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Kapitel 1: Kindersorgen
ОглавлениеHoffnung
Roman
Andreas Schwedt
Impressum
Text: Copyright © 2017 by Andreas Schwedt.
Verweise im Text siehe letzte Seite.
Umschlag: Copyright © by Andreas Schwedt.
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Auch als Printversion überall im Buchhandel erhältlich.
Für meine Frau Anja
Wenn Burgunder damals schon da gewesen wäre, hätte das wahrscheinlich ein wenig geholfen. Vielleicht hätte sie ihre Tränen einfach hinunterschlucken können und sich an Burgunder kuscheln können, während diese sie fest umschlossen in ihren kräftigen Armen gehalten hätte.
Aber damals gab es keine Burgunder, sie war ganz mit sich und der Verunsicherung, dem Entsetzen, allein. Und ihre Tränen konnte sie nicht hinunterschlucken, sondern sie liefen ihr wie Wasserfälle aus den Augen, mit denen sie deswegen ihre Mutter kaum noch erkennen konnte.
Sie saß stumm da vor ihrer Mutter am Küchentisch und war handlungsunfähig. Sie wollte gerne verstehen was hier vor sich ging – so gerne verstehen, doch sie verstand es einfach nicht. Genauso wenig wie sie vor etwa einer halben Stunde verstanden hatte, was gerade passierte.
Als ihr Vater in das Wohnzimmer gekommen war und langsam zu ihrer bedrückten Mutter hinüber schlurfte. Sie sah, dass er einen großen, braunen Koffer mit der rechten Hand trug.
Schon als er den Raum betreten hatte, sprang ihre Mutter wie von der Tarantel gestochen auf. Es schien ihr, als sei es die Unruhe, die sie schon den ganzen Tag bei ihr bemerkt hatte, die sich nun in diesem unglaublich hektischen Aufspringen entlud. Schon den ganzen Tag hatte sie darüber gegrübelt, warum ihre Mutter wohl heute so angespannt und dennoch voller Unruhe war. Es schien eine Anspannung zu sein, die nur darauf wartete entfesselt zu werden. Und genau das passierte, als ihr Vater, den sie bis jetzt den ganzen Tag noch gar nicht gesehen hatte, den Raum betrat.
Mutter stand da und sie sah, wie ganz, ganz langsam eine Träne über die linke Wange ihrer Mutter rollte. Noch nie hatte sie ihre Mutter weinen gesehen, und als es jetzt so weit war, krampfte sich ihr Magen zusammen. Sie spürte instinktiv, dass dies eine sehr kritische Situation war. Kritisch warum auch immer, denn sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum ihre Mutter so angespannt war und es schien, als habe sie gerade diesen Augenblick aufs Äußerste gespannt erwartet.
Ihr Vater durchquerte den Raum. Sie versuchte aus seinem Gesicht etwas ablesen zu können. Etwas entschlüsseln zu können, was ihr die ganze Situation hier hätte erklären können. Doch sein Gesicht verriet nichts und alles. Es schien ihr, als wolle und könne er nicht, als täte ihm etwas furchtbar leid, doch könne er nichts daran ändern. Als würde er etwas verlieren und doch etwas gewinnen. Sein Blick war geradeaus auf Mutters Gesicht gerichtet. Irgendwie schien es, als müsse er sich anstrengen, ihr in die Augen zu blicken.
Mutter stand da und erwartete ihn. Ihr Gesicht sprach Bände und das nicht nur wegen der Träne – es war pure Verzweiflung die ihr ins Gesicht geschrieben stand, als wolle sie etwas mit aller Macht festhalten und könne es nicht. Sie erwartete stumm, dass er bei ihr ankam, still trauernd, warum auch immer.
Als ihr Vater dann endlich bei ihrer Mutter ankam, blieb er vor ihr stehen und stellte den Koffer ab. Dann wandte er den Blick nur ein klein wenig nach rechts, weg von ihr, hin zu Melanie. Sie saß schließlich direkt neben ihrer stehenden Mutter auf der Couch.
Vater machte einen Schritt nach rechts und beugte sich zu ihr hinunter. Sie sah seine müden, schweren Augen. Aus ihnen konnte sie absolut nicht deuten, was diese ganze Situation bedeuten sollte, geschweige denn, was er ihr wohl gleich sagen würde.
