Читать книгу Ruhet.Sanft. - Andreas Richter - Страница 7
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ОглавлениеZwei Abende vor der offiziellen Eröffnung gab es im Timmers für dreißig Gäste ein Pre-Cooking; eine geschlossene Veranstaltung mit Verwandten, Freunden und Bekannten sowie einigen Journalisten, deren Restaurant-Kritik einen entscheidenden Einfluss auf den Erfolg der ersten Monate haben würde.
Das Timmers präsentierte sich als edel-gutbürgerliches Restaurant, das das Traditionelle pflegt und sich maßvoll dem Zeitgeist öffnet: Eine alte Stube mit einer an der Wand montierten Holzbank sowie Tischen und Stühlen im Landhausstil aus massivem Weichholz. Wie zufällig hingen einige schlichte Regale mit einer alten Kaffeemühle, Porzellangeschirr und getrockneten Blumensträußen an den Wänden. Alles wirkte stimmig. Rechts von der Zwischentür, hinter dem Hauseingang und über dem kleinen Kellerraum, befand sich der Tresen, von ihm abgetrennt die Garderobe, daneben war die Küche.
An diesem Abend gab es ein opulentes Büfett aus warmen und kalten Speisen; deftige norddeutsche Gerichte neben Kreationen wie Wildenten-Mousse oder Zanderfilet mit Nüssen und Koriander. Stefans ausgezeichneter Ruf in der Welt der Köche begründete sich auf der scheinbaren Leichtigkeit, mit der er den Aromen ein kreatives Zusammenspiel verlieh, und diesem Ruf wurde er auch heute wieder gerecht.
Es war bereits kurz nach drei Uhr. Die meisten Gäste waren längst gegangen, lediglich Mirja und ihre Freundin Denise waren noch da sowie Britt und Oliver. Stefan hatte seine Mitarbeiter vor anderthalb Stunden nach Hause geschickt, nachdem sie das nahezu restlos geleerte Büfett weggeräumt hatten. Alles weitere war Sache der Reinigungsfirma, die von nun an jeden Vormittag das Restaurant wieder herrichtete, mit Ausnahme des Montags, dem Tag, an dem das Timmers geschlossen blieb.
Mirja kam aus den Waschräumen und ging zu dem Tisch, an dem die anderen saßen. Sie ließ sich auf den freien Stuhl fallen und streifte sich mit den Füßen die Schuhe ab.
»Ich muss Elefantenfüße haben«, murmelte sie und gähnte ungeniert.
Britt sah ihre Schwester aus glasigen Augen an und sagte: »Das war toll heute Abend, Miri, ganz große Klasse.« Ihre Stimme kippte ein wenig, sie war angetrunken. »Ich halte jede Wette, dass dieser Laden der absolute Kracher wird. Ihr habt das toll hinbekommen, das Haus und das alles hier, das ist große Klasse, wirklich. Sogar Papa war angetan, er hat gesagt, es ist gelungen, und wenn Papa sagt, es ist gelungen, ist es so etwas wie ein Ritterschlag.« Sie beugte sich zu Stefan herüber, der neben ihr saß, und gab ihm schmatzend einen Kuss auf die Wange. Dann sagte sie: »Herzlichen Glückwunsch, mein liebster und einziger Schwager. Ich bin stolz auf dich. Wie fühlst du dich, jetzt, nachdem doch noch alles rechtzeitig fertig wurde und dieser Abend überstanden ist?«
»Sehr gut und sehr müde«, sagte Stefan und lächelte gequält. Er trug noch immer die weiße Arbeitskleidung mit seinem eingestickten Namen. »Ich sag euch was: Ich entkorke noch eine Flasche Wein und wir trinken ein letztes Glas, dann gehen wir alle nach Hause und hauen uns in die Betten. Es war ein langer Tag, ich bin total erledigt.«
»Du trinkst aber nichts mehr«, sagte Oliver zu Britt.
»Das entscheide ich und nicht du«, entgegnete sie.
»Du hast mehr als genug.«
»Ja, und zwar von deinen ewigen Vorschriften und Kontrollzwängen.« Sie äffte: »Britt, mach dies nicht, Britt mach das nicht. Britt, trink nicht jeden Abend Wein, Britt, wo warst du solange gewesen, Britt, mit wem hast gerade telefoniert.« Sie sah Mirja an und sagte: »So geht das den ganzen Tag, Schwesterchen, und es wird immer schlimmer. Als in unserem Bett noch was los war, ließ es sich ja noch irgendwie ertragen, aber heute, wo er jeder zweiten Frau unter Achtzig ungeniert hinterher starrt, nervt es nur noch.«
»Halt den Mund«, sagte Oliver mit gezwungener Ruhe.
