen Kuhaugen erblickte, dachte er an Goebbels. Kuh – Goebbels – Rindvieh – braune Augen, wie kam der Goebbels jetzt hierher? In seinen Gedanken dieser Goebbelskopf mit spitzem Kinn, breiter Stirn, und hier dieser lange Kuhschädel mit den großen Augen und rosa Nüstern, und da vorne, was stehen da so viele Menschen, Uniformierte überall … dieser Kuhkopf von Goebbels …

Ganz verwirrt war der Johann, ausgelaufen war sein Verstand vom vielen Rennen. Von Beginn an hatte ihn die Furcht weggetrieben von der Gruppe, den Berg hinauf, und der Wahn jagte ihn nun wieder hinunter. Wie blind hetzte er auf Wegen, die ihn wegführen sollten und doch wieder zurückführten. Zunächst erkannte er es gar nicht. Er sah den Kuhschädelgoebbels wie ein riesiges Bild vor sich, als er weiter die Dorfgasse hinunterlief, ohne zu beachten, dass sie vorne ja in die Schneeburggasse führte, genau dort, wo das Gasthof Goldener Bär war. Ein paar Schritte noch, vor ihm eine riesige Menschenmenge, die er nicht sah, die Polizei, Arbeiterinnen und Arbeiter, die herumstanden, schreiend, in Hektik, und Hakenkreuzler, die brüllten, im Chaos, und Johnann lief plötzlich nicht mehr weg, sondern direkt auf das Gasthaus zu, mitten in die Menge hinein, doch er sah nichts, hatte die Dorfgasse bereits verlassen und querte die Schneeburggasse wie blind. Aber jetzt, jetzt riss er doch die Augen auf und sah, wo er angekommen war, wollte abdrehen, stehen bleiben, rutschte und stieß mitten in die Annemarie.


So lernten sie sich kennen, die Annemarie und der Johann. Es war natürlich nicht Liebe auf den ersten Blick, aber dieser Zusammenstoß beeindruckte beide. Annemarie war zuerst recht verärgert, als dieser junge, keuchende und schwitzende Mann an ihr klebte, und Johann war es zunächst unangenehm, von einer Frau so abgebremst zu werden. Lieber wäre er in eine Mauer gelaufen. Aber sie kamen ins Reden. Annemarie erzählte, was so vorgefallen war, wie sie die Hakenkreuzler verprügelt hatten, und Johann spielte den Verärgerten, der trotz der Eile zu spät zur Auseinandersetzung gekommen war. Am nächsten und auch am übernächsten Tag trafen sie sich wieder. Der Vorfall beim Gasthaus Goldener Bär, der sich noch über Stunden hinzog – spätabends kam es sogar in Innsbruck noch zu weiteren Auseinandersetzungen –, war auch Tage später noch in aller Munde und ging schließlich als Höttinger Saalschlacht in die lokale Geschichte ein. Ein SA-Mann kam bei der Saalschlacht durch ein Messer zu Tode und wurde in einer groß angelegten Trauerfeier zu Grabe getragen. Beide Seiten hatten einige Verletzte, und etliche mussten ins Krankenhaus. Thusnelda blieb eine Narbe an der Stirn. Der Tiroler Landeshauptmann Dr. Stumpf verurteilte die Ereignisse und sprach von einer schweren Schädigung des Tiroler Fremdenverkehrs und der Tiroler Wirtschaft und von seiner Entschlossenheit, derartige Katastrophen zukünftig zu verhindern. In den Augen der Christlichsozialen und der Nazis lag die Schuld bei den marxistisch verhetzten Arbeiterinnen und Arbeitern und bei ihrem Anführer, dem Kuprian.

Annemarie und Johann saßen am darauffolgenden Sonntag oben beim Planötzenhof und lasen die Zeitung. Sie schimpfte über die Berichterstattung der »Innsbrucker Nachrichten«, bezeichnete es als Naziblatt und meinte, dass die Hahnenschwanzler auch noch draufkommen würden, dass mit den Hitleristen nicht anders umzugehen sei. Johann stimmte ihr zu und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass man sich noch irgendwie mit allen einigen könnte. Das hatte der Kuprian später auch gemeint. Und als Johann über das Inntal schaute, mit dem schönen Innsbruck und den Bergen rundherum, manche waren noch etwas angezuckert, und er die Annemarie reden hörte, wie sie von der Befreiung der Frauen redete und der Sexualität, da freute er sich schon auf den Sommer.

Die Erinnerten

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