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Kapitel 2: Liebeswirren
ОглавлениеAls Melanie ihre Steine ansah, durchflutete sie wenigstens jetzt ein wohliges Gefühl. Sie gaben ihr Kraft, auch wenn sie wusste, dass sie ihr nicht helfen konnten.
Wenn man den Alten zuhörte, erfuhr man oft, dass „die Jahre nur so vorbeigezogen sind“. Rückblickend waren die Jahre schneller vorbei, als man es als junger Mensch oft für möglich gehalten hatte. Auch wenn manche Tage lang erschienen, im Rückblick waren es Jahre, die einfach ins Land gegangen waren und man sich im fortgeschrittenen Alter fragte, ob man diese Zeit sinnvoll genutzt hatte, oder die Jahre in den Sand gesetzt hatte.
Melanie sollte genau dieses Gefühl in ihrem Leben noch erfahren. Jetzt, als sie achtzehn Jahre alt war und die vorletzte Klasse im Gymnasium besuchte, war sie zwar davon noch weit entfernt, trotzdem fühlte sie, dass viele Jahre ins Land gezogen waren, seit sie ein Kind gewesen war. Sie war mittlerweile viel mehr als ein Kind, sie hatte sich zu einer hübschen, junge Frau gemausert.
Doch sie hatte so viel Fragen in sich die sie nicht klären konnte. Sie sah gut aus, war eine der Klassenbesten und war stets höflich und zuvorkommend. Doch etwas fehlte: Der passende junge Mann an ihrer Seite.
Woran das auch immer liegen mochte, sie wusste es nicht. Aber immer mehr haderte sie mit sich selbst und suchte nach Gründen, die sie nicht fand.
Sie hatte viele Freundinnen, ja genau, eben Freundinnen aber nicht den einen Freund. Ihre Freundinnen hatten alle ihren Freund, manche auch ihren zweiten. Spitzenreiterin war ihre beste Freundin, Lisa Feller. Soweit Melanie wusste, hatte die gerade ihren vierten Freund und diesmal sollte es wohl die richtig große Liebe sein, das jedenfalls hatte Lisa ihr erst gestern erzählt.
Natürlich hatte sie das wieder heruntergezogen und ließ sie wieder an sich zweifeln. Auf der anderen Seite wollte sie natürlich auch nicht von zig Männern herumgereicht werden, so wie Lisa. Nein, das war es nicht was sie wollte – sie wollte die eine, echte, wahre und ernste Liebe.
Melanie sehnte sich so sehr danach, was lief nur schief in ihrem Leben?
Sie schaute sich in ihrer Schule jeden Jungen genau an, sie ging an Wochenenden aus, aber den Richtigen konnte sie nicht ausmachen. Und sie wusste auch tief in ihrem Innern woran das lag: Nicht daran, dass sie nicht kommunikativ oder freundlich war, sondern weil sie einfach nicht die Sympathie zu einem jungen Mann empfinden konnte, die die Grundlage für eine Freundschaft bot, die sich zu einer echten Liebe entwickeln konnte. Sie konnte einfach keinen Jungen erkennen, für den es wert gewesen wäre sich in Gefühlen zu verlieren. Darum blockte sie auch immer wieder einige Jungen ab, die sich ihr zwar näherten, die aber nicht ihr Interesse finden sollten.
Der Frust saß tief und breitete sich immer mehr aus. Warum kam einfach nicht der Richtige auf sie zu? Sie hätte sich auch auf ihn gestürzt, wäre er nur in Sichtweite gekommen, denn kontaktscheu war Melanie nicht. Aber wenn sie nun mal keinen passenden jungen Mann ausmachen konnte, würde sie auch auf keinen zustürzen, denn sie wusste, dass sie es auf jeden Fall spüren würde, wenn der Richtige vor ihr stand.
Natürlich bemerkten auch ihre Eltern den zunehmenden Frust ihrer Tochter. Gerade in diesem Jahr hatten sie ein besonderes Auge auf ihre Tochter, denn nächstes Jahr würde ihr Abitur stattfinden und die Vorbereitungen darauf liefen auf Hochtouren. Und schlechte Laune oder noch schlimmer echter Frust, waren für einen guten Schulabschluss sicher nicht förderlich, wenn Melanie auch mit unter den Klassenbesten war.
Oft hatten sie Melanie angesprochen, warum sie in letzter Zeit so oft frustriert und in sich gekehrt wirke. Und auch wenn Melanie schon den größten Teil ihrer Pubertät hinter sich hatte, bereitete es ihr Schwierigkeiten, offen mit ihren Eltern über ihr Problem zu reden.
Doch die Sorgen um Melanies Zukunft waren so groß, dass ihre Mutter es immer wieder versuchte: „Melanie, sag doch was dich beschäftigt, dein Vater und ich merken doch, dass etwas nicht stimmt!“
Trotzig, ganz ihrem Alter entsprechend sprudelte es eines Abends dann doch aus Melanie heraus: „Ich finde es doof, dass ich als einzige von unserer Mädchen-Clique noch keinen Freund habe!“
Mutter merkte dann an, dass sie nichts überstürzen solle und noch jede Menge Zeit habe, einen Mann fürs Leben zu finden. Natürlich ahnte auch ihre Mutter, dass diese Worte an ihrer Tochter abprallen würden, denn rückblickend wusste sie, dass es ihr in jungen Jahren mit ihrer Mutter genauso gegangen war. Deshalb setzte sie etwas versöhnlicher und verständnisvoller nach: „Schau doch mal in unserer Kirchengemeinde nach einem netten Jungen. Da gibt es einige, vielleicht gefällt dir ja einer!“
Daraufhin machte Melanie ein zweifelndes Gesicht und suchte schnell das Weite in ihr Zimmer, kopfschüttelnd bedacht von ihrer Mutter.