Sie liebte ihren Vater, seine tiefe, ruhige Stimme, die schon so oft zu ihr gesprochen hatte. Ihr Vater, der mit ihr oft im Garten gespielt hatte, wenn er die Zeit dazu gefunden hatte. Sie hatte es stets genossen mit ihm ihre Spiele zu spielen, mit ihm herumzutollen und Hoppe-hoppe-Reiter zu spielen. Ja sie hatte es einfach genossen, wenn sie in seiner Nähe war. Sie liebte ihn über alles. Doch nun, als er sich zu ihr herunterbeugte, mit diesen undurchdringlichen Augen, aus denen sie nicht schlau werden wollte, hatte die ganze Situation etwas Beklemmendes an sich. Sie erwartete, dass dies alles kein gutes Ende nehmen würde, konnte sich aber nicht vorstellen, worin das Ende von diesem allen bestehen sollte.
Sie verstand die ganze Situation auch dann noch nicht, als er langsam seine rechte Hand auf ihre linke Wange legte und sie bemerkte, wie sich nun auch bei ihm eine Träne ihren Weg aus seinem rechten Auge zu seiner Wange bahnte und er zu ihr genau drei Sätze flüsterte: „Auf Wiedersehen, Mel. Ich muss gehen. Mach’s gut mein Kind!“
Und da saß sie dann, die kleine Melanie Degenhardt, und sah, wie ihr Vater sich wieder aufrichtete, und sich erneut ihrer stummen Mutter zuwandte.
„Dann bin ich mal weg“, sagte ihr Vater. „Es ist am besten so“.
Mutter stand nach wie vor schweigend da. Was sich verändert hatte, war, dass aus der einen Träne ein Dutzend Tränen geworden waren. Stumm liefen sie ihr übers Gesicht.
Ohne Mutter zu berühren oder gar zu küssen, wie Melanie es früher beobachtet hatte, senkte ihr Vater den Kopf, griff nach seinem Koffer, hob ihn an, wandte sich um und ging, zügiger als er hereingekommen war, aus dem Raum. Nur Sekunden später fiel die Wohnungstür ins Schloss.
Und Mutter stand da. Eine Minute, dann zwei, drei – Melanie kam es vor, als stünde sie eine ganze Stunde da, auch wenn es sicher nicht so war. Tränen liefen ihr in einem Strom über die Wangen, ihr Gesicht verriet Schmerz. Und Melanie fragte sich, wohin ihr Vater gegangen war. Doch weil sie selber die Unbehaglichkeit der Situation spürte, spürte dass hier irgendetwas Schlimmes vor sich ging, wagte sie nicht, ihre Mutter zu fragen, was das war. Und so weinte sie die Ströme der Tränen ihrer Mutter mit.
Irgendwann, als die Tränen versiegt waren, ganz langsam, setzte sich ihre Mutter hin, direkt neben sie auf die Couch. Den Kopf gesenkt, weinte sie noch immer tränenlos. Da endlich hielt es Melanie nicht mehr aus. Sie umfasste mit ihrem rechten Arm die Schultern ihrer Mutter. Auch wenn sie mit ihren zehn Jahren noch gar nicht erwachsen war, gelang ihr das irgendwie, denn ihre Mutter war recht schmal gebaut.
Und als sich ihre kleinen Finger in die die rechte Schulter ihrer Mutter bohrten, bemerkte sie, dass diese sich augenblicklich versteifte. Sie bemühte sich, ihre Tochter nicht in diese Traurigkeit hineinzuziehen, wenn es dafür natürlich viel zu spät war, denn Melanie hatte zwar die Situation nicht begriffen, sehr wohl aber, dass ihre Mutter in eine tiefe Traurigkeit versunken war und sie darum hatte einfach weinen müssen.
Sie verstärkte den Griff um Mutters Schulter, um ihr ihren Trost zu spenden. Sie sah sie an und diese drehte ganz langsam ihren Kopf zu ihr.
Melanie sah, wie sie gequält lächelte, es zumindest versuchte, auch wenn es faktisch unmöglich war, weil sie mit ihrer Traurigkeit weder Ein noch Aus wusste. Aber Melanie begriff, dass Mutter alle Kraft aufbringen wollte um ihr zu zeigen, dass sie ihre Mutter war - und eine gute Mutter war, weil sie ihre Sorgen nicht zu denen ihrer Tochter machen wollte. Doch genau deshalb wollte sie, dass ihre Mutter ihre Sorgen mit ihr teilte: Sie konnte nicht zulassen, dass sie ihre Sorgen mit sich alleine ausmachte. Dafür war sie einfach eine viel zu gute Mutter, als dass sie ganz alleine mit sich kämpfen musste.