Britt dachte nicht daran. Sie sagte zu Mirja. »Er vögelt jetzt lieber eine seiner Angestellten anstatt mich.« Jetzt wandte sie sich an Oliver. »Wie heißt das dürre Hähnchen noch gleich? Svea, richtig?«
»Du bist peinlich«, zischte Oliver mit zusammengekniffenen Augen. »Es wäre besser, du hältst jetzt den Mund. Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine verwirrten Gedanken hier jemanden interessieren.«
Nun sah Britt wieder Mirja an. »Ich habe eine sehr eindeutige SMS von ihr auf Ollis Handy gefunden. Rein zufällig, natürlich. Du solltest diese Svea mal sehen, die ist wirklich ein Hungerhaken, ein Tittenfick geht mit der nicht.«
Oliver sprang auf. »Es reicht, Britt«, brüllte er. »Du solltest dich hören, dein dummes Gequatsche ist nicht zu ertragen!«
Auch Stefan fand, dass es genug war. Er mochte Britt und sie tat ihm leid, doch was sie sagte und wie sie es sagte, machte es nicht unbedingt besser – im Gegenteil. Er stand auf, klatschte in die Hände und sagte mit gespielter Fröhlichkeit: »So, ein letztes Glas für alle, die noch wollen und können und dürfen, und dann schalten wir das Licht aus und fahren nach Hause.«
Auch Britt stand auf. Während Stefan hinter dem Tresen verschwand, warf sie Oliver einen kalten Blick zu und ging leicht schwankend zu dem antiken Sekretär aus Nussbaum, der neben der Feuerstelle stand. Obendrauf, neben einer nostalgisch anmutenden Tischleuchte mit grünem Glasschirm, stand die Sanduhr. Britt nahm sie in die Hand, betrachtete sie angestrengt und murmelte dann: »Du bist also die Zeit. Hallo Zeit, ich bin Britt. Endlich lernen wir uns mal persönlich kennen. Na ja, ich meine ... du kennst mich ja bereits persönlich und machst eine Menge unschöne Dinge mit mir, die ersten kleinen Fältchen bereits und später graue Haare und Hängemöpse und so, und ich frage mich immer: Wieso tust du das bloß? Was hast du gegen mich?« Sie drehte die Sanduhr um hundertachtzig Grad und stellte sie zurück.
In einem dünnen Strahl rieselte der Inhalt von dem oberen Gefäß in das untere. Britt sah der Sanduhr einen Augenblick lang zu, dann schloss sie die Augen. Obgleich ihr ein wenig schwindlig wurde, genoss sie die wohlige Wärme, die sie plötzlich erfasste. Sie fühlte sich geborgen. Es kam ihr vor, als nähme jemand sie in die Arme – jemand, dessen Umarmung sie beschützte und dessen zarte Küsse nach Ewigkeit schmeckten, jemand, der für sie die Welt anhielt. Britt glaubte, weinen zu müssen. Das alles musste an dem vielen Wein liegen, den sie getrunken hatte.
Stefan kam hinter dem Tresen hervor, in der Hand eine entkorkte Flasche. Er warf Britt einen kurzen Blick zu, ging weiter zum Tisch und schenkte die Gläser voll.
Britt öffnete die Augen. Sie sah die Sanduhr an, lächelte leicht und sagte leise: »Zeit, wollen wir ein kleines Spielchen spielen? Nur wir zwei, du und ich. Zeit gegen Mensch. Wir könnten zum Beispiel darum spielen, wer von uns beiden schneller ist.« Sie wog den Kopf. »Ich könnte dir deine Gemeinheiten heimzahlen, aber ... nein, das wäre unsportlich, du hättest keine Chance, denn jedes Mal, bevor dein ganzer Sand durchgelaufen ist, stelle ich dich nämlich einfach wieder auf den Kopf, und du musst von vorne beginnen.«
Keine zehn Schritte von ihr entfernt hob Denise ihr Glas und sagte: »Also, auf dich und dein Restaurant, Steff. Noch mal zu später Stunde: Alles, alles Gute, ich drücke dir fest die Daumen.«
Auch Oliver, Mirja und Stefan erhoben die Gläser. Von alldem bekam Britt nichts mit. Fasziniert starrte sie die Sanduhr an. »Gleich ist es soweit«, flüsterte sie vor sich hin. Sie wartete noch einige Sekunden, dann begann sie, leise zu zählen. »Zehn, neun, acht, sieben, sechs ... .« Sie zählte zu schnell und verlangsamte das Tempo. »Fünf. Und Vier. Drei, zwei, eins uuund ... null!« Kaum hatte sie es ausgesprochen, war das letzte Sandkorn in das untere Gefäß gerieselt.