Die Kirche, ja, als Kind war sie lange Zeit dorthin gegangen, zum Kindergottesdienst. In den paar Jahren, seitdem ihr Vater wieder nach Hause gekommen war, und er und Mutter wie ganz früher ein Herz und eine Seele waren, und die Melanie schon fast wie den Alten so schnell vorbeigezogen vorkamen, hatte sie sich jedoch immer mehr von den Treffen und der Kirche zurückgezogen.
Es war die Zeit, in der sie auch ihre beste Freundin, Lisa, kennengelernt hatte. Das war geschehen, als sie ins Gymnasium eingeschult worden war. Diese hatte ihr so viele Dinge gezeigt, die so ganz anders waren, als sie gewohnt war: Sie zeigte Melanie, wie man Lippenstift auftrug, sie hörte mit ihr Schlagermusik und blätterte mit ihr in der „Bravo“. Das alles missfiel natürlich Melanies Eltern, denn von ihrer erzkonservativen Seite aus waren das Dinge, die Melanie in ihren Augen schadeten.
Doch Melanie war immer mehr erstaunt, was das Leben bieten konnte. Und auch wenn sie damals noch ein Kind war, begriff sie, dass es mehr als nur brave Kirchgänger gab. Das Leben musste gelebt werden. Lisa zeigte ihr, wie das ging. Und so verlor sie immer mehr den Kontakt zur Kirche.
Mit Sorge nahmen das Melanies Eltern wahr. Da sie jedoch bibeltreue Eltern waren, hielten sie sich auch an die Aussagen des Buches. Zwar stand darin, dass Eltern ihre Kinder nach Gottes Richtlinien erziehen sollten. Das versuchten sie auch, indem sie Melanie immer wieder einluden in das Gotteshaus zu gehen. Doch Melanie wollte lieber Zeit mit Lisa verbringen, sehr zum Leidwesen von Melanies Eltern. Es stand letztendlich aber auch in der Bibel, dass die Sache mit Gott, also der Glaube und die eifrige Nachfolge in seiner Kirche eine absolut freie Entscheidung eines jeden Menschen war. So kam es, dass sie Melanie zwar immer noch herzlich liebten und ihr dies auch bei jeder Gelegenheit zeigten, sie aber schließlich mit ihren persönlichen Überzeugungen ziehen ließen.
Das war nun schon, für Melanie gefühlt, eine Ewigkeit her.
Nun saß sie auf ihrem Bett, das Kinn auf beide Hände gestützt und sie spürte, wie diese seit einiger Zeit altbekannte Depressivität in ihr hochkam.
Lisa hatte eine neue Flamme, ihre Freundinnen waren alle mit Jungs versorgt, von denen sie glaubten, sie seien ihre große Liebe. Vielleicht war aber genau auch dass das Problem: Melanie wollte nicht glauben eine wahre Liebe gefunden zu haben, sie wollte es wissen. War sie zu anspruchsvoll? Sie glaubte kaum, denn es ging um ihr Leben. Und sie wollte keine halben Sachen. Das wusste sie auch schon mit ihren achtzehn Jahren.
Nun also saß sie hier auf ihrem Bett und spürte, wie sich um ihren Magen wie schon so oft wieder einmal eine Schlinge zog. Und gerade heute, einen Tag nachdem Lisa ihr von ihrer neuesten Liebe vorgeschwärmt hatte, ging es ihr damit gar nicht gut. Sie wollte eine Veränderung. Und zwar jetzt gleich. Das war zwar utopisch, das wusste sie, denn sie hatte ja schließlich noch nicht einmal jemanden gefunden, der ihr passte. Gut, vielleicht konnte sie ihre Erwartung etwas ausdehnen: Aber morgen, morgen musste sie zum Mindest jemanden kennenlernen. Doch wie nur? Sie hatte es schon viele Monate, ja gefühlte Jahre versucht. Nein, das war nicht ganz richtig. Versucht hatte sie es ja nicht, denn ihr gefiel ja einfach kein Junge.
Nein, sie hatte vielmehr gehofft. Aber reichte das? Offensichtlich nicht. Hoffnung war eben kein Motor um Umstände zu ändern. Aber wie kam es dann zu dem Sprichwort: Die Hoffnung stirbt zuletzt?
Hoffen konnte man tagein, tagaus – aber was wurde daraus?
Die Gedanken überschlugen sich bei Melanie, während sie weiter ihren Kopf festhielt, als hätte sie Angst, er könnte ihr sonst herunterfallen.
Die Hoffnung, so dachte sie schließlich, musste begründet sein. Ja, nur eine begründete Hoffnung ließ gutes Erahnen.
Worauf gründete also die Hoffnung?
Darauf, dass eine mögliche Lösung die Hoffnung bestätigte.
Wie konnte die Lösung aussehen?
Wie lässt sich das auf meine Situation beziehen?, dachte sie, wie sehen meine Erfahrungswerte mit solchen Lösungen aus?
