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Das war der Tag der Höttinger Saalschlacht, und in diesem Moment trafen sich die Wege von Annemarie und Johann zum ersten Mal. Sie stießen zusammen, verknäulten sich, und von diesem Zeitpunkt an waren ihre Lebensfäden miteinander verwoben. Von hier nahm auch mein Leben seinen Ausgang. Nun, nicht direkt, aber es ist mir wichtig, von hier zu beginnen, um meine Geschichte zu erzählen. Es wird nicht meine persönliche sein, denn meine eigene Lebensgeschichte spielt keine Rolle mehr.

Es geht mir um die Geschichte meiner Eltern, um die Geschichte dieser Stadt, wie sich die Gesellschaft in diesen Breitengraden entwickelt hat. Ich möchte erzählen, was sich hier zugetragen hat, da ich in den letzten Jahren meines Lebens so viele Ähnlichkeiten in einzelnen gesellschaftlichen Entwicklungen gesehen habe. Ich befürchte, dass es wiederkommt. Es geht dabei nicht um mich, denn für mich ist es zu spät. Ich habe die Auswirkungen des Faschismus gesehen und jene des Nationalsozialismus, und wir alle wissen, dass sie brutal sind und tödlich. Für sehr viele. Ich habe lange nicht gewusst, was es braucht und wie man sein muss, damit man das mitmacht. Es ist nicht viel. Es braucht so wenig, und man ist dabei – und so viel, um dagegen zu sein.

In den letzten Jahren sind mir einige Dinge durch den Kopf gegangen. Mir wurde immer mehr bewusst, wie sich vieles verändert hat. Nicht nur, dass ich älter und gebrechlicher wurde, sondern rund um mich entstand eine neue Zeit. Damit meine ich gar nicht nur die technischen Entwicklungen, die meine Gegenwart so anders als jene meiner Jugend oder Erwachsenenzeit erscheinen ließ. Ich meine die soziale Sicherheit, den aufkommenden Wohlstand, mit dem ich aufgewachsen und groß geworden war, den ich erlebt und so gut gekannt hatte. Diese Errungenschaften – und das waren sie für mich – wurden für immer weniger Menschen erreichbar. Mir wurde bewusst, dass wir, also die Generation, der ich angehörte, auf Pump lebten. Dass wir von der Zukunft einen Kredit genommen hatten und dass dieser zurückbezahlt werden musste.

Der Wunsch, davon zu erzählen, meine Eindrücke, Erfahrungen und Befürchtungen mitzuteilen, hat sich über die Jahre immer wieder bemerkbar gemacht. Und doch habe ich ihn so lange zurückgehalten. Immer, wenn sich dieses Bedürfnis zu reden, zu erzählen in mir aufgebaut hatte, stellte ich alle möglichen Dinge, Gründe und Bedenken darauf ab, bis es wieder verschwand. Also habe ich bis zum Schluss, bis zum Ende meines Lebens mit niemandem darüber gesprochen.

Vor drei Tagen wurde ich begraben. Als ich verstarb, konnte ich auf ein langes Leben zurückblicken. Meine Beerdigung, die ergreifenden Abschiedsworte, das viele Schwarz und die Tränen, das hatte mich berührt und nachdenklich gemacht, und plötzlich gab es nichts mehr, was draufzuschieben und zu stellen war, und da wusste ich, dass ich nun in die Erinnerung greifen und heben muss, was es noch zu erfassen gibt.

Zuvor kam mir bereits die Einsicht, dass sich die Zeit nicht nur vorwärts bewegt, sondern in ihrer Bewegung auch immer wieder Geschehnisse aufgreift, die vergangen sind. Ich stelle mir das wie bei einem Wasserrad vor, das stets von Neuem in den Fluss des Lebens hineingreift und Dinge und Menschen emporhebt, die schon einmal da waren. Ich weiß nicht, wie ich das besser ausdrücken kann. Ich versuche, es noch einmal anders zu sagen: Ich sah einzelne Personen und Figuren bereits zu meinen Lebzeiten immer wieder auftauchen und auch wieder verschwinden, und mich hat das nie wirklich beunruhigt. Die Herrschsüchtigen, die Quäler und Sadisten, die Hochstapler und all die Schnösel, Blender und Prahler. Aber heute, so scheint es mir, werden alle gleichzeitig emporgehoben und bestimmen über weite Teile unseres Lebens. Als würde unsere Zeit, die eine schwierige ist, weil sie irgendwie an einem Kipppunkt liegt, genau diese Kräfte wieder anschwemmen. Die Aussicht auf ein gutes Leben für alle Menschen zieht sich zurück, und angespült wird eine neue Form von Elend und Endzeit, Wut, Hass und Unsicherheit.

Ich verstehe nicht viel von Politik und bin grundsätzlich der Meinung, dass sich die Politik an der Zukunft orientieren soll. An der Jugend, damit diese überhaupt eine Zukunft haben kann. Ich weiß, dass das eine Binsenweisheit ist. Ich weiß auch, dass das alle behaupten. Niemand sagt ja: »Ich bin gegen Zukunft. Ich will, dass die kommende Generation den ganzen Dreck abkriegt.« So redet ja keiner. Und Dreck sagen sie schon gar nicht. Alle reden darüber, dass sie die Welt wieder zukunftsfit machen wollen und so weiter. Aber das ist pure Phrasendrescherei. Darüber will ich auch keine weiteren Worte verlieren.

Aber seltsam ist: Schon als junger Mann habe ich, wenn ich an meine Zukunft gedacht habe, zurückgedacht. An einen Ort, den ich mochte, an den ich mich gerne erinnerte, und von dort aus habe ich mir die zukünftige Zeit vorgestellt. Ich war als Kind viel in den Wäldern und Wiesen der Umgebung. Auf einem kleinen Hang an einem Waldrand gab es einen großen und kräftigen Kirschbaum. Durch die leichte Schräglage war er einfach zu ersteigen, denn er hatte auch eine starke Astgabel, an der man sich gut hinaufstemmen konnte, und dann war der Stamm leicht zu erklettern bis zu einer anderen Gabel, die eine ideale Sitzgelegenheit bildete und von der man einen wunderbaren Blick auf die Stadt hatte. Mein Ausblick. Manchmal war er blätter- und kirschenverhangen, jedoch war der Baum an dieser Stelle nicht so dicht verwachsen. Später habe ich sogar ein Sitzbrett in der Gabelung befestigt.

Stunden verbrachte ich dort und lauschte den Geräuschen der Vögel, dem Glockenspiel der Kühe, der Stadt mit ihren Motoren, sah zu, wie aus den Ruinen wieder Häuser wuchsen, sich die Stadt auszubreiten begann und die Jahreszeiten ins Land zogen. Von dort aus, von diesem Baum aus, erdachte und erträumte ich mir meine Zukunft, sowohl als Kind als auch später, als ich schon längst erwachsen war und woanders lebte. Nur von diesen Baum aus konnte ich mir eine Zukunft überhaupt erst vorstellen.

Gleichzeitig ist es nicht gut, sich oder irgendetwas anderes nur in der Vergangenheit zu suchen. Mit dem Blick nach hinten wird es schwierig, voranzugehen. Meistens ist das, was aus der Vergangenheit so golden glänzt, nichts weiter als eine Sinnestäuschung, da das Licht in einem zu spitzen Winkel darauf scheint. Wie beim Sonnenuntergang.

Wie beim Gehen sollten sich Zukunft und Vergangenheit hin und her bewegen. Ein Bein ist hinten und das andere ist vorn. Daraus resultieren die Bewegung und die Zeit. Nur wenn wir die Vergangenheit nicht verstehen, laufen wir Gefahr, das zukünftige Leben zu eliminieren, zu zerstören. Sie haben richtig gelesen. Bei meinem Begräbnis wurde mir bewusst, dass die Gegenwart den Weg der Zerstörung geht. Sie eliminiert Zukunft.

Doch die Gegenwart erscheint uns stets als vollkommen normal und gewöhnlich. Es gibt gute und schöne Zeiten, dann gibt es schwere Zeiten der Krisen und Spannungen, aber man gewöhnt sich schnell daran. Entlang der vielen Ereignisfäden bekommt alles einen Schein von Normalität, bis wir dann das Teppichmuster betrachten. Dann sehen wir es. Nur, wer schafft es schon, aus der Gegenwart aufzustehen und alles zu überblicken? Dafür reicht auch kein Baum, und sei er noch so groß.

Dennoch, auch schon als junger Mensch hatte ich immer wieder das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Zwar verschwand dieses Gefühl später wieder, jedoch in den letzten Jahren meines Lebens kehrte es wieder zurück. Es wurde sogar stärker. Es passte nicht mehr zusammen. Hundert Puzzlesteine aus hundert verschiedenen Bildern.

Das hatte nichts mit Pessimismus zu tun, mit meinem Alter oder der Tatsache, dass ich mein Lebensende schon anrücken sah. Meine Mutter hat immer gesagt: »Es wird schon werden.« Das war ihr Spruch, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Es wird schon. Im Grunde hatte ich nie wirklich an ein Ende gedacht.

Erst jetzt, wo ich tot bin, sehe ich klarer. Erst durch mein Sterben konnte ich den Mut fassen, darüber zu reden, damit Sie selbst die Rückschlüsse zu den Geschehnissen in Ihrer eigenen Zeit ziehen können. Erst jetzt habe ich die Unbeschwertheit, darüber zu reden, wie es sich damals ereignet hat. Wie sich meine Eltern im Faschismus bewegten und später im Nationalsozialismus. Wie sie ein Teil davon wurden. Ich werde ein paar Episoden herausgreifen. Jene, von denen ich mir denke, dass ich sie unbedingt erzählen muss, da sie etwas zeigen und vielleicht auch unterhaltsam sind. Ich setze mit einem Tag im Sommer 1934 fort.

Die Erinnerten

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