Britt schmunzelte. »Weißt du, Zeit, ich hatte überlegt, dich vorher umzudrehen, kurz bevor du komplett durchgerieselt wärest. Weil ich dann wenigstens einmal die Nase vorn gehabt und gegen dich gewonnen hätte, denn normalerweise bist du es ja, der bestimmt. Du bist der schlimmste Diktator überhaupt, Zeit, ein erbarmungsloses Monster, das muss ich dir leider sagen, jetzt, da wir beide endlich mal unter uns sind.«
Britt zwinkerte der Sanduhr zu, dann drehte sie sich um und kehrte zum Tisch zurück. Sie fragte sich, weshalb sich ihre Beine plötzlich so weich anfühlten. Vermutlich hatte sie tatsächlich das ein oder andere Glas zu viel getrunken und es war wirklich an der Zeit, nach Hause zu fahren. Den letzten Schritt zum Stuhl schaffte sie gerade noch und als sie saß, fing alles um sie herum an, sich zu drehen. Erst langsam, dann immer schneller. Der letzte klare Gedanke, den Britt in ihrem Leben fasste, war ausgerechnet eine Erinnerung, eine Art Déjà-vu – sie als Vierzehnjährige in einem Freizeitpark, in einer der großen nachgebildeten Teetassen sitzend, die sich umso schneller um sich selbst drehen, je kräftiger das Rad in der Mitte gedreht wird. Britts Augen weiteten sich, ihr Mund öffnete und schloss sich wieder, ohne dass ein einziges Wort über die Lippen kam, und ihr Oberkörper bäumte sich noch einmal auf und fiel dann in sich zusammen, ganz so, als würden Tausende von Volt hindurch gejagt. Ihre Schultern sanken herab und Britt kippte zur Seite, aberwitzig langsam wie eine Marionette an ihren Fäden.
Alle sahen Britt beim Sterben zu, doch keiner war in der Lage zu reagieren, alle wurden wie von unsichtbaren Händen in die Stühle gedrückt. Britt schlug dumpf auf dem Boden auf und ihr Kopf machte ein zerbrechendes Geräusch. Sie blieb auf der Seite liegen und bewegte sich nicht mehr. Bleierne Stille erfüllte den Raum. Einen Moment lang waren alle wie erstarrt.
Stefan reagierte als Erster. Er sprang auf und schrie Britts Namen. Jetzt sprang auch Oliver auf. Mirja stand langsam auf, wie ferngesteuert. Sie war kalkweiß geworden. Oliver stieß Stefan zur Seite und war mit zwei großen Schritten bei Britt. Mit einer Hand umfasste er ihren Oberarm und riss sie hoch, die andere Hand schob er unter ihren Kopf – und zog sie mit einem hellen Schrei wieder zurück. Britts zerbrochener Unterkiefer fiel in Olivers Hand auseinander wie poröser Beton. Entsetzt zog er auch die andere Hand zurück und erneut schlug Britt dumpf auf dem Boden auf. Plötzlich wurde Oliver zurückgerissen. Damit hatte er nicht gerechnet. Er schlug gegen den Tisch. Ein heftiger Schmerz schoss in seinen Rücken und für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Dann sah er, dass Stefan neben Britt kniete und Oliver begriff, dass er es gewesen war, der ihn weggestoßen hatte.
Stefan schlug mit der flachen Hand in Britts Gesicht. Sie reagierte nicht. Er schlug erneut, diesmal kräftiger. Wieder nichts.
»Hör auf«, kreischte Oliver. »Ihr Kopf ist kaputt, er ist kaputt.«
»Scheiße, Britt, komm schon, Baby, na komm!« brüllte Stefan, dann drehte er sich zu Mirja um und rief: »Ruf den Notarzt, mach schon!«
Doch Mirja reagierte nicht. Sie starrte ihre Schwester an und war außerstande, irgendetwas zu tun.
Stefan fasste es nicht, dass Mirja nichts tat. »Los, verdammt, wir brauchen den Scheiß-Notarzt!«, brüllte er und seine Stimme überschlug sich.
Mirja reagierte nicht, sie war wie gelähmt. Denise saß zusammengesackt auf ihrem Stuhl, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte. Stefan sah zu Oliver, der auf dem Boden saß und Britt seltsam fasziniert anstarrte.
»Scheiße, wieso unternimmt niemand was?«, schrie Stefan. Er rappelte sich hoch und rannte hinter den Tresen, griff zum Telefon und tippte hektisch die Notrufnummer ein.