Ein steiles Wort, die Erfahrungswerte, die Melanie nun durch den Kopf schossen. Aber sie wusste genau, worüber sie jetzt nachdachte, denn als eine der Klassenbesten war sie schon tief in die Sprache der älteren Erwachsenen eingetaucht, weswegen sie sich auch so empfand.
Und auf einmal, während sie so da auf ihrem Bett saß, kam es ihr wie ein Blitz durch den Kopf: Sie selber hatte die Erfahrung sammeln können, die Erfahrungswerte ruhten in ihr: Die Lösung kam aus der Bindung an das Wesen, das es überhaupt ermöglichte, das Leben zu meistern.
Auf einmal begriff Melanie, dass sie sich von etwas entfernt hatte, womit sie vor einigen Jahren ihrer Meinung nach schon einmal das Schicksal beeinflusst hatte: Gott.
Ja es war viel passiert, seitdem ihr Vater wieder zurückgekehrt war. Melanie hatte sich immer mehr aus der geistlichen Welt verabschiedet. Und trotzdem schien es in ihrem Hinterkopf geblieben zu sein: Gott hatte auf ihre Bitte hin geholfen.
Denn genau daran erinnerte sie sich gerade in diesem Moment: Ihre Familie war wieder zusammengewachsen, nachdem sie sich damals an Gott gewandt hatte.
Wenn es also schon einmal funktioniert hatte, warum also nicht wieder, sie musste Gott Raum in ihrem Leben geben.
Und auf einmal sank sie von ihrem Bett hinunter auf die Knie, faltete die Hände, schloss die Augen und... wusste nicht mehr weiter: Wie viele Jahre war es her, seitdem sie Gott bemüht hatte. Konnte man einen Gott überhaupt bemühen? Zumindest schien es so, denn er hatte ihr auf ihre damals bisher größte Bitte geantwortet und ihren Vater wieder zurückgebracht. Da war sich Melanie ganz sicher, sie fühlte es ganz tief in ihrem Innern, das es so gewesen sein musste.
Doch war der Kontakt zu diesem Gott, diesem Überwesen, nun nicht schon viel zu lange unterbrochen? Wann hatte sie zuletzt mit ihm gesprochen, zu ihm gebetet? Es war Jahre her. Von ihren Eltern wusste sie, dass dieser Gott eine ununterbrochene Lebensbeziehung wollte. Die hatte sie aber ganz offensichtlich über Jahre nicht gepflegt.
Konnte Gott verärgert sein? Verärgert, dass sie sich die ganzen Jahre nicht bei ihm gemeldet, mit ihm telefoniert – sprich gebetet – hatte?
Melanie schossen so viele Gedanken durch den Kopf, doch an einen klammerte sie sich jetzt umso mehr, als sie so ratlos mit geschlossenen Augen vor ihrem Bett kniete: Es hat schon einmal geholfen, warum jetzt nicht wieder?
Und dann formten ihre Lippen mühsam aber mit aller Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit Worte, an Gott gerichtet, die eher aus einem Kindermund als dem eines reifen Teenagers zu kommen schienen. Aber das war ihr egal. Hier war nur sie und – Gott:
„Lieber Gott, du hast mir schon einmal geholfen und jetzt brauche ich noch einmal sehr deine Hilfe. Bitte mach doch, dass ich einen Jungen kennenlerne der mich liebt so wie ich ihn. Ich wünsche mir so sehr einen Freund, mach doch, dass mein Wunsch wahr wird! Ich liebe dich!“
War das einerseits zu einfach formuliert, andererseits zu steil? Ich liebe dich? Diese Liebe hatte sie Gott wahrhaftig jahrelang nicht gezeigt. Liebe kam aus dem Herzen, liebte sie Gott, der ihr gerade vor ein paar Minuten wieder in den Sinn gekommen war, wirklich auf einmal so sehr?
War Gott mit solchen Liebesbezeugungen bestechlich, fühlte er sich geschmeichelt? Melanie wusste von ihren Eltern, dass dem nach ihrer Lehre nicht so war. Aber war es nicht jeden Versuch wert, ihn auf ihre Seite zu ziehen?
Was nun tun?
Abwarten, wie damals, schoss es ihr durch den Kopf. Damals hatte sie Gott aus vollem Herzen, ja aus voller Seele gebeten, ihr zu helfen. Sie wusste, dass es auch diesmal so gewesen war. Ihre letzte Hoffnung war Gott und nun konnte sie nur hoffen, dass er noch einmal ihre Bitte erhörte.
Am nächsten Tag wurde sie von ihrem Wecker geweckt und schlug hastig auf den Abschaltknopf. Während sie sich anzog, ließ sie den gestrigen Tag noch einmal Revue passieren und dachte über ihr Gebet nach. Sollte das wirklich helfen? Sie wusste es nicht, sie wusste nur, dass Gott ihr letzter Strohhalm war. Und mehr als abwarten konnte sie nicht. So verwarf sie die Grübeleien und machte sich auf den Weg zur Schule.
