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Du wirst dich entscheiden müssen, Franz, sagte Ernst Schindl eines Abends Ende 1933 zu seinem Bruder. Nach dem Nachtmahl waren die beiden in eine heftige Diskussion über die politische Lage geraten: Ideologie oder Arbeit?

Lieber geh ich wieder stempeln, bevor ich zu den Braunen überlaufe. Ich hab mich bis jetzt geweigert, vor den Schwarzen zu Kreuze zu kriechen, da werd ich erst recht nicht bei den Nazis mitmachen. Das sind gemeine Verbrecher, die selbst vor Gewalt nicht zurückschrecken. Erinnere dich nur daran, wie die Braunhemden letzten Sommer in Krems ein paar Handgranaten mitten in eine Turnerriege geworfen haben.

Gut, da sind ein paar Hitzköpfe zu weit gegangen. Aber das sind halt so Einzelfälle, das kann man nicht verallgemeinern. Irgendwie müssen sie sich doch dagegen wehren, dass der Dollfuß ihren Aufstieg um jeden Preis verhindern will. Und sei es dadurch, dass er kurzerhand die Wahlen absagt. Es passt ihm halt nicht, dass die Nazis immer mehr Zulauf haben. Was im Übrigen kein Wunder ist. Sie geben den Leuten halt nicht nur Arbeit, sondern bieten ihnen auch allerhand Vergünstigungen und Belustigungen. Vor Kurzem hab ich in der Zeitung gelesen, dass sie in Deutschland dafür sogar eine eigene Organisation gegründet haben: KdF – Kraft durch Freude. Wer dort dabei ist, kann sogar ans Meer auf Urlaub fahren. Überleg’s dir noch einmal, Franz. Man muss sich anpassen, man muss mit der Zeit gehen!

Mit der Zeit gehen? Dass ich nicht lache! Wenn ich seit meiner Geburt immer mit der Zeit gegangen wäre, dann hätte ich zuerst Monarchist, später Christlichsozialer und zuletzt Hahnenschwanzler sein müssen. Hast du eigentlich schon einmal darüber nachgedacht, woher die Nazis das ganze Geld für diesen KdF-Spaß nehmen wollen? Ich meine, jetzt einmal abgesehen von der 1000-Mark-Sperre, die unser Land zugrunde richten soll. Deutschland ist genauso pleite wie wir. Ich bleib dabei, die Nazis streuen den Menschen nur Sand in die Augen, um von den echten Problemen abzulenken. Brot und Spiele, sag ich nur. In Wirklichkeit arbeiten sie schon auf den nächsten Krieg hin. Denn nur so können sie das Geld für all das aufbringen, was sie jetzt ihren Leuten schenken.

Aber geh, was du immer redest. Bevor die Deutschen wieder einen Krieg anfangen, kracht es eher noch bei uns. Denk an Schattendorf.

Am Abend des zwölften Februar 1934 herrschte auf dem Hof der Eisert-Fabrik eine ungewöhnliche Unruhe, wie Franz gleich beim Verlassen der Werkshalle bemerkte. Irgendetwas stimmte nicht in dem vertrauten Bild. Während die Arbeiter beim abendlichen Schichtwechsel sonst eher maulfaul waren und diejenigen von ihnen, die müde nach Hause gingen, jenen, die oft nicht minder müde ihre Schicht begannen, meist nur stumm zunickten, im besten Fall mit ihnen ein paar kurze knorrige Sätze wechselten, summte es an diesem Tag trotz der klirrenden Kälte auf dem Werksgelände wie auf einer Sommerwiese. Die Männer und Frauen standen in schwarzen Schwärmen beisammen, die Köpfe dicht an dicht und umwölkt vom Dampf, der aus ihren Nasen strömte und aus ihren Mündern quoll. Als Franz näher kam, hörte er, dass von Verhaftungen geflüstert, von Widerstand gesprochen wurde. Worte wie Polizeiaufgebot, Bürgerkrieg, Bundesheer und Kanonen waren zu vernehmen. Die Leute der nun beginnenden Nachtschicht versorgten Franz und seine Kollegen aufgeregt mit den Neuigkeiten des Tages: Die im Laufe des Vormittags zunächst als Gerüchte geltenden Meldungen, wonach es in Linz bei einer Hausdurchsuchung des Schutzbundheimes durch die Polizei zu bewaffnetem Widerstand der Genossen und schließlich zur Eroberung des Vereinslokals durch das Bundesheer gekommen sei, hätten sich bewahrheitet, hieß es. Der Kampf habe zwar auf weitere Städte in Oberösterreich übergegriffen, der gegen Mittag durch die Parteileitung in Wien ausgerufene Generalstreik sei aber weitgehend folgenlos geblieben. Angeblich habe die Dollfuß-Regierung das Standrecht verhängt, die meisten Schutzbundführer seien verhaftet und abgeführt worden.