Mittlerweile hatte sich Mirja aus der unsichtbaren Umklammerung gelöst. Auf allen vieren kroch sie zu ihrer Schwester, und sie hatte das Gefühl, als schob sie sich durch eine enge, dunkle Röhre. Sie hörte Stefan irgendetwas ins Telefon rufen, kurze Sätze und einzelne Worte, doch was immer er auch sagte, es klang wie aus weiter Ferne.
»Britt«, presste sie mit dünner Stimme hervor. Sie strich ihrer Schwester sanft über die Stirn und sah sie aus verwunderten Augen an. »Hörst du mich?«
Britt starrte an ihr vorbei an die Decke. Ihr Blick war leer. Mirja nahm Britts schlaffe Hand und küsste sie.
»Ich hätte sie bald verlassen«, sagte Oliver tonlos. »Es ging nicht mehr. Sie war dabei, mein Leben zu zerstören. Ich hätte bald was unternommen. Aber ich habe ihr den Tod nicht gewünscht, nein, das habe ich nicht.«
Mirja begann zu weinen. Stefan kam hinter dem Tresen hervor, das Telefon hielt er noch immer in der Hand. Er zitterte am ganzen Körper, bückte sich und betrachtete Britt. Sie war tot, zweifellos. Ihr Gesicht war seltsam leer, ganz so, als fehlte etwas. Die Seele ist entwichen, dachte Stefan mit schmerzendem Staunen. Er überwand sich und schloss Britts Augen.
»Wieso ist sie auf diese hässliche Weise gestorben?«, sagte Oliver monoton und sah Mirja fragend an. »Sie hätte anders sterben können. Schöner, meine ich. War sie so voller giftiger Gedanken, dass dies die Quittung ist?«
Stefan spürte die Hitze in sich aufsteigen. »Sei still, Arschloch. Noch ein Wort von dir und es scheppert.«
»Wer weiß, wozu es gut ist«, sagte Oliver träge. »Vielleicht ist es so für alle Beteiligten das Beste, vor allem für mich.«
Stefan fuhr herum. Er war rasend zornig, aber nicht völlig unkontrolliert. Etwas in ihm rief ihm zu, dass dies die passende und vermutlich niemals wiederkehrende Gelegenheit war, es diesem verdammten Mistkerl ein für alle Mal zu zeigen, und Stefan verspürte ein großes Verlangen, zuzuschlagen.
»Sie war nicht mehr die Frau, die ich geheiratet hatte«, sagte Oliver vor sich hin. »Nichts an ihr war noch wie früher. Ein Schatten ihrer selbst, eine frustrierte Trinkerin, die ...«
Jetzt oder nie, befahl eine Stimme in Stefans Kopf, hau' dem Wichser ordentlich was aufs Maul!
»Scheiß Arschloch!«, zischte Stefan und schlug mit ganzer Wucht zu. Es ging zu schnell, als dass Oliver reagieren konnte. Das Telefon in Stefans Hand brach Olivers Jochbein und für einen Augenblick verschob sich Olivers gesamtes Gesicht. Und während dieses kurzen Momentes fühlte Stefan sich so gut wie schon lange nicht mehr.
♦
Mirja und Stefan waren in den frühen Morgenstunden zurück in ihre Wohnung gefahren. Nun saßen sie sich auf dem Sofa im Wohnzimmer gegenüber, an die Armlehnen gelehnt, und trugen noch immer die Kleidung der vergangenen Nacht. Sie hingen ihren Gedanken nach und redeten nur wenig.
»Es ist bereits nach neun Uhr», sagte Stefan schließlich. »Geh ins Bett und versuche, ein wenig zu schlafen.«
Sie sah ihn aus trüben Augen an. »Ich kann nicht«, sagte sie mit matter Stimme.
»Versuche es. Wenn du dich erst einmal hingelegt hast, schläfst du bestimmt ein.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann diese Bilder nicht vertreiben, sie sind immer da, ich bekomme sie einfach nicht weg. Es sah so furchtbar aus.« Mirja schlug die Hände aufs Gesicht und schluchzte.
Stefan wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte bereits alles mehrmals gesagt.
Sie sagte: »Papa tut mir so leid. Jetzt hat er nur noch mich. Hoffentlich übersteht er das.«
»Dein Vater ist ein zäher Bursche. Er wird es schaffen, wenn du ihm hilfst. Du musst die kommenden Wochen für ihn da sein.«
Sie nickte. Dann holte sie tief Luft und sagte: »Oliver wird Ärger machen. Es würde mich nicht wundern, wenn er dich wegen Körperverletzung oder was auch immer verklagt. Das hättest du nicht tun sollen.«
»Ich weiß, aber sein Gequatsche hat mich wahnsinnig gemacht.« Und ich wollte es verdammt noch mal tun, fügte er in Gedanken an.