Trotz des Alters der Mädchen und Jungen in ihrer Abiturklasse herrschte im Klassenraum immer eine ziemliche Lautstärke bis der jeweilige Lehrer eintrat und den für die meisten Anwesenden langweiligen Unterricht eröffnete. So auch heute. Melanie unterhielt sich gerade mit ihrer besten Freundin, Lisa Feller. Lisa wollte gerade anfangen, von ihrem gestrigen tollen Abend mit ihrem neuen Freund, Tom, zu erzählen. Weil sie mit ihm gestern ausging, hatten sie sich nicht verabredet. Melanie befürchtete schon, sehr bald würde Lisa sie fragen, was sie denn so in ihrer Freizeit getan hatte. „Ich habe zu Gott gebetet“, war ja wohl keine Antwort, bei der Lisa ernst bleiben konnte und die für sie der obergeile Witz des Tages bedeutet hätte. Melanie hatte keine Lust, sich zum Affen zu machen oder zu lügen. Und sie hatte nun Glück, dass sie keines von beidem brauchte, denn gerade betrat ihr Lehrer, Herr Rindler, den Klassenraum.
Das war aber nur die halbe Wahrheit: Hinter ihm betrat ein großer, selbstbewusst und ziemlich gut aussehender Junge die Klasse. Diesen nahm Melanie zwar wahr, doch sie hatte gerade andere Sorgen.
Erst als Herr Rindler mit seiner markanten Stimme „Guten Morgen“ rief, ja fast schrie, verstummte der Klassenpulk und alle gingen auf ihre Plätze. Und so kam Melanie darum herum, ihrer besten Freundin von ihrem trostlosen gestrigen Abend zu berichten.
Als sie dann auf ihrem Platz neben ihrer besten Freundin Lisa saß, musterte sie den Jungen genauer. Nicht schlecht, nicht schlecht, dachte sie, während sie ihr Schlamperetui auf den Tisch legte und die wichtigsten Utensilien daraus, die sie in der Stunde brauchen würde, ebenfalls auf die Platte legte.
Aus den Augenwinkeln musterte sie den Jungen: Wie er da stand, groß gewachsen, markante Gesichtszüge, ein Lächeln um die Lippen und total von sich überzeugt! Doch sie glaubte diesen Art Typ zu kennen: Der hatte zehn Freundinnen am Finger und war zudem arrogant. So jemanden würde sie nie als Freund wollen. Nun ja, wieder keine Entdeckung. Sie würde darüber hinwegkommen, das Gefühl sie wäre auf einer Insel alleine, kannte sie schließlich zu Genüge.
„Heute darf ich euch einen neuen Klassenkameraden vorstellen“, setzte Herr Rindler mit seiner kräftigen Stimme an. Tatsächlich hörten alle Mucksmäuschen still zu, denn in Herrn Rindlers Stimme lag ein gewisses Gewicht, dass man persönlich nicht spüren wollte wenn er einen zu Recht wies.
„Das hier ist Daniel Fischer“, sagte er und deutete dabei auf den Jungen, als präsentiere er mit ihm eine neue Werbeikone.
„Er ist gerade erst von Duisburg hier zu uns nach Hattingen gezogen und möchte genau wie ihr in ein paar Monaten sein Abitur machen“, sprach er weiter. Der Junge grinste für Melanie nur blöd. „Ab heute ist er in eurer Klasse. Nehmt ihn bitte als euren Kameraden auf! So, Daniel, dort hinten ist noch ein Platz frei“, sagte Herr Rindler und deutete auf einen freien Platz neben Carsten Kirchhoff in der letzten Reihe.
Daniel setzte sich grinsend in Bewegung und da er mitten durch die zwei angeordneten Tischblöcke ging um zu seinem Platz zu kommen, musste er direkt an Melanie vorbei, die etwa mittig am Gang saß. Sie nahm ihn noch einmal kurz bevor er bei ihr war in Augenschein und glaubte trotzdem weiter fest daran, ihre Einschätzung würde zutreffend sein.
Im Innern angewidert von den Protztypen die ein Mädchen nur traurig machen konnten, wandte sie den Blick auf ihre Schreibutensilien. Dann sah sie an der Ecke ihres Tisches ein Knie. Und schon rammte es gegen den Tisch. Es gehörte natürlich Daniel Fischer. Noch war nichts passiert.
Sie blickte zu ihm auf, als er immer noch grinsend seinen Weg in die hinterste Reihe fortsetzte, ohne auch nur einmal zurück auf seinen Unfall zu blicken.
Und jetzt passierte es natürlich. Durch den harten Stoß gegen ihren Tisch machte sich ihr Schlamperetui selbstständig. Ganz langsam, aber viel zu schnell, ehe Melanie es begriff und handeln konnte: Es rollte vom Tisch und schlug auf dem Boden auf, der Inhalt ergoss sich über den Klassenboden.
Aus den Augenwinkeln sah Melanie, dass Daniel auch das Geräusch des Aufschlagens missachtete, als er endlich an seinem zugewiesenen Platz ankam. Aber sie war sich sicher, dass er es gehört hatte.
Während Melanie ziemlich genervt aufstand um ihre Sachen zusammenzusammeln, sah sie, dass Daniel mittlerweile mit dem immer noch arroganten Grinsen im Gesicht auf seinem Platz saß und nach vorne zu Herrn Rindler schaute. Dieser hatte nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen wohl begriffen, dass Daniel der Auslöser des Übels war, und dass Melanie dieses nun auf dem Boden des Klassenzimmers auslöffeln musste, indem sie unter leisem Raunen ihrer Mitkammeraden- und Kameradinnen ihre Schreibsachen aufheben musste. Doch er sagte kein Wort, stattdessen führte er das Missgeschick und die von Melanie erhoffte fehlende Entschuldigung wohl auf die Nervosität Daniels zurück, vor einer komplett neuen Klasse stehen zu müssen.