Wenngleich Franz nicht nur Solidarität, sondern auch Mitgefühl mit den verhafteten, verwundeten und getöteten Genossen empfand, bestätigte die Niederschlagung des Aufstandes seine innere Überzeugung, derzufolge man sich gegen eine herrschende Ordnung schlichtweg nicht erfolgreich auflehnen konnte. Der Bauer blieb immer ein Untertan, der Arbeiter immer ein Ausgebeuteter. Da war es gleich, ob man Kopf und Knie vor dem Grafen, dem Bankier oder dem Fabrikanten beugen musste: Die Summe der Demütigungen blieb konstant. Und wollte man sich und die Seinen halbwegs unbeschadet durchs Leben bringen, konnte dies nur dank pünktlicher Pflichterfüllung, verantwortungsvoller Tüchtigkeit und unermüdlichem Fleiß geschehen. Ablenkungen jeder Art, sei es Trunksucht, sei es Kartenspiel oder Revolution, standen der Erreichung eines solchen, wenngleich auch bescheidenen Lebensziels entgegen. Eine fest gefügte Ordnung war das halbe Leben, anspruchslose Anständigkeit war der Rest. Den Ruf Wacht auf, Verdammte dieser Erde! hatte Franz nie auf sich bezogen.

Auch in Heidenreichstein hatte es an diesem Tag einen Zwischenfall gegeben, berichteten die zur Schicht antretenden Kollegen. Die Hahnenschwanzler wollten gegen Mittag ihre Waffen aus dem Kellerdepot in der Schule holen, um für allenfalls aufflammende Kämpfe mit den Schutzbündlern gerüstet zu sein. Zwar waren den Arbeitern in den letzten Wochen die meisten Gewehre bereits abgenommen worden und zu einem Aufstand der Sozis war es bislang auch nicht gekommen, aber man konnte ja nie wissen. Womit die Heimwehr-Leute allerdings nicht gerechnet hatten, war, dass sowohl der Schulwart Hans Bachlechner als auch die Männer der Freiwilligen Feuerwehr als gestandene Sozialisten die Öffnung des Waffendepots zu verhindern wussten. Bachlechner erklärte, er hätte den Schlüssel zur Kellertür „verloren“. Daher musste ein Schlosser aufgetrieben werden. In der Zwischenzeit begann die Feuerwehr, Wasser in den Keller zu pumpen, sodass dieser bei der Rückkehr der Heimwehr mit dem Schlosser bereits unter Wasser stand und die Waffen daher unbrauchbar waren. Bei dem Gedanken an die dummen Gesichter der Hahnenschwanzler musste Franz lachen.

Auf dem Heimweg begegnete er seinem ehemaligen Schulkollegen Ferdi Hofmann. Dieser steckte in einer viel zu weit geschnittenen Heimwehr-Uniform und hatte ein Gewehr geschultert. Franz hielt ihn an und erkundigte sich, wohin er denn in diesem Aufzug unterwegs sei. Ferdi antwortete, dass er zu einer Patrouille durch den Ort abkommandiert worden sei. Da aber die Karabiner aus dem Depot nicht einsatzfähig seien, habe er sich die Jagdflinte seines Vaters ausgeliehen, um sich nötigenfalls gegen aufständische Arbeiter verteidigen zu können. Als Franz das hörte, verabreichte er dem jüngeren Freund ohne jede Vorwarnung ein paar jener Ohrfeigen, mit deren Hilfe er die gewohnte Ordnung, die er neben der Ruhe zu den grundlegenden Bürgerpflichten zählte, wiederherzustellen pflegte. Dann nahm er dem völlig Verdutzten das Gewehr ab und schickte ihn mit den Worten nach Hause: Sei nicht so deppert, Ferdi. Es gibt keinen Aufstand. Der ist niedergeschlagen worden. Die einzige Gefahr hier besteht darin, dass du dich oder andere mit deinem Schießprügel verletzt. Geh lieber heim!

Das Gewehr warf Franz ins Teichtl neben der Straße.


Die Verspätung

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