»Oliver stand unter Schock. Er wusste nicht, was er sagt.«
»Oh, das bezweifle ich.«
Einen Moment lang schwiegen beide, dann sagte Stefan: »Mirja ..., ich weiß, dass die Vorstellung daran alles andere als schön ist, vor allem jetzt, aber ... sie werden deine Schwester obduzieren, um sicherzugehen, dass sie keinem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Sie werden ihren Körper öffnen und sich alles genau ansehen, auch den Inhalt ihres Magens, alles. Ihnen wird nichts entgehen.«
»Ich weiß«, sagte sie leise. »Sie wollen herausfinden, woran Britt gestorben ist.«
»Und sie werden es herausfinden. Was machen wir, wenn sie ... sagen wir mal ... eine Vergiftung hatte?«
»Was sagst du da?«
»Es ist nicht schön, es so kurz nach ihrem ... so unmittelbar danach ... es zum Thema zu machen. Aber wenn ... nur gesetzt den Fall, dass sie etwas gegessen hat, was nicht ganz in Ordnung war, dann haben wir ein Problem. Oder vielmehr, ich habe ein Problem.«
»Wie kommst du darauf? Sie hat nichts Verdorbenes gegessen, denn niemandem sonst ist etwas geschehen.«
»Als Britt kollabierte, waren keine Gäste mehr da. Wissen wir, was in den vergangenen fünf, sechs Stunden geschehen ist? Bei den Leuten zu Hause?« Er setzte sich aufrecht hin. »Mirja, wenn man im Körper deiner Schwester tatsächlich etwas findet, das irgendwie mit verdorbenen Lebensmitteln zu tun hat oder auf mangelnde Hygiene in der Küche hindeutet, dann macht das Amt mein Restaurant dicht.«
»Hör auf«, sagte sie matt.
»Wenn das passiert, dann war es das gewesen. Dann ist der Traum ausgeträumt, noch bevor er richtig begonnen hat.«
»Das ist doch dummes Zeug, was du da redest.«
»Spekulationen und Gerüchte reichen schon aus. Wenn das in die Presse kommt, wird es stürmisch für uns.«
»Mit den Lebensmitteln wird alles in Ordnung gewesen sein. Britt ist an etwas anderem gestorben, ganz sicher.«
»Sie werden deine Schwester ganz genau unter die Lupe nehmen, den plötzlichen Tod eines jungen Menschen haken die nicht so einfach ab wie den eines Achtzigjährigen.«
»Ruhe jetzt!«, schrie Mirja plötzlich. Sie stand auf, sah Stefan in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung an, und zischte: »Meine kleine Schwester ist vor wenigen Stunden vor meinen Augen gestorben. Weißt du, wie es ist, die eigene Schwester von einer Sekunde auf die andere sterben zu sehen? Es ist ... der blanke Horror, das Schlimmste, was ich bisher erleben musste. Und du kommst mir mit deiner ... bescheuerten Schwarzmalerei, deinen albernen Befürchtungen. Es ist nicht zu ertragen!«
»Aber wir dürfen doch die Augen nicht vor dem verschließen, was geschehen könnte.«
Sie schüttelte genervt den Kopf und sagte: »Mir reicht's! Ich lege mich hin, vielleicht kann ich ja doch schlafen.« Sie verließ den Raum.
Stefan sah ihr hinterher. Er konnte Mirjas Reaktion nachvollziehen, natürlich war das Ganze furchtbar für sie. Aber war es zu viel verlangt, dass sie bei aller Trauer auch von seinen Sorgen Notiz nahm? Schließlich steckte in diesem Haus, in seinem Restaurant, eine Menge Geld sowie viel Arbeit und Leidenschaft.
Eine halbe Stunde später war Stefan auf dem Weg in die Tiefgarage. Er hatte rasch geduscht und sich rasiert, nun fühlte er sich ein wenig besser. Bevor er die Wohnung verlassen hatte, hatte er noch kurz nach Mirja gesehen. Sie schlief, die Erschöpfung hatte über die Traurigkeit gesiegt.
Stefan startete den Wagen und fuhr aus der Garage.
Britt.
Gestorben.
Einfach so.
Nein, dachte er, nicht einfach so. Entweder hatte Britt Drogen genommen oder gefährliche Pillen geschluckt, was er sich allerdings nicht vorstellen konnte, oder sie hatte tatsächlich eine schwere Lebensmittelvergiftung gehabt. Und das wäre das Schlimmste, so sehr man es auch drehte. Britt durfte es egal sein, woran sie gestorben war, doch ihm war es alles andere als gleichgültig. Stefan fragte sich, ob seine Gedanke abartig waren. Doch es ging im Grunde um nichts anderes, als dass Britts Tod so wenig Schaden wie möglich anrichtete – so einfach war das.