„Warum bist du denn traurig, Mama?“, frage Melanie nach einer ihrer Meinung nach gefühlten Ewigkeit, in der Mutter kein Wort sagte. Noch während sie das fragte, schoss ihr die nächste Frage durch den Kopf, die sie sofort loswerden musste, weil sie ahnte, dass sie der Schlüssel für ihre erhoffte, aufschlussreiche Antwort sein würde. Und noch bevor Mutter irgendetwas antworten konnte, sprudelte es aus ihr heraus: „Wann kommt Vater denn wieder?“. Und obwohl sie noch ein Kind war, ahnte sie schon die Antwort, denn die ihr vorgeführte Situation lieferte sie ihr.
„Ich weiß es nicht“, sagte Mutter endlich, womit sie auch Melanies zuerst gestellte Frage beantwortet hatte.
Ganz ängstlich schaute sie ihrer Mutter noch tiefer in die Augen, als wie sie es die ganze Zeit schon getan hatte und sehr vorsichtig sagte sie: „Ich bin ja auch noch da. Und ich bleibe auch da!“
Diese Worte ließen bei ihrer Mutter nun endlich alle Dämme brechen: Sie weinte laut und bitterlich und umfasste die kleine Melanie mit beiden Armen. Ihr Gesicht ruhte hinter ihrer Schulter und schon nach wenigen Sekunden spürte Melanie, dass die Tränen ihr hübsches Kleid durchweichten. Aber das war ihr egal.
Sie verstand noch nicht viel von Beziehungen und der Liebe. Sie wusste nur, dass sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater sie lieb hatten. Und deswegen konnte sie auch nicht verstehen, dass ihr Vater einfach ging ohne zu sagen, wie lange er weg bleiben würde und es nicht einmal ihre Mutter wusste.
Der schlimme Gedanke, der ihr schon durch den Kopf schoss, als ihre Mutter sich an ihrer Schulter ausweinte, war, dass er vielleicht nie wieder zurückkommen würde.
Aber warum war er gegangen? Diese Frage konnte sie sich nun am Ende dieses Tages nicht selber beantworten, auch brachte sie den Mut nicht auf, noch heute ihre Mutter danach zu fragen.
An diesem Abend weinte sie sich in den Schlaf, tonlos, damit sie ihre Mutter nicht in noch größere Traurigkeit stürzen konnte...
Am nächsten Tag kam ihre Mutter selber auf sie zu. Direkt nach dem Aufstehen nahm sie in der Küche Melanies Hand und sagte: „Setz dich, Liebes!“
Melanie setzte sich auf die Eckbank am Esstisch und hörte, was ihre Mutter ihr zu sagen hatte.
„Melanie“, begann sie, „ich weiß, dass es sehr schwer für dich ist zu verstehen, aber dein Vater hat mir gestern Vormittag gestanden, dass er eine Frau, die bei ihm in der Firma arbeitet, auch sehr nett findet und sich entschlossen hat, jetzt erst einmal bei ihr zu wohnen.“
Melanie schluckte, denn verstehen konnte sie das wirklich nicht. Sie kannte nur ihren Papa und ihre Mama und die gehörten schon zusammen, bevor sie auf der Welt war.
Ja, sie war zehn Jahre und hatte sehr wohl schon mitbekommen, dass Erwachsene sich trennten, weil sie eine andere Person netter fanden als ihre Frau oder ihren Mann. Aber dass das so bei ihrem Vater war, konnte sie sich absolut nicht vorstellen. Ihr Papa hatte ihre Mama doch auch immer morgens auf den Mund geküsst bevor er zur Arbeit ging. Schon Kleinkinder wussten, dass das unter Erwachsenen ein ganz großer Beweis der Zuneigung war. Erst vorgestern hatte sie es wieder bei ihren Eltern beobachtet, wie konnte die Zuneigung ihres Papas für ihre Mama gestern verschwunden sein? Oder fand er neben Mama die andere Frau auch so nett? Aber andererseits musste er als Mamas Mann doch wissen, dass sie das traurig machen würde, oder?
