Читать книгу Ruhet.Sanft. - Andreas Richter - Страница 6
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ОглавлениеEs war Sonntag und bis zur Eröffnung blieb nur noch eine Woche. Mirja schob den Schlüssel in das Schloss der neuen Haustür und drückte die Tür auf. Hinter ihr stand Stefan, der eine Sackkarre hielt, auf der drei große Kartons mit Tischdecken standen. Sie hielt ihm die Tür auf, dann öffnete sie die Zwischentür und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Es roch nach frischer Wandfarbe, da die Maler erst am Freitag ihre Arbeiten fertiggestellt hatten. Mirja öffnete ein Fenster und entriegelte die Fensterläden, während Stefan die Sackkarre durch den Speisesaal zu dem restaurierten Bauernschrank schob.
Als Mirja das nächste Fenster öffnete, spürte sie plötzlich, dass jemand hinter ihr stand. Stefan war es nicht, soviel war klar, denn sie konnte hören, wie er einige Meter entfernt einen Karton aufriss. Es war nicht Angst, was sie empfand, sondern Unbehagen, das intuitive Wissen, dass etwas nicht stimmte. Sie hielt die Luft an und drehte sich langsam um, ohne die geringste Vorstellung zu haben, was sie erwartete. Aus dem Augenwinkel sah sie Stefan, der gerade in die oberste Kiste griff, um die Tischdecken herauszunehmen. Dann sah Mirja sie, und ihr Herz machte einen Sprung.
Das Mädchen. Es stand einige Schritte entfernt und sah Mirja an. Auch jetzt war es barfuß und auch dieses Mal trug es das weiße Kleid. Das Mädchen hielt die Sanduhr in beiden Händen.
»Was machst du denn hier?«, fragte Mirja.
»Was sagst du?«, fragte Stefan, ohne zu Mirja zu sehen.
Mirja holte tief Luft, räusperte sich, ließ ihren Blick durch den Raum gleiten und vergewisserte sich, dass niemand sonst hier war.
»Steff«, sagte sie, »sieh mal her!«
Stefan sah fragend hoch und stutzte kurz. »Hey«, sagte er dann, »das ist ja eine Überraschung – unsere hübsche Freundin.« Dann sah er die Sanduhr in ihren Händen. »Wir haben sie extra für dich aufbewahrt, weil wir uns schon dachten, dass du vielleicht irgendwann kommst und sie zurück haben möchtest.«
»Steff«, sagte Mirja, ohne den Blick von dem Mädchen abzuwenden. »Die Sanduhr war oben im Büro in einer der Kisten. Ich hatte sie in eine Zeitung gewickelt, damit sie bei dem ganzen Chaos nicht beschädigt wird.«
»Das war sehr umsichtig von dir«, sagte Stefan und zwinkerte dem Mädchen zu. Es zeigte keine Reaktion.
»Wann bist du hier gewesen?«, fragte Mirja und sah das Mädchen streng an.
Das Mädchen antwortete nicht. Stattdessen stellte es die Sanduhr auf den Fußboden und betrachtete sie.
Mirja sagte: »Hör zu, Kleine: Ich bin bestimmt nicht kleinlich, aber du kannst hier nicht einfach herein marschieren und in unseren Sachen wühlen. Das geht nicht, wo kommen wir denn da hin.«
Das Mädchen trat einen Schritt zurück. Es hob den Kopf und sein Blick fixierte Mirjas Augen. Mirja fühlte sich plötzlich unbehaglich.
Das Mädchen ging in Richtung Haustür. Es dauerte einen Moment, bis Mirja reagieren konnte. »Warte!«, rief sie dem Mädchen hinterher, doch es blieb nicht stehen und drehte sich auch nicht um.
Mirja warf Stefan einen Blick zu, dann sah sie zu der Zwischentür. »Das glaube ich alles nicht«, sagte sie zu sich selbst und eilte aus dem Haus. Von dem Mädchen war nichts zu sehen. Mirja sah nach links und rechts, und aus irgendeinem Grunde sogar nach oben zu dem Dach. Nichts. Das Mädchen war fort. Mirja schüttelte missmutig den Kopf und kehrte in das Haus zurück.