Er schaltete das Radio ein, doch er hörte weder die Musik noch die Stimme des Moderators, nicht einmal von den Nachrichten bekam er etwas mit. Die Fahrt von der Wohnung zum Haus dauerte rund fünfzehn Minuten, doch Stefan hatte keinerlei Zeitgefühl. Er fuhr los und kam an, alles geschah automatisch und unbewusst. Er parkte vor dem Haus, stieg aus und lehnte sich an den Wagen. Mit geschlossenen Augen atmete er die warme Morgenluft ein und fragte sich, wann er das letzte Mal so intensiv die Stille und den Geruch eines jungen Tages aufgenommen hatte.
»Herr Timmer?«
Stefan wurde abrupt aus seinen Träumen gerissen. Er fuhr herum.
Eine junge Frau und ein älterer Mann standen nur einen Schritt von ihm entfernt, sie waren wie aus dem Nichts aufgetaucht.
»Müssen Sie mich so erschrecken?«, fuhr Stefan sie an.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte der Mann, erweckte allerdings nicht den Eindruck, als meinte er es auch so.
Stefan nickte und atmete durch. »Tut mir leid, dass ich Sie angefahren habe. Was kann ich für Sie tun?« Polizei, dachte er, sie haben noch ein paar Fragen.
»Das mit Ihrer Schwägerin ist schrecklich«, sagte der Mann. Er war unscheinbar, kein Gesicht, das sich einem sofort einprägt. »Es muss schlimm für die Familie sein. Hatte sich den Abend über bereits etwas angedeutet? Hat sie über Unwohlsein geklagt? Atemnot, vielleicht?«
»Nein, zumindest nicht mir und meiner Frau gegenüber.« Aus dem Augenwinkel sah Stefan, dass die Frau einen Schritt zurückgetreten war, halb hinter dem Mann stand und sich Notizen machte.
»Ihre Schwägerin ist vom Stuhl gekippt, und der eintreffende Notarzt konnte leider nur noch den Tod feststellen. War Ihnen klar, dass sie tot ist, noch bevor der Arzt eintraf?«
»Wie? Ja, das war mir klar gewesen.«
»Was dachten Sie, als Sie sie auf dem Boden liegen sahen und Ihnen bereits klar war, dass sie nicht mehr lebt? Was ging in Ihnen vor? Wie war die Stimmung im Raum? Waren alle gefasst oder hektisch? Beschreiben Sie es.«
Stefan sah den Mann einen Augenblick lang an. Der Mann hielt dem Blick stand. »Was sind das für Fragen?«, fragte Stefan dann. »Ich habe doch bereits alles gesagt. Wie es geschah und so.«
»Aber nicht mir«, sagte der Mann.
Plötzlich verstand Stefan. Verdammt, wie dämlich war er eigentlich? »Sie sind nicht von der Polizei«, sagte er.
»Das haben wir auch nie behauptet«, erwiderte der Mann.
»Sind Sie etwa von der Presse?«
Der Mann nickte und zog seinen Presseausweis aus der Brusttasche seines Hemdes. Er hielt ihn Stefan hin, doch Stefan sah nicht einmal drauf.
»Was soll der Scheiß?«, sagte Stefan verärgert. »Lassen Sie mich in Ruhe und machen Sie, dass Sie von hier wegkommen.« Er schloss den Wagen ab.
»Zeigen Sie uns die Stelle, wo sie lag«, sagte der Mann. Ihm war klar, dass er es sich bei Stefan verscherzt und nun nichts mehr zu verlieren hatte. »Ein Foto, wie Sie auf die Stelle deuten, wo Ihre Schwägerin lag. Das ist alles, was wir wollen, dann sind wir auch schon weg.«
»Verschwinden Sie«, zischte Stefan und ging an den beiden vorbei. Er musste sich beherrschen, den Mann nicht zur Seite zu stoßen.
»Wir bringen unsere kleine Story, Herr Timmer«, sagte der Mann gelassen. »Ihre Kooperationsbereitschaft macht den Unterschied, wie wir berichten. Nun, wie sieht's aus?«
»Vergessen Sie es!« Stefan drehte sich nicht einmal um.
»Sehr schade, wirklich. Uns hätte interessiert, ob Ihre Version der vergangenen Nacht deckungsgleich ist mit der des Ehemannes Ihrer verstorbenen Schwägerin. Sie haben den armen Kerl ja ganz schön übel zugerichtet. Er wird übrigens noch heute operiert, ihm soll eine Platte eingesetzt werden.«
»Lassen Sie mich in Ruhe«, rief Stefan.