Diese Gedanken schossen ihr in Sekundenbruchteilen alle durch den Kopf, nachdem ihre Mutter die Worte gesagt hatte, die sie wie ein Stich ins Herz trafen.
„Und wann wird er wiederkommen?“, fragte sie langsam das Gleiche wie gestern. Als hätte sich das Wissen ihrer Mutter seit gestern Abend geändert.
„Das weiß ich nicht, mein Kleines“, wiederholte sie ihre gestrige Antwort mit brüchiger Stimme. „Es sieht so aus, als sind wir jetzt erst einmal auf uns alleine gestellt.“
Und auch an diesem Tag sagte Mutter dann nicht mehr viel und Melanie fragte auch nichts mehr. Die Fakten lagen auf dem Tisch: Ihr Vater war weg und sie war mit ihrer Mutter alleine. Ob und wann er wiederkommen würde, konnte diese nicht sagen. Und so machten Melanie und ihre Mutter am ersten Tag ohne den Vater deprimierte Gesichter und vermieden es, viel zu reden.
Tage wie den ersten Tag ohne ihren Vater wiederholten sich für Melanies Horizont in die Unendlichkeit. Die Zeit verging. Sie und ihre Mutter waren bedrückt. Sie, weil ihr Vater weg war, ihre Mutter, vermutete Melanie, weil sie ihn immer noch mochte und gerne wieder hier bei sich haben würde.
Es war kalt und nass gewesen, an jenem Tag, als ihr Vater sie beide verlassen hatte. Nun, nach einer gefühlten Unendlichkeit bohrten sich die ersten Sonnenstrahlen durch die dicken Wolken, aber man konnte schon sehr deutlich spüren, dass es Frühling war und der Sommer auch nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.
Melanie wusste, dass ihre Mutter es sehr bedauerte, dass sie mit ihrem Vater nicht mehr wie früher herumtollen konnte und sie ihn einfach nicht mehr um sich hatte. Mit ihren zehn Jahren wusste sie sehr wohl, dass ihr Vater in der sogenannten Wirtschaft tätig war und sogenannte Anteile an einer Firma besaß. Und daran lag es wohl auch, dass er sehr wenig freie Zeit hatte und fast immer nur arbeitete.
Und dass man durch viel Arbeit offensichtlich auch viel Geld verdienen konnte, hatte sie auch kapiert. Sie wohnten nämlich in einem sehr schick eingerichteten, alleinstehenden Haus.
Besonders zugutehielt sie ihrem Vater, dass er in der wenigen freien Zeit, die er nach seinen Worten abknappen konnte, sich in der Vergangenheit sehr intensiv um Melanie gekümmert hatte. Er spielte und scherzte mit ihr in jeder Minute seiner freien Zeit in der er Zuhause war. Und sie genoss es. Deswegen war sie auch so deprimiert, dass er nicht nur ihre Mutter, sondern auch sie so unverhofft verlassen hatte.
Eine ganz entscheidende, weitere Sache, die sie in dem Zusammenhang nicht verstand, war seine persönliche Grundeinstellung zum Leben und zur Welt, die sie sehr wohl kannte, und die er ihr immer wieder liebevoll lehrte: Er war ein entschiedener, gläubiger Christ.
Er brachte ihr seit frühester Kindheit den christlichen Glauben bei und lehrte sie fürsorglich die christlichen Werte. Daher bekam sie auch von ihm beigebracht, dass Geld und Besitz zwar schön waren, aber nicht alles im Leben und Zufriedenheit und Erfüllung in anderen Dingen ankerten, zum Beispiel in einem so hübschen Kind wie seiner Tochter, Melanie, oder einfach in der Freude darüber, dass es Gott gab und er alles erschaffen hatte.
Darum bekam Melanie auch von ihrem Vater beigebracht, dass ein Mann oder eine Frau bei dem Partner bleiben sollte, wenn sie sich einmal für den oder die entschieden hatte. Deshalb konnte sie auch nicht verstehen, warum ihr Vater noch eine andere Frau nett finden konnte. Einige Tage - oder waren es Wochen? - vor dem unglücklichen Tag, als Vater sie verlassen hatte, war ihr allerdings aufgefallen, dass er nicht mehr viele gut gemeinte Belehrungen über das Christsein wie sonst an sie gerichtet hatte. Das hatte sie schon nachdenklich gestimmt, da sie so ihren Vater eigentlich nicht kannte und ihn auch nicht anders kennen wollte. Denn im Zusammenspiel mit der großen Fürsorge für sie und seinen liebevollen Ausführungen über Gott und die Welt hatte sie ihn als Kind immer lieber gewonnen und damit auch ihre zwar anerzogenen, aber inzwischen verinnerlichten christlichen Überzeugungen.
