Читать книгу Die Verspätung - Andreas Schindl - Страница 6

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Am frühen Nachmittag des achtzehnten August 1931 setzten bei Mizzi Schindl, geborene Reiter, die Wehen ein. Zunächst hatte sie gedacht, dass sie etwas Falsches gegessen hätte, denn bis zu dem vom Gemeindearzt berechneten Geburtstermin waren es noch gut drei Wochen hin. Daher schenkte sie dem wellenartig daherkommenden Stechen im Bauch wenig Beachtung. Erst als sie eine warme Flüssigkeit an ihren Oberschenkeln herabrinnen spürte, war ihr klar, dass sie die heutige Tagesschicht in der Strickwarenfabrik Honig nicht beenden würde können. Nachdem sie die Erlaubnis des Vorarbeiters eingeholt hatte, begleitete ihre Kollegin Rosa die junge Frau in ihre unweit des Fabrikgeländes gelegene Wohnung in der Bahnhofgasse. Im Souterrain des einstöckigen Gebäudes hauste Mizzi gemeinsam mit ihrem Mann, ihren Eltern und drei ihrer Geschwister in zwei Zimmern. Schon im Stiegenhaus roch es modrig. Stieg man die wenigen Stufen zu dem Gelass der Familie hinab, vermengte sich der Geruch nach feuchten Wänden mit den Ausdünstungen von Bett und Herd. Der Verputz warf Blasen, auf denen ein grünlicher Schimmelrasen blühte. Das Plumpsklosett im Hof teilten sich die Schindls und die Reiters mit den übrigen drei eingemieteten Familien sowie mit der Nachbarin Frau Katzenbeisser. Die Witwe gestattete Mizzi gelegentlich, auf ihrer Nähmaschine Kleider für sich und ihre Verwandten zu nähen.

Der Lärm, den die beiden Frauen beim Betreten der Wohnung verursachten, schreckte eine der in den feucht-finsteren Räumen auch tagsüber allgegenwärtigen Ratten auf. Ihr Quieken weckte den Ehemann der Schwangeren. Er war am Morgen von der Nachtschicht heimgekehrt und schlief in dem schmalen Bett, das hinter einem an der Wäscheleine befestigten Vorhang stand, der den Schlafbereich des Ehepaars vom Rest des Zimmers abtrennte. Franz Schindl war Schlossergehilfe in der Eisert-Fabrik, die Blechdosen, Feuerzeuge und Zigarettenetuis herstellte. Dafür, dass er in einer der drei großen Fabriken im Ort untergekommen war, hatte Schindls Vater Heinrich, genannt Dschingis Khan, gesorgt. Der Sattlermeister arbeitete schon seit vielen Jahren im Betrieb des Metallwarenfabrikanten. Genau genommen war Heinrich Schindl selbstständig. Seine vordringlichste Aufgabe für das Werk bestand darin, defekte Transmissionsriemen zu reparieren, die für den reibungslosen Fortgang der Produktion unerlässlich waren. Bei einer dieser Reparaturen war er vor Jahren mit der Hand in eine Presse geraten. Dabei war der Ringfinger so stark gequetscht worden, dass zuerst der Ehering mit einem Seitenschneider entfernt und dann das Endglied amputiert werden musste. Da die Tätigkeit Heinrichs von großer Bedeutung war, hatte die Direktion diesem wichtigen Mann eine eigene Werkstatt eingerichtet und ihm gestattet, dort auch Arbeiten für andere Kunden zu erledigen. Das dritte Mitglied der kinderreichen Familie Schindl, das in der Eisert-Fabrik arbeitete, war Heinrichs Bruder Ernst, ein gelernter Schlosser.

Mizzi, was ist denn los?

Franz, im täglichen Leben von verantwortungsvoller Verlässlichkeit und pedantischer Pünktlichkeit, war in emotionalen Ausnahmesituationen leicht aus der Fassung zu bringen und dann rasch überfordert.

Na, was wird schon los sein, wenn sie in ihrem Zustand mitten in der Schicht heimkommt, Franz? Das Kind ist unterwegs! Mizzis Mutter war gerade vom Markt zurückgekehrt. In der Linken hielt sie den Einkaufskorb, ihren jüngsten Sohn trug sie am rechten Arm, die kleine Milla hing an ihrem Rockzipfel. Lauf hinüber zur Hebamme, Franz, und sag ihr, dass ich sie brauch! Es dauert nimmer lang.

Kommst du allein zurecht, Mizzi?, fragte Rosa. Ich sollt zurück ans Bandl.

Ja, es wird schon gehen. Danke, dass du mich nach Haus gebracht hast. Und du, Franz, steh nicht faul herum. Hol endlich die Hebamme!

Der werdende Vater zog seine Jacke über das Nachthemd, fuhr in Hose und Schuhe und sah zu, dass er fortkam.