»Machen wir. Kaufen Sie sich morgen unser Blatt.«
Stefan öffnete das Gartentor. Er hörte den Mann rufen: »Herr Timmer, Sekunde, Sie haben etwas verloren.«
Stefan drehte sich um. Im gleichen Augenblick fotografierte die Frau ihn. Der Mann sah ihn ausdruckslos an. Stefan spürte, wie die Wut in ihm hochstieg. Was war er bloß für ein verdammter Idiot. Nun hatten sie ihr Foto. Zwar nicht eines, auf dem Stefan die Stelle zeigte, doch zumindest eines, wo er vor dem Haus stand, am Tag danach, und verärgert in die Kamera schaute. Woher hatte die Frau auf einmal den Fotoapparat?
Stefan unterdrückte das Bedürfnis, noch einige deftige Worte zu sagen, und ging zum Haus. Er schloss die Haustür auf, trat ein und verschloss die Tür wieder. Er ging durch die Zwischentür und schaltete das Licht an. Wie nicht anders zu erwarten, sah es noch immer so aus wie vor einigen Stunden, als er nach Hause gefahren war, denn die Reinigungskräfte waren so früh noch nicht hier gewesen. Stefans Blick glitt zu dem Tisch, an dem sie gesessen hatten, als Britt starb. Er konnte nicht anders und ging hin, starrte auf den Fußboden, dorthin, wo Britt gelegen hatte. Er bückte sich und strich über das Parkett. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, doch der Fußboden fühlte sich nicht anders an als vorher. Stefan bekam eine Gänsehaut. Er erhob sich, öffnete ein Fenster, entriegelte die Fensterläden und sah nach draußen. Die beiden Journalisten waren nicht mehr zu sehen. Stefan ließ das Fenster offen stehen, ging hinter den Tresen und schaltete die Kaffeemaschine ein. Er hatte seit sechsundzwanzig Stunden nicht geschlafen, ein starker Espresso würde die Müdigkeit ein wenig vertreiben und den Kreislauf anschieben. Stefan bereitete alles für seinen Espresso vor, dann überließ er die Maschine ihrer Arbeit. Er stützte die Ellenbogen auf den Tresen und rieb sich das Gesicht und die Augen. Als das Schnarren der Maschine verriet, dass die kleine Espressotasse gefüllt war, öffnete Stefan die Augen wieder. Einen Augenblick lang sah er alles verschwommen. Er musste zweimal hinsehen, bis ihm klar war, dass seine Augen ihm keinen Streich spielten.
Das Mädchen. Es stand exakt auf der Stelle, auf der die tote Britt gelegen hatte.
Stefan und das Mädchen sahen einander an. Er war geradezu fasziniert von dem hübschen Gesicht des Mädchens, das den wilden, langen Locken umspielt wurde. Nicht, dass Kindergesichter ihn übermäßig interessierten, doch dieses Gesicht war das vielleicht vollkommenste Kindergesicht, das er jemals gesehen hatte. Auch jetzt trug sie das weiße Kleid.
»Hallo«, sagte er und empfand es selbst als albern. Er ging um den Tresen herum und trat auf die Kleine zu. Das Mädchen sagte nichts, sondern sah ihn einfach nur an. Stefan blickte zu dem offenen Fenster. Dort war sie hereingeklettert. Doch es ging nicht, dass die Kleine sich einfach Zutritt verschaffte, wann immer es ihr passte oder sie die Gelegenheit dazu hatte, da hatte Mirja vollkommen Recht.
Er sagte: »Na, verrätst du mir heute, wie du heißt? Zur Erinnerung: Ich bin Stefan.«
Das Mädchen schwieg.
Stefan seufzte, dann sagte er: »Pass mal auf, kleine Maus, es ist schade, dass du mir nicht sagst, wie du heißt, ich würde dich gerne mit deinem Namen ansprechen. Oder verstehst du meine Sprache nicht? Kommst du nicht von hier? Verstehst du kein Deutsch?«
Das Mädchen zeigte keine Reaktion.
»Do you speak English?«, fragte Stefan, und kam sich unglaublich dämlich vor.
Das Mädchen erwiderte nichts.
Vielleicht ist sie taub, dachte Stefan, doch dann sagte er sich, dass das Mädchen in diesem Fall längst eine Möglichkeit gefunden hätte, das mitzuteilen und ihm durch Gebärdensprache oder andere Zeichen verdeutlichen würde, dass es seine Stimme nicht hören konnte. Nein, dieses Mädchen verstand die deutsche Sprache nicht oder verweigerte aus irgendeinem Grund das Sprechen.