Fast jeden Sonntag waren Melanie, ihr Vater und ihre Mutter, die sich ebenfalls als Christin bezeichnete, in den Gottesdienst der St. Georgs-Kirche gegangen. Diese war fußläufig von ihrem Haus in der Hattinger Innenstadt zu erreichen. Bis zuletzt war das so gewesen, auch an dem Sonntag vor dem Tag, an dem Vater gegangen war. Umso seltsamer war es für Melanie, dass ihr Vater die christlichen Vorstellungen über Bord warf und zu einer anderen Frau zog.
Seit dem Tag des Abschieds hatte sich ihre Mutter immer weiter in sich zurückgezogen und redete viel weniger als früher. Auch sie konnte sich augenscheinlich nicht erklären, was ihr und ihrer Tochter widerfahren war.
Seit dem Tag, als ihr Vater sie beide verlassen hatte, wusste Melanie, dass ihre Mutter viel weinte, es aber vor ihr zu verstecken versuchte. Ebenfalls seit dem Tag an dem ihr Vater „Adieu“ gesagte hatte, betrat Mutter die schöne, alte urige Kirche nicht mehr. Melanie ahnte durch die Ausführungen ihres Vater sehr wohl, woran das lag: Entweder hatte sie ihren Glauben verloren oder zumindest zweifelte sie daran, und damit an Gott. Eher glaubte sie, dass sie zweifelte, denn sie wollte Melanie nicht von den Grundwerten ihrer Familie abbringen: Immer ermutigte sie Melanie in der Zeit nach dem Abschied ihres Vaters daran, in den Kindergottesdienst zu gehen. Dieser fand immer parallel zum Erwachsenengottesdienst in der Kirche statt. Da die Kirche nicht weit war, ging Melanie nun schon länger alleine dorthin. Auf die Frage von ihr an ihre Mutter, warum sie nicht mehr in den Erwachsenengottesdienst gehe, schlug diese ihre Augen nieder und stammelte nur: „Ich brauche… noch etwas Zeit, Kleines“, und Melanie akzeptierte dies so.
Natürlich bekamen die Kirchenbesucher mit, dass ihr Vater weg war: Er und ihre Mutter tauchten ja nicht mehr auf. Schon vor dem ersten Kirchenbesuch ohne ihre Mutter hatte diese Melanie völlig freie Handlungsfreiheit gelassen: Sie könne alles ruhig so erzählen, wie sie es mitbekommen und von ihr erklärt bekommen habe. Das tat Melanie dann auch. Bei den Kindern im Kindergottesdienst löste das kurzzeitig Bedauern aus, das aber ab dem zweiten alleinigen Kirchenbesuch von Melanie schon wieder verflogen war. Bei Thomas und Jasmin, den Leitern des Kindergottesdienstes blieben natürlich Fragen offen, die Melanie auch nicht beantworten konnte. Bedauern und Anteilnahme der beiden an der traurigen Situation spürte Melanie durchaus viele Sonntage. Und natürlich stellte sie nach ihrer Schilderung der Dinge, wie sie sie empfunden hatte, die eine Frage, die sie oft nicht einschliefen ließ, weil sie es von den Lehren ihres Vaters her nicht verstehen konnte: „Warum nur, warum ist mein Vater weggegangen? Er sollte doch nach der Bibel bei seiner Frau bleiben!“
Thomas und Jasmin machten dann beide ein bedrücktes Gesicht und antworteten mit der Bibel: „Die Wege des Herrn sind unergründlich“, sagte einmal Jasmin, ein anderes Mal Thomas. Und jedes Mal erwiderte Melanie: „Das soll der Weg Gottes sein, dass mein Papa fortgeht?“, und darauf hatten sowohl Thomas als auch Jasmin keine Antwort. Doch als sie merkten, dass Melanie Sonntag um Sonntag trauriger zu werden schien, gab Jasmin Melanie ein gutes, biblisches Gegenargument: „Jesus sagt: Um was ihr auch bittet – Glaubt fest, dass ihr es schon bekommen habt, und Gott wird es euch geben!“. Was meinte sie damit? Natürlich, Melanie hatte seit Vaters Weggang schon oft vor dem Schlafengehen zu Gott gebetet, dass ihr Vater doch zurückkommen möge. Aber vielleicht hatte sie ja immer noch nicht intensiv genug darum gebeten, vielleicht war ihr Glaube auch einfach nur zu schwach. Hatte ihr das Jasmin mit diesem Bibelwort nicht sagen wollen?
