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Neue Donau: Das wahre Meer der Wiener

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„In Afghanistan gibt es diesen See, nur zwanzig Minuten von Kabul entfernt. Wenn ich hier an der Donau sitze, die Augen schließe und einatme, dann glaube ich für einen Moment, wieder zu Hause zu sein“, erzählt ein junges Mädchen mit Kopftuch in fast akzentfreiem Deutsch. Die ihr gegenübersitzende, deutlich ältere Dame zündet sich eine Zigarette an, ohne Feuerzeug, sondern den gerade erlöschenden Vorgänger verwendend. „Da is’ sicher a schen“, antwortet sie in breitem Wienerisch. Als Dritter in der ungleichen Runde sitzt ein Mann, der jünger ist als die Österreicherin, aber deutlich älter als die Afghanin. Sein Balkanakzent ist derart ausgeprägt, dass man genau hinhören muss, um die darin eingewobenen Worte herauszuhören. In seiner eigenwilligen Sprache, einer Mischung aus dem Aufbrausen des Balkans und der Verzweiflung des Ostens, erzählt er von der Donau, die in seiner Heimat sieben Kilometer breit ist, ein reißender Fluss statt des geordneten Wiener Dahinfließens. In seiner Kindheit hat er blankgewaschene Steine in die blauen Fluten geworfen und sich vorgestellt, dass das Wasser in seinen Händen nur ein paar Tage zuvor durch Städte wie Regensburg, Passau und eben auch Wien geflossen ist. Niemals habe er gedacht, dass er einmal flussaufwärts ziehen würde. An seinem heutigen Sitzplatz reicht der Horizont der Donau gerade einmal zweihundert Meter bis zum gegenüberliegenden Ufer. Dennoch ist Wien hier weit und offen, für einen Augenblick das, was die Stadt so gerne sein möchte, ein Schmelztiegel der Kulturen, in dem man miteinander lebt, statt bloß nebeneinanderher. Er war oft traurig früher, erzählt er, doch seitdem er Vater geworden ist, hat er keine Zeit mehr dazu.

Einen Sitzplatz zu finden ist nicht einfach, der Boden ist so dicht mit Zigarettenstummeln übersät, dass man das von Hitze und Nikotin braun gewordene Gras unter meinem Handtuch rauchen könnte. Der Neusiedler See sei das Meer der Wiener, sinniert die österreichische Frau gerade. Das Mädchen aus Afghanistan war noch nie dort, sie kann sich das Zugticket ins Burgenland nicht leisten.

Nach einer Weile stehe ich auf und überquere die Brücke auf die Donauinsel. Im Corona-Sommer herrscht hier Festivalstimmung, alle Studenten der Stadt scheinen ihre Hängematten zwischen den Bäumen aufgehängt zu haben, sie haben sich damit arrangiert, die Ferien nicht in Buenos Aires oder New York zu verbringen. Ein illegaler Verkäufer schlendert zwischen den einzelnen Gruppen hindurch und bietet kalte Getränke an. „Sind die gratis?“, fragt ein junger Mann herausfordernd, woraufhin der Verkäufer seine Zigarette in den Mund steckt, um ihm mit der frei gewordenen Hand eine Bierdose zuzuwerfen. Ein paar hundert Meter weiter wird die Insel ruhiger, im Eissalon Da Ponte sitzen Pensionisten bei Kaffee und Kuchen, wofür es seit Jahrzehnten ein Sonderangebot gibt. Ich setze mich dazu und senke den Altersschnitt um ein paar Jahrzehnte. Während ich meine Melange trinke, spaziert die junge Afghanin vorbei. Doch sie erkennt mich nicht, denn sie blickt auf einen Punkt weit in der Ferne, in der irgendwo ihre alte Heimat oder vielleicht auch das Ufer des Neusiedlersees liegt.

Don Henley – The Boys Of Summer

Der Wiener Alltagspoet fährt U6

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