Als die Werkssirene wenige Stunden später das Ende der Tagesschicht in den Sommerabend brüllte, übertönte sie den ersten Schrei des Neugeborenen. Der Bub, der, wie sein Großvater fortan immer betonte, am gleichen Tag Geburtstag feierte wie der alte Kaiser, war kräftig; seine Haare waren dunkelblond, die Augen braun. Sobald das Kind gewaschen worden war, wurde es in eine der blütenweißen Leinenwindeln gewickelt und auf den bretthart gestärkten Stillpolster gebettet, der Teil der zwar nicht umfangreichen, doch qualitätsvollen Aussteuer der jungen Mutter gewesen war. Denn obwohl Mizzi, Tochter des Inwohners Ludwig Reiter und seiner Frau Maria aus Eberweis, insgesamt dreizehn Geschwister hatte, brachte sie – so wie alle ihre älteren Schwestern auch – als Mitgift einen Korb voll bestickter Leinenwäsche und hochfloriger Frotteetücher in die Ehe mit. Eine Ehe, die ihr Zustandekommen am vierten Juli 1931 zwei Tatsachen verdankte: der nach einer leidenschaftlichen Liebesnacht im Anschluss an eine Krampusfeier eingetretenen Schwangerschaft der Minderjährigen sowie ihrem granitenen Sturschädel, dank dessen sie nicht nur den Gang zur Engelmacherin verweigert, sondern auch den werdenden Vater von seiner Verantwortung überzeugt hatte. Es war ein harter Kampf gewesen. Unterstützt von seinen Eltern hatte der liebestoll-leichtsinnige Franz immer neue Gründe gegen die Vollendung der Schwangerschaft oder die Heirat ins Treffen geführt: die eigene und die Jugend der Schwangeren, die es erfordern würde, dass er nicht nur ihr Ehemann, sondern auch ihr Vormund werden müsste; die tristen wirtschaftlichen Aussichten des Landes im Allgemeinen und ihrer beider Familien im Speziellen, die unsichere politische Lage und schließlich das Gerede, das es geben werde. An diesem Punkt hatte Mizzi angesetzt: Der Tratsch und die Verunglimpfungen würden um ein Vielfaches schlimmer sein, würde bekannt werden, dass er sie mit einem dicken Bauch entweder sitzen gelassen oder den Gefahren einer Abtreibung ausgesetzt hätte. Dieses Argument hatte schließlich den Ausschlag gegeben.

Eine Woche nach der Geburt wurde der Stammhalter der Familie in der Pfarrkirche von Heidenreichstein auf den Namen Franz Heinrich getauft; gerufen wurde der Bub zwecks Unterscheidung von seinem Vater aber Franzi. Und weil man anlässlich der Taufe schon einmal den Sonntagsstaat angelegt hatte, begab sich das Ehepaar anschließend in das am Hauptplatz neben dem mittelalterlichen Pranger gelegene Atelier des Fotografen Emil Pigal.

In seinem Geschäft hatten sich rund dreißig Jahre zuvor schon die Eltern des frischgebackenen Familienvaters an ihrem Hochzeitstag für die emaillierten Medaillons porträtieren lassen, die dereinst ihren Grabstein schmücken sollten und die in Seidenpapier eingeschlagen zwischen der Wäsche darauf warteten, ihre Bestimmung zu erfüllen. Heinrich Schindl, dessen Oberlippe zu diesem Zeitpunkt ein noch eher schütteres Bärtchen geziert hatte, hatte das an den Schläfen und im Nacken kurz geschorene und pomadisierte Haar akkurat gescheitelt. Er trug ein Hemd mit Vatermörderkragen, dazu einen schwarzen Selbstbinder und einen schmal geschnittenen doppelreihigen Rock. Seine Frau hatte das dunkle Haar streng nach hinten gekämmt und zu einem Knoten gebunden. Ein paar kunstvoll gedrehte Locken fielen ihr in die Stirn, die fast schwarzen Augen blickten unter dichten Brauen melancholisch am Fotografen vorbei. Bekleidet war sie mit einem hochgeschlossenen schwarzen Kleid mit Samtbesatz und Puffärmeln, an dessen Stehkragen kleine Stickereien den einzigen Schmuck darstellten.

Ungleich bequemer war die Garderobe der jungen Generation: Franz Schindl trug ein weißes Hemd mit weichem Umlegekragen, die schmale, dezent grau-braun gemusterte Krawatte passte gut zur Nadelstreifhose und zum salopp geschnittenen Sakko. Das schwarze Kleid seiner Frau zeichnete sich durch einen dem aktuellen Modegeschmack entsprechenden geraden Schnitt aus. Vorn wies es unzählige kleine stoffüberzogene Knöpfe auf, zum Hals hin schloss es mit einem weißen, gehäkelten Spitzenkragen um den Rundausschnitt ab. Mizzis halblange Haare lagen in sanften Wellen am Kopf und verdeckten die großen Ohren nur zum Teil.

Nach einer halben Stunde waren die Bilder im Kasten.

In ein paar Tagen seien die Abzüge zur Abholung bereit, so der Fotograf: Wünsche noch einen guten Tag und beehren Sie uns bald wieder, meine Herrschaften.

Zu Hause angekommen, wurde das Kind der Obhut der Großmutter übergeben. Mizzi legte das gute Kleid und die feinen Strümpfe ab und schlüpfte in eines ihrer zwei Alltagskleider. Anderntags fand sie sich, von der Entbindung und der Taufe noch etwas geschwächt, pünktlich zum Beginn der Frühschicht im Werk ein.

Glaubst du wirklich, dass ich sofort wieder eine Arbeit für dich habe, nachdem du eine ganze Woche auf der faulen Haut gelegen bist?, antwortete ihr der Vorarbeiter auf ihre Bitte um Wiedereinstellung.

Ich bitt Sie recht schön, geben Sie mir wieder Arbeit, Herr Gisy, ich brauch doch jetzt das Geld noch viel nötiger als früher.

Erst vierzehn Tage später durfte Mizzi wieder zurück ans Fließband.


Die Verspätung

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