Als Melanie nach diesem Kirchenbesuch ihrer Mutter davon erzählte, schaute die sie nur traurig wie in letzter Zeit immer an und sagte leise: „Ja, Melanie, wenn es dir hilft, glaube ganz fest daran, dass dein Vater zurückkommt und bitte Gott darum. Aber“, sagte sie bedrückt, „rechne nicht damit!“ Ihre Mutter hatte also mit Vater abgeschlossen und glaubte nicht, dass er zurückkam. Somit hatte sie auch ihren Glauben an Gott verloren. Dass hatte Melanie schon lange gewusst, denn ihre Mutter kam immer noch nicht wieder mit in die Kirche.
Das merkte Melanie auch daran, dass ihre Mutter ihr riet, daran zu glauben, aber nicht damit zu rechnen. Nur, was war das für ein Rat? Entweder glaubte sie und rechnete mit Gottes Kraft oder aber sie glaubte nicht und rechnete nicht damit – genau wie ihre Mutter. Ganz oder gar nicht, diese Einstellung hatte sie schon mit ihren jungen Jahren. Deswegen war sie ja auch immer noch in den Kindergottesdienst gegangen. Aber vielleicht war Jasmins Bibelspruch der Wink mit dem Zaunpfahl, dass sie ihren Glauben noch ernster nehmen sollte. Vielfach war es bisher ein sehnliches hoffen, dass ihr Vater zurückkehren würde. Sie verstand, dass aus diesem hoffen eine Gewissheit werden musste, die sie aus ihrem Glauben an Gott ziehen würde. Sie fragte sich, ob es ihr gelingen würde, mit dieser Inbrunst Gott einfach... ja was eigentlich? – Zu vertrauen! Die Hoffnung stirbt zuletzt, hieß es im Sprichwort. Das war menschlich. Vertrauen durch Glauben war übermenschlich. Doch Melanie wollte die Herausforderung annehmen.
Sie führte ihre Zwiegespräche mit Gott viel länger und intensiver, als ihre Mutter ahnen konnte, weil sie dann oftmals schon schlief. Melanie betete lange und inständig und bettelte wie das kleine Kind, das sie war, dass Gott doch Mitleid mit ihrer Mutter und ihr haben möge und ihren Vater wieder nach Hause bringen würde. Und... nichts passierte.
Als Melanie Thomas und Jasmin das trostlose Ergebnis ihrer intensive Gespräche mit Gott mitteilte, war denen offenbar nicht so wohl in ihrer Haut. Jasmin hatte Melanie kürzlich den Bibelspruch zum Trost gesagt. Dass das Kind aber jetzt augenscheinlich mit so einer Vehemenz versuchte von Gott den Vater zurückzubekommen, hatte sie nicht ahnen können. Und sollte, wie es wahrscheinlich kommen würde, ihr Vater nicht zurückkommen, wären für Melanie Gott und die Kirche wohl für immer vorbei. Das war genau das Gegenteil von dem, was die Leiter des Kindergottesdienstes wollten. Aber wie sollten sie einem zehnjährigen, verstörten Kind erklären, dass es immer viele Aspekte einer Sache gab und Gott nicht auf Knopfdruck funktionierte, auch wenn es Bibelsprüche wie den zu ihr gesagten gab?
Da die Situation so verzwickt war, schaute Thomas nur peinlich berührt zu Boden und Jasmin konnte auf Melanies Bericht nur schwach: „Versuch es weiter Melanie, Gottes Mühlen mahlen langsam“, sagen. Und dabei wusste sie wirklich nicht, ob dieser Ratschlag wirklich gut war oder sie damit dem Mädchen nur Flausen in den Kopf setzte, die sie angesichts der schwierigen Situation nur noch mehr stressen würden.