»Ich rede jetzt in der Hoffnung weiter, dass du mich verstehst«, sagte Stefan. »Hör zu: Meine Frau und ich haben dieses Haus gekauft, es gehört uns, und wie du siehst, haben wir es zu einem Restaurant umgebaut. Abends kommen Leute und essen hier und andere Leute arbeiten hier. Du kannst hier also nicht einfach reinkommen, wann immer es dir gefällt. Stell dir nur mal vor, ich würde einfach bei dir Zuhause reinkommen, ohne zuvor zu klingeln und mich in eurem Wohnzimmer aufs Sofa setzen. Was würden deine Eltern wohl dazu sagen?« Er sah das Mädchen an und wartete, dass es etwas sagte, doch das tat es nicht.
Es hat keinen Zweck, dachte Stefan, er kam einfach nicht an das Mädchen heran. Er sagte: »Also gut, ich möchte, dass du dir etwas merkst: Das nächste Mal, wenn ich dich hier drinnen erwische, bringe ich dich zur Polizei, und die sollen dann deinen Eltern erzählen, dass du einfach immer in das Haus anderer Leute eindringst. Ich hasse Petzen, aber wenn du meinst, du musst mich ärgern, bleibt mir wohl kaum etwas anderes übrig.« Er trat noch einen Schritt vor. »So, wenn du möchtest, bringe ich dich jetzt nach Hause. Ich werde deinen Eltern nichts sagen, erst beim nächsten Mal gibt es Ärger. Und das muss ja nicht sein, Ärger ist ziemlich doof, oder?« Er blies die Wangen auf, hob die Augenbrauen und schielte. Eigentlich hätte das Mädchen jetzt lachen oder zumindest lächeln müssen, doch das tat es nicht. Es tat nichts – außer ihn anzusehen.
Stefan wusste nicht mehr weiter. Er streckte die Hand aus, bot sie dem Mädchen an und sagte: »Zeig mir, wo du wohnst.«
Das Mädchen blickte auf Stefans Hand, dann wieder in sein Gesicht.
Es klingelte an der Haustür. Stefan schrak zusammen, dann sagte er: »Warte hier, Kleine, ich bin gleich zurück.«
Das Mädchen sagte nichts und mittlerweile wunderte sich Stefan nicht mehr darüber. Er ging zur Tür und schloss auf. Zwei Reporter eines privaten Radiosenders standen vor der Tür und baten Stefan um einen O-Ton. Stefan sagte höflich, dass er auf Anraten seines Anwalts vorerst nichts sagen könne, da die Ermittlungen noch liefen. Auf Bitte der Reporter wiederholte Stefan diesen Satz in das Mikrofon, und die beiden zogen einigermaßen zufrieden ab.
Stefan verschloss die Haustür wieder und kehrte in den Speisesaal zurück. Das Mädchen war fort.
»Kleine?«
Keine Antwort.
»Wo steckst du?«
Nichts.
»Bist du hier irgendwo?«
Stille.
Stefan bückte sich, um unter die Tische und Stühle zu sehen, doch er entdeckte das Mädchen nirgendwo. Das Fenster. Die Kleine hatte das Haus auf dem Weg verlassen, auf dem sie auch hereingekommen war. Stefan ging hin und sah hinaus. Das Mädchen war nicht zu sehen. Er sah nach unten, dachte, sie kauerte möglicherweise an der Hauswand, doch auch dort war sie nicht. Sie hatte sich ebenso plötzlich aus dem Staub gemacht wie sie zuvor aufgetaucht war.
Stefan schloss das Fenster. Er hatte klare Worte an das Mädchen gerichtet. Freundlich, doch bestimmt. Er war sicher, dass es verstanden hatte und nicht noch einmal wiederkommen würde.
♦
Mirjas Vater hatte seine erstklassigen Verbindungen spielen lassen und so lag das Obduktionsergebnis bereits am Abend vor. Britt war an Herzversagen gestorben. Als Stefan das hörte, schluckte er und atmete kräftig durch. Er versuchte herauszufinden, was das für ein eigenartiges Gefühl war, das in ihm hochstieg. Erleichterung war es nicht, Freude erst recht nicht. Befreiung – ja, vielleicht traf es das am besten, denn er fühlte sich tatsächlich wie aus einem festen Griff befreit.
Am folgenden Tag erschienen in zwei lokalen Tageszeitungen kurze Randnotizen über Britts Tod, auch in der Zeitung, deren Redakteure Stefan aufgelauert hatten, doch das Foto, das die Frau gemacht hatte, war nicht abgebildet. Das eindeutige Ergebnis der Obduktion bot keinen Raum für Sensationsberichte. Die Tochter eines stadtbekannten Rechtsanwaltes war am plötzlichen Herztod verstorben, und das ausgerechnet in dem Restaurant ihres Schwagers. Eine Familientragik, mehr nicht. Britts Akte wurde geschlossen.