Im Speisesaal sah sie, dass Stefan damit beschäftigt war, den zweiten Karton zu öffnen. Dass er einfach weiterarbeitete, machte sie nur noch ärgerlicher.
»Begreifst du, was sie hier macht?«, fragte sie scharf.
Er sah kurz auf und schüttelte den Kopf. »Nein, aber ist das wichtig?«
Sie sah ihn an, als zweifle sie an seinem Verstand. »Ich finde das sogar ziemlich wichtig. Die Sanduhr war in irgendeiner Kiste im Büro, und ich kann nicht mal sagen, in welcher. Die Kleine war also irgendwann hier und hat das ganze Haus nach der Sanduhr durchsucht.«
Erst jetzt begriff Stefan, worum es Mirja ging. »Nein, das geht natürlich nicht.«
»Danke, dass du meine Ansicht teilst«, sagte sie spöttisch. »Wieso haben die Handwerker sie so einfach hier im Haus rumlaufen und in aller Ruhe in unseren Sachen kramen lassen?«
»Das kann ich dir auch nicht sagen. Aber es ist nun mal passiert, nun beruhige dich wieder.«
Mirja atmete tief durch. Sie deutete auf die Sanduhr. »Und was soll das jetzt? Die Kleine stellt sie auf den Boden, wie beim ersten Mal, und verschwindet dann. Das begreife ich nicht.« Dann ging sie zu der Sanduhr, nahm sie in die Hand, betrachtete sie kurz und stellte sie auf einen Klappstuhl.
Stefan sagte schmunzelnd: »Wenigstens ist es heute warm und wir brauchen uns keine Sorge um ihre Gesundheit zu machen.«
»Du bist ja so witzig, Steff, ich lache mich tot. Die Kleine macht sich einen Spaß daraus, uns zu erschrecken, und darüber kann ich überhaupt nicht lachen.«
»Es ist harmlos, sie tut doch nichts Schlimmes.«
»Sie hat das Haus nach der Sanduhr durchsucht, in unseren Sachen gewühlt, in unserem Eigentum. Das geht gar nicht!«
»Und? Was willst du jetzt machen? Die Polizei verständigen? Meine Güte, Mirja, selbstverständlich macht man das nicht, aber sie ist ein Kind, und kein Einbrecher. Mir jedenfalls ist ein Kinderstreich allemal lieber als irgendetwas Kriminelles.«
»Du willst mich nicht verstehen«, murmelte Mirja wütend und verließ das Haus.
Kopfschüttelnd sah Stefan ihr hinterher. Mirja hatte mal wieder ihre bockigen fünf Minuten, und dann gab es an sie kein rankommen. Er wandte sich wieder den Kartons zu und packte weiter aus.
Die erste Haustür, an der Mirja klingelte, war die des Hauses auf dem anliegenden Grundstück. Gerd und Doris Brüggemann stand auf dem Keramikschild. Mirja dachte daran, dass Stefan und sie sich noch nicht den neuen Nachbarn vorgestellt hatten, das hätte die Sache jetzt leichter gemacht. Kurz darauf öffnete eine ältere, elegant gekleidete Frau die Tür. Sie wirkte nicht im Geringsten misstrauisch.
»Frau Brüggemann?«, fragte Mirja gequält lächelnd.
»Ja.«
»Guten Tag! Ich hoffe, ich störe nicht. Ich bin Mirja Timmer, mein Mann und ich haben das Reethaus dort drüben gekauft.«
»Ich weiß, wer Sie sind.«
»Oh. Tja, wir wollten uns schon längst mal vorgestellt haben, aber es hat sich leider bislang nicht ergeben. Die ganze Arbeit und so ... .. Wenn die Umbauten abgeschlossen sind, werden wir Sie und die anderen Nachbarn selbstverständlich auf ein Glas Sekt einladen. Wir freuen uns jetzt schon, alle kennen zu lernen.«
Die Frau nickte ausdruckslos.