„Ja“, nahm Melanie den Ratschlag an, auch wenn ihr Stimmchen dabei dünn wirkte. Aber schon in diesem Moment hielt sie sich ganz fest an ihrem Glauben fest, dass Gott ihr helfen würde. Und sie würde weiter zu ihm beten und ihn bitten, Vater zurückzubringen.
Als sie sich an diesem Tag von Thomas und Jasmin verabschiedet hatte und sich auf den kurzen Weg zu ihrem Elternhaus machte, sahen diese dem Kind ratlos hinterher und Falten zeichneten sich auf jeder Stirn ab.
Als Melanie ihren Schlüssel in der Haustür herumgedreht hatte und das Haus ihrer Eltern betrat, bemerkte sie die Stille, die sie sonst nicht wahrnahm, wenn sie nach Hause kam. Mit irgendetwas war ihre Mutter immer beschäftigt und Melanie hörte sie sonst immer irgendwo herumwerkeln.
Sie ging durch den Flur, innerlich angespannt, wegen der außergewöhnlichen Situation. Sie steuerte zielstrebig auf das Wohnzimmer zu, in dem auch die Küche mit integriert war und in dem Mutter wie immer, jetzt auch, sein musste.
Sie öffnete die Tür vorsichtig einen Spalt breit und ihr Blick verfror sich in der Mitte des Wohnzimmers. Ein leichtes Déjà-Vu umfang sie.
Ihr Vater stand stocksteif vor ihrer Mutter da. Der braune Koffer stand auf dem Boden neben ihm. Die beiden blickten sich an und hatten beide Melanie noch nicht bemerkt, die an der leicht geöffneten Tür stehen geblieben war. Auch ihre Mutter nicht, die in Blickrichtung zu ihr stand.
„Ich… habe einen großen Fehler gemacht“, stammelte ihr Vater. „Ich hätte dich nie verlassen dürfen.“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Und erst Recht nicht Gott!“
Immer noch stand er stocksteif da. Melanie sah, dass ihrer Mutter wieder einmal eine einzelne Träne über die Wange lief. Doch sie sah, dass in ihrem Gesicht Erleichterung und Glückseligkeit geschrieben stand. Das wollte sie zumindest in ihrem Gesicht sehen.
Ganz langsam erhob ihre Mutter die Arme, ihre Hände glitten ganz langsam vor zu seinem Gesicht. Dann endlich nahm sie es zwischen ihre beiden Hände, zog es zu sich heran und küsste ihn auf den Mund.
Melanie sah, wie sie die Augen schloss und ihr Vater sie nun auch mit seinen großen, starken Händen hinter ihrem Rücken umfasste. Die Hände ihrer Mutter lösten sich von seinem Gesicht und nun umfasste auch sie ihn hinter seinem Rücken. Sie sah, wie sie sich nun beide einander sehr fest drückten und hörte ein leises Wimmern ihres Vaters, von dem sie annahm, er gab es vor großer Erleichterung von sich.
Nach einer gefühlten, sehr langen Zeit lösten sich ihre Mutter und ihr Vater wieder voneinander. Wieder schauten sie sich in die Augen. Ganz fest. Dann hörte Melanie endlich die erlösenden Worte, die ihre kleine Welt zumindest für die nächste Zeit wieder zurechtrücken sollten: „Willkommen zu Hause“, flüsterte ihre Mutter.
Da konnte Melanie nicht mehr anders: Sie riss die Tür ganz auf, ihre Eltern blickten erschrocken zu ihr herüber, begriffen aber sofort, dass Melanie alles mitbekommen hatte.
Sie lief zu ihnen hinüber und beide beugten sich zu ihr hinunter, umschlungen sie mit ihren Armen, und so verharrten sie einen sehr, sehr langen Augenblick. Ja, sie waren wieder eine Familie. Und Melanie war sich sicher, dass nun auch ihre Mutter ihren Glauben wiederfinden würde.
Für Melanie war es der schönste Tag ihres bisherigen kurzen Lebens. Und sie hatte heute wichtige Dinge gelernt: Gott konnte helfen und vergeben, denn wie sonst, da war sie sich sicher, hätte er es so führen können, dass sein Vater sich wieder für ihre Mutter entschieden hatte und sie sich für ihn. Und Menschen konnten einander vergeben. Wie schwer die Sünde auch gewesen sein mochte...