Melanie jedoch verstand dies etwas anders: Arroganter Schnösel, dachte sie, der ist für mich durch!
Als Herr Rindler dann etwas zerknirscht endlich mit dem Unterricht anfing, wusste Melanie, dass sie mit dem Gesprächsthema in der Pause zwischen Lisa und ihr garantiert um deren Frage nach dem gestrigen Abend herumkommen würde.
„Du findest es also in Ordnung, dass er nicht einmal bemerkt haben will, was er angerichtet hat und mir dann auch noch nicht einmal hilft, das Chaos aufzuräumen?“, schimpfte Melanie in der Pause zu Lisa, nachdem sie merkte, dass ihre beste Freundin die Situation von eben abwiegelte.
„Nein, Moment: Die Sache an sich war natürlich nicht in Ordnung“, meinte Lisa, „aber vielleicht ist er ja auch unbeabsichtigt an deinen Tisch gestoßen!“
„Ja und als nächstes erzählst du mir, dass er das gar nicht gemerkt hat“, fauchte Melanie. „Mensch Lisa, so ein Typ, der einem Mädchen nicht hilft wenn er etwas verbockt hat, geht doch gar nicht! Also ich könnte mir nicht vorstellen mit so einem zusammen zu sein.“
„Tja“, sagte Lisa leicht spöttisch, „das ist eben der Unterschied zwischen uns beiden: Mir ist halt wichtig dass ich mit 'nem Typen meinen Spaß habe und schau nicht so sehr auf die inneren Werte!“
„Puh“, stöhnte Melanie, „aber ich könnte mir nie vorstellen mit jemandem zusammen zu sein, dessen innere Werte gar nicht vorhanden sind oder mir gegen den Strich laufen!“
„Na ja“, meinte Lisa, „aber schlecht sieht dieser Daniel nun wirklich nicht aus.“
„Du willst mir jetzt doch wohl nicht sagen, dass du auf den stehst?“
„Also zunächst einmal stehe ich auf alle gut aussehenden Männer!“, sagte Lisa fröhlich, während Melanie ihre Stirn in Falten legte. „Aber keine Sorge, ich hab ja meinen Tom, den Daniel überlass ich dir!“. Und dabei zwinkerte sie Melanie zu.
„Nein danke, nicht geschenkt!“, raunte sie Lisa zu.
Diese verzog nachdenklich die Mundwinkel und mit einem Blick an Melanie vorbei fragte sie: „Weißt du, was letztendlich unseren Unterschied ausmacht?“
„Nein...“, sagte Melanie und wusste nicht so recht worauf ihre beste Freundin hinaus wollte.
„Ich habe einen Freund und du nicht!“, sagte diese, als sie auch schon jemandem hinter Melanie zu winkte.
Das hatte natürlich gesessen. Und trotzdem, dass Lisa ihre beste Freundin war, konnte Melanie sie für solche Bemerkungen manchmal fast umbringen.
„So jetzt muss ich aber mal schnell zu Tom!“, sagte Lisa und hastete an der verdutzten Melanie vorbei. Diese schaute ihrer Freundin ein wenig ratlos und kopfschüttelnd hinterher.
Ihre neue Flamme, dieser Tom, empfing sie mit ausgebreiteten Armen. Und sobald sie darin gelandet war, zog er sie an sich heran und sie küssten sich so innig, dass Melanie nicht anders konnte als ihre Augen zu verdrehen…
Der Gong des Feueralarms riss Melanie aus ihren Tagträumen. Drei Tage waren nach Daniels Attacke inzwischen vergangen. Sie hatte ihn so gut sie konnte ignoriert. Und natürlich hatte sich auch nichts an ihrer persönlichen Situation verändert. Im Gegenteil: Sie hatte nun noch weniger Kontakt mit Lisa, da sie nun täglich nach der Schule Termine mit ihrem Tom hatte. Aber dieser Zustand der Lethargie war Melanie ja nur allzu bekannt.
Und nun dieser blöde Feueralarm. Nicht der erste, seit sie in diese Schule ging.
„Wir haben einen Feueralarm!“, rief Herr Rindler, der heute gerade wieder einmal Unterricht in ihrer Klasse gab. Die Klasse murmelte nur genervt. Sie alle kannten dieses Ritual, dass sich mindestens einmal im Jahr wiederholte, nur zu genüge.
„Nerv, nerv“, „zu neunundneunzig Prozent wieder ein Test“, „auch das noch“, raunte es im Klassenzimmer.
„Diese Situation könnte ernst sein, also bitte meine jungen Damen und Herren, hinaus zum Sammelplatz“, rief Herr Rindler dem genervten Volk zu.
Der Sammelplatz war die große Wiese vor dem Schulgebäude, zu der nun die gesamte Schulschaft stürmen sollte.
Melanie und Lisa erhoben sich genau wie die anderen Schülerinnen und Schüler behäbig von ihren Plätzen – man kannte schließlich das Prozedere.
Melanie schnappte sich ihren neuen Taschenrechner, den sie gestern von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte und stopfte ihn sich in die rechte Hosentasche ihrer Jeans. Man konnte schließlich nicht wissen, wer überhaupt keine Lust auf diese Übung hatte und noch im Gebäude herumschlich, wenn sie draußen auf der Wiese standen.
„Warum muss Schule nur so nerven?“, fragte Lisa gerade Melanie, als sie mit den anderen auf den Flur hinaus liefen.