»Ich habe auch nur eine kurze Frage, Frau Brüggemann: Bei uns war zweimal ein kleines Mädchen im Haus. Sie hat blonde, lockige Haare und ist etwa sechs oder sieben Jahre alt. Leider hat sie uns ihren Namen nicht genannt. Wir vermuten, dass sie in der Nachbarschaft wohnt. Wissen Sie vielleicht, wer sie ist?«
»Ein Mädchen? Blond?«
»Etwa so groß.« Mirja deutet die Höhe ihres Rippenbogens an.
»Das einzige kleine Mädchen, das in der unmittelbaren Nähe wohnt, hat schwarze Haare.«
»Verstehe. Haben Sie vielleicht dennoch eine Idee, wer das Mädchen sein könnte?«
»Ich müsste sie sehen. Aber auf Anhieb fällt mir niemand ein, nein.«
Weitere Fragen erübrigten sich. Die Frau sah Mirja mit einem Gesichtsausdruck an, der bedeutete Sonst noch was?
»Vielen Dank«, sagte Mirja und lächelte schmal, »bitte entschuldigen Sie die Störung. Wie gesagt: Wir werden Sie und Ihren Mann demnächst auf ein Gläschen einladen und würden uns freuen, wenn Sie beide kämen.«
»Das dürfte schwierig sein, mein Mann ist vor einem Jahr verstorben«, sagte die Frau und es klang, als habe Mirja das gefälligst zu wissen.
Na klasse, dachte Mirja, lass bloß kein Fettnäpfchen aus, Frau Timmer. Sie entschuldigte sich knapp, verabschiedete sich und beeilte sich, das Grundstück zu verlassen. An den anderen Haustüren zu klingeln und nach dem Mädchen zu fragen machte keinen Sinn mehr, zumal sie an den Worten der Brüggemann nicht zweifelte, dass das einzige Mädchen, das in der unmittelbaren Umgebung wohnte, nicht in Frage kam. Mirja kehrte in ihr Haus zurück, jedoch nicht, ohne sich immer wieder verstohlen nach dem Mädchen umzusehen.
»Sie wohnt nicht in der Straße«, sagte sie, als sie wieder im Speisesaal stand.
Stefan war gerade damit beschäftigt, die Kartons zu zerlegen. »Wer?«, fragte er gedankenverloren.
»Die Kleine, meine Güte. Sie wohnt hier nicht. Ich habe bei einer Nachbarin geklingelt. Sie sagt, in dieser Straße wohnt kein kleines blondes Mädchen.«
»Du hast bei den Nachbarn nach ihr gefragt? Wieso das denn?«
»Na, warum wohl? Es kann doch nicht sein, dass sie hier rein und raus spaziert und in unseren Sachen rumwühlt. Das müssen ihre Eltern wissen, das hier ist Privatbesitz und außerdem kann es für sowas mächtig Ärger geben. Die Kleine muss lernen, dass das nicht geht.«
»Schatz, nun ereifere dich doch nicht so. Du hast völlig Recht, aber nun lass es gut sein. Wenn wir die Kleine das nächste Mal sehen, reden wir mit ihr. Sie ist alt genug, das zu begreifen. Es gibt eine klare Ansage von uns, und dann ist das Thema erledigt. Da muss man nicht von Haustür zu Haustür rennen und sich vor den Nachbarn zum Affen machen.«
Einen Augenblick lang schwieg Mirja, dann sagte sie kleinlaut: »Ja, das stimmt schon. Die Kleine hat mich erschreckt und das bereits zum zweiten Mal, das hat mich genervt.« Sie nahm die Sanduhr in die Hand, betrachtete sie und murmelte: »Das nächste Mal werde ich sie fragen, was das Ganze soll.«