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Spittelau: Träumen von Nowosibirsk

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Über der Müllverbrennungsanlage thront ein sternenklarer Himmel, obwohl in Liesing längst alles verschneit ist. In einer kleinen Bar versteckt sich Wien vor der ersten Nacht eines langen Winters. Ein Mann mit britischem Akzent am Tisch gegenüber möchte seine junge Begleitung abschleppen. Daneben debattiert eine Gruppe Studenten mit gehobenen, vom Alkohol selbstsicher gemachten Stimmen über das Versagen der heimischen und internationalen Politik.

Ich hingegen spreche mit einer wunderschönen Frau über die Route der transsibirischen Eisenbahn, mit der ich nie fahren werde, in die ich mich aber für die Dauer eines Abends hineinträume. Allein von Moskau nach Nowosibirsk dauert es schon zwei Tage – das muss man sich einmal vorstellen, achtundvierzig Stunden im Zug. Ein weiterer Tag und man ist in Irkutsk, das kenne ich nur vom Risiko-Brettspiel aus meiner Kindheit. Erst fünf Tage danach erreicht man Peking. Die Kellnerin mit deutschem Akzent bringt ein frisches Glas Chardonnay und für einen Augenblick irritiert es mich, dass ich hier nicht auf Wienerisch bedient werde. Doch wer nach Nowosibirsk will, muss auch mit einer deutschen Kellnerin fertigwerden.

Der Herr am Nebentisch setzt sein Wodkaglas an den Mund, trinkt es in einem Zug aus und spült das klare Getränk mit einem kräftigen Schluck Bier herunter, ohne einen Mundwinkel zu verziehen oder von seiner Zeitung aufzublicken. Es ist mittlerweile so verraucht, dass es überhaupt keinen Sinn mehr macht, sich keine Zigarette anzuzünden. Weit nach Mitternacht ist die Bar an einem Montagabend voll und keiner fragt hier nach der Uhrzeit oder gar dem Morgen. Was wohl die Leute in Irkutsk gerade machen und ob es dort wenigstens manchmal genauso wunderbar ist wie hier? Ich hoffe es für die im fernen Russland Lebenden, während wir in Wien auf die Straße hinaustreten.

Endlich hat es auch in Spittelau zu schneien begonnen, es war also doch kein Fehler in den Sternen. Was wäre, wenn wir wirklich morgen in den Zug steigen und aufbrechen würden? „Kommt es dir nicht seltsam vor, dass wir immer darüber reden, alles anders zu machen, und dann doch jeden Tag hier sitzen in dieser Bar oder einer anderen?“, fragt mich meine Begleitung. Sie hat einen wehmütigen Zug um die Augen, so als hätte sie etwas verloren und wüsste nicht, was.

Die U-Bahnstation leuchtet blau zwischen all dem Weiß, ich muss in Richtung Siebenhirten, sie nach Floridsdorf, uns trennen Welten. Gleich wird es so weit sein, der erste Zug wird einfahren und wir werden voneinander fortgerissen. Doch die Anzeige am Gleis ist abgeschaltet, erst jetzt realisieren wir, dass es nach Mitternacht ist, obwohl wir das doch schon vorher gewusst haben müssen. Dankbar gehen wir zurück, während der Wind unsere Spuren im Schnee verweht, um ein paar weitere Stunden davon zu träumen, mit der transsibirischen Eisenbahn in die fernen Weiten zu fahren.

16 Horsepower – Nobody Cept You

Der Wiener Alltagspoet fährt U6

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