Draußen auf dem Flur war es chaotisch, auch wenn die meisten wussten, dass dies höchst wahrscheinlich nur eine Übung sein würde. Die Schüler und Lehrer eilten zügig die Flure entlang Richtung Ausgang. Da wurde geschubst und gedrängelt, einige taten dies absichtlich, manche wurden angestoßen und schubsten andere unbeabsichtigt, denen das gar nicht gefiel. Lautstarkes Getöse begleitete den Zug nach draußen.
Und dann war Lisa einfach weg. Sie war Melanie in dem ganzen Geschubste und Gedrängel einfach abhandengekommen.
Irgendwie kamen aber endlich alle auf dem Sammelplatz, der großen Wiese vor der Schule, an. Dicht gedrängt standen sie alle da. Melanie schaute sich um. Von Lisa keine Spur.
„So ein Mist“, dachte sie, „jetzt stehe ich hier blöd rum und noch nicht einmal meine Freundin kann mir die Zeit vertreiben!“
Resignierend hob sie ihre Arme und ließ sie an ihre Oberschenkel fallen. Dabei katapultierte sie jedoch ihren neuen Taschenrechner aus ihrer Hosentasche, der in hohem Bogen an ihr hochflog und dann im Sturzflug auf der Wiese landete.
Zum Glück weiches Terrain, dachte sie und beugte sich langsam hinunter, um ihr gutes Stück aufzuheben.
Doch während sie sich hinunter bückte, schoss ein Arm an ihr vorbei, griff nach ihrem Rechner und hob ihn auf. Dann hörte sie auch schon die Stimme: „Darf ich dir behilflich sein?“
In ihrer gebückten Haltung konnte sie nicht erkennen, wer ihr so zuvorkommend begegnete, denn der Helfer, dem eine männliche Stimme gehörte und die ihr bekannt vorkam, hatte sich wieder aufgerichtet, bevor sie es tat.
Als sie dann wieder oben war und nach rechts blickte um ihrem Helfer zu danken, formte sich unweigerlich ein Kloß in ihrem Hals: Daniel Fischer stand da, hielt ihr ihren Taschenrechner hin und hatte wieder dieses arrogante Lächeln im Gesicht.
„D… Danke“, stotterte Melanie und grinsend übergab er ihr den Taschenrechner.
Sie war wie vor den Kopf gestoßen: Vor drei Tagen hatte sie sich maßlos über sein Auftreten geärgert. Jetzt jedoch überraschte er sie. Wenn er auch nicht seinen Auftritt vor drei Tagen vergessen machen konnte, zeigte er ihrer Meinung nach mit dieser Aktion, dass da doch ein bisschen mehr als Arroganz in ihm war, ja wie es aussah, ehrliche Hilfsbereitschaft. Damit machte er jetzt wirklich ein wenig Boden bei ihr gut.
„Kein Problem“, sagte er, „ich sehe doch, wenn ein Mädchen in Nöten ist!“
Das kam nun nicht so gut bei ihr an, denn seine Arroganz schien damit wieder einmal durch. Warum hatte er dann nicht vor drei Tagen ähnlich reagiert? Andererseits musste sie sich auch eingestehen, dass hier etwas von einem Gentlemen durchschien, von einem stolzen Ritter, und das gefiel ihr auf alle Fälle.
Und das war nun auch der Auslöser, dass sie es schaffte, tatsächlich ihr Herz gegenüber Daniel ein wenig zu erweichen. Eigentlich, so musste sie sich eingestehen, kannte sie ihn doch noch gar nicht, hatte ihn aufgrund der dummen Situation vor drei Tagen komplett ignoriert. Vielleicht aber hatte Lisa doch Recht und er war gar kein so schlechter Kerl. Sie konnte es nicht wirklich wissen, wenn sie ihm keine Chance ließ. Und angesichts der gerade gezeigten Geste von ihm, beschloss sie, ihm eben eine solche zu lassen.
„Wir… haben noch gar nicht viel miteinander gesprochen“, stotterte sie nun langsam, „du bist also erst vor kurzem hierher gezogen?“
„Ja“, sagte er ziemlich locker, „meine Eltern haben sich vor einiger Zeit scheiden lassen und meine Mutter hat seit kurzem einen neuen Freund hier aus Hattingen. Und da bin ich mit hierher gezogen. Naja, schließlich gehe ich noch zur Schule und habe kein Geld für eine eigene Wohnung!“
„Und du machst auch nächstes Jahr Abitur?“, frage sie.
„Ja, ich versuch’s“, sagte er grinsend.
„Dann bist du wohl auch achtzehn?“
„Nee, neunzehn“, sagte er und sie sah wie er errötete. Das fand sie nun niedlich.
„Echt?“
„Ja, einmal kleben geblieben!“, sagte er peinlich berührt.
„Oh, und jetzt?“
„Alles im grünen Bereich – hoffe ich. Ich denke schon, dass ich das Abi nächstes Jahr schaffe! Aber jetzt mal weg von mir, was machst du so neben der Schule?“
„Na ja“, sagte sie langsam, „also ich ziehe gern mit meiner besten Freundin Lisa um die Häuser, lese gerne und fahre Fahrrad“.
„Hast du denn nicht ein richtiges Hobby?“, frage er ihrer Meinung nach ehrlich interessiert.
„Na ja…“ musste sie nun erneut stottern. „Das habe ich schon, aber die Allerwenigsten wissen davon. Das kommt daher, dass mich die meisten auslachen, wenn ich ihnen davon erzähle“. Und sie wusste wirklich nicht, warum sie jetzt ihrem aktuellen Erzfeind davon erzählen sollte.
„Na komme schon“, sagte er, „ich werde dich bestimmt nicht auslachen, ich möchte hier neue Freunde kennenlernen!“
Neue Freunde, dachte sie, mich als Freundin??? Und langsam stiegen Zweifel in ihr auf, ob sie hier und jetzt wirklich alles richtig machte. Aber es fühlte sich richtig an. Darum offenbarte sie ihm ihr Hobby, von dem bisher nur Lisa und ihre Eltern gewusst hatten: „Also… ich sammle Steine!“ Jetzt war es heraus.
„St… Steine“, stotterte nun er.
„Ja, Steine!“, wiederholte sie selbstbewusst.
„Ja… was denn für Steine?“, fragte er leicht irritiert.
„Am schönsten finde ich große, glatte Steine. Man muss lange für sie suchen. Im Wald.“
„Aha“, sagte er.
„Du findest es nicht idiotisch?“, frage sie.
„Ja was denn?“
„Na so ein Hobby!“
„Nein, warum? Wenn du dadurch fröhlich bist!“
Fröhlich – eine Wortwahl die sie anrührte. Denn es waren nicht die Steine, die sie fröhlich machten, nein, sie wollte erst fröhlich werden. Und was ihr dazu fehlte, wusste sie schon sehr, sehr lange!
„Weißt du, ich habe ein ganz hohes Regal mit allen meinen Steinen darin!“, sagte sie etwas tranig.
„Oh, das ist toll“, meinte er.
„Echt? Findest du das wirklich?“, fragte sie ihn überrascht.
„Ja, warum denn nicht, das ist doch kein alltägliches Hobby. Und nicht Alltägliches finde ich toll!“
„O.K.“, erwiderte sie leicht verwundert, dass sich jemand auch nur annähernd für ihr außergewöhnliches Hobby interessierte. „Es ist nur so, dass ich bis jetzt noch niemanden gefunden habe, der auch solch ein Hobby hat“, schob sie vorsichtig nach. „Und das macht einen ziemlich vorsichtig, dann von so einer Leidenschaft zu erzählen.“
Und dann schoss ihr durch den Kopf, dass von Leidenschaft gegenüber dem Jungen zu sprechen, den sie tagelang als ihren schlimmsten Feind empfunden hatte, schon sehr gewagt war, auch wenn sich diese auf etwas anderes als ihn bezog. Trotzdem war da eine Verbindung, die sie in ihrem Hirn immer noch nicht sortieren konnte.
„Mach dir doch keinen Kopf!“, erwiderte er locker. „Ich kenne jemanden, der genau dasselbe Hobby hat wie du!“
„Du meinst, hier auf der Schule?“, fragte sie überrascht.
„Ja genau“, entgegnete er, „hier auf der Schule.“
„Den möchte ich mal kennenlernen“, sagte sie brüsk, „also ich bin schon etwas länger hier als du und ich habe bis jetzt noch keinen getroffen, der auch Steine sammelt!“
„Ich schon“, sagte er wieder einmal grinsend.
„Wen? Sag schon“, forderte sie.
„Er steht gerade vor dir!“
„Wie… jetzt“, stotterte sie wieder, „du sammelst auch… Steine…?“
„Ja, warum stotterst du? Ist das ein Problem?“, fragte er entspannt.
„Nein, natürlich nicht“, versuchte sie schnell zu sprechen, „aber du bist der Erste, der anscheinend das gleiche Hobby hat!“
„Naja“, meinte er, „Wunder geschehen wohl immer wieder…“
„In der Tat“, sagte sie, „selbst meine beste Freundin Lisa hält mich deswegen für verrückt!“
„Aber Steine sind doch schön“, sagte er einschmeichelnd.
„Meinst du das ernst?“ fragte sie.
„Ja natürlich, sonst würde ich sie doch nicht selber sammeln, oder?“, stellte er fest.
„Das… stimmt“, entgegnete sie langsam.
Gerade in diesem Moment schritt Herr Rindler an ihnen vorbei und zählte: „…achthunderteinundvierzig, achthundertzweiundvierzig – Komplett!“ Und damit huschte ein Lächeln über sein Gesicht: „Dies war eine Feuerschutzübung“, erklärte er lautstark dem gesamten Schulpulk. „Alle vollzählig! Und nun bitte alle zurück in ihre Klassen!“
„Hör mal“, sagte Daniel neben Melanie, „hättest du nicht Lust, dich heute Abend weiter über unser Hobby zu unterhalten?“
Einen kurzen Moment dachte sie darüber nach. Irgendwie war ihr der Gedanke schon unbehaglich, Daniel alleine zu treffen, schließlich war er ihr bis vor ein paar Minuten noch der unsympathischste Mitschüler der ganzen Schule gewesen. Aber nun hatte sich innerhalb einiger Minuten alles geändert. Daniel sah gut aus und kannte offenbar doch einige Gesten, die einem Mädchen gefielen. Außerdem hatte er das gleiche außergewöhnliche Hobby wie sie. Das war es doch Wert ihm eine Chance zu geben, oder…?
„Ja… also“, setzte sie an, „kennst du den Burger King hier?“
„Ja“, sagte er leicht säuselnd, „den hab ich doch als erstes kennengelernt, als ich hier ankam!“
„Also dann… passt dir achtzehn Uhr?“
„Ja, das ist prima, dann hab ich meine Hausaufgaben ja auch fertig“, entgegnete er sichtlich erfreut.
„Also gut“, sagte sie ein wenig vorsichtig, „dann treffen wir uns nachher dann da!“ Damit drehte sie sich weg von ihm und lief eilig zurück in die Klasse, während er ihr langsam folgte…
In dem Schnellrestaurant war nicht wirklich viel los. Aber es war ja auch unter der Woche.
Melanie knetete nervös ihre Hände. War es wirklich richtig, hier zu sein? Bis vor ein paar Stunden war Daniel der Allerletzte auf ihrer Liste gewesen, mit dem sie sich freiwillig getroffen hätte. Nun stand sie hier, und wusste auch nicht so recht warum. Doch durch die Unterhaltung mit ihm am Morgen schien irgendeine Mauer in ihr gebrochen zu sein. Ja, sie glaubte nun tatsächlich, dass er nicht so übel war, wie sie es ein paar Tage geglaubt hatte. Mir seiner Geste, ihr den Taschenrechner aufzuheben, hatte er sich bei ihr eingeschmeichelt. Die Chance die sie ihm nun gab, eigentlich einen Gefallen an ihr selbst, ihr zu beweisen, dass er gar kein so schlechter Kerl war, wollte sie ihm der Fairness hergeben.
Und nun stand sie da und er kam nicht, obwohl es schon Punkt achtzehn Uhr war.
Sie war nahe der Bestelltheke und bearbeitete weiter ihre Hände.
Auf einmal tippte sie jemand auf die Schulter. Sie drehte sich erschrocken um und Daniel stand vor ihr.
„So erschrocken?“, fragte er. „So gefährlich bin ich doch gar nicht!“.
Sie spürte, wie sie wieder einmal errötete und es war ihr peinlich.
„Nein, nein… schon gut. Ich war nur… in Gedanken versunken“, entschuldigte sie sich stotternd. Und dann musterte sie ihn genauer: Da stand er nun vor ihr. Groß, muskulös, gut aussehend. Mit einer Jute-Tasche in der rechten Hand. Nun ja, jeder trug eben sein Gepäck mit sich. Sie hatte schließlich ihre kleine Handtasche geschultert.
„Wartest du schon lange?“, frage er.
„Nein, nur ein paar Minuten“, erwiderte sie, obwohl sie schon vor einer halben Stunde angekommen war.
„Wollen wir erst mal was bestellen?“
„Ja, klar!“
„Dann ran an die Theke!“
Sie gaben ihre Bestellungen auf und die Bedienung erklärte, sie könnten sich einen Platz suchen, ihr Essen würde gebracht.
Also schlenderten sie gemächlich ohne ein Wort in den hinteren Teil des kleinen Restaurants. Keiner von beiden wusste so recht, was nun zu reden war. Sie setzten sich.
„Ich habe dir was mitgebracht!“, sagte Daniel dann endlich.
„Ach so?“, fragte sie überrascht.
Daniel hob seine Jute-Tasche an und kramte erst einmal darin. Endlich zog er irgendetwas in Zeitungspapier gewickeltes heraus.
„Das ist für dich. Statt Blumen“, meinte er und streckte Melanie den Gegenstand entgegen.
Irritiert nahm sie ihn entgegen. Statt Blumen – stattdessen etwas in Zeitungspapier gewickelt. Sehr romantisch. Aber schließlich war das doch nicht ein offizielles Date, oder? Immer mehr spürte Melanie, dass Daniel etwas Besonderes war. Bisher hatte er sich deutlich von den Jungs abgehoben, die ihr so verhasst waren.
Melanie nahm das kleine Bündel entgegen und war überrascht, da es ein ganz schönes Gewicht hatte.
„Pack es aus“, sagte Daniel.
Melanie drehte den Gegenstand noch ein paarmal in den Händen, dann legte sie das Bündel vor sich auf den Tisch. Würde sie sich darüber genauso freuen, wie über die angesprochenen Blumen? Sie bezweifelte es.
Ganz langsam begann sie mit ihren Fingern den Gegenstand auszuwickeln und vom Zeitungspapier zu befreien.
Irgendwann sah sie eine Ecke des unter dem Papier befindlichen Gegenstandes. Sie war schwarz. Sie hatte wirklich nicht den geringsten Schimmer was das war.
Sie wurde hektischer, zerrte das Zeitungspaper schließlich ganz herunter und blickte… auf einen schwarzen Stein. Einen großen, ganz glatten Stein. Er war genau ein solches Exemplar, für den sie Feuer und Flamme war. Man musste lange suchen, um so einen großen, glatten, schönen Stein zu finden. Genauso einen hatte sie noch nicht in ihrer Sammlung.
„Was… für… mich?“, fragte sie. Und nun musste auch Daniel ahnen, dass dieses Geschenk sie viel, viel mehr freute als ein Strauß Blumen der in ein paar Tagen sowieso verwelkt war. Nein: Ein Stein hielt ewig. Er überdauerte Jahrzehnte. Genau das wollte sie auch für die Liebe: Eine Liebe, die Jahrzehnte überdauerte ohne wie Blumen zu welken.
„Natürlich für dich“, sagte er leise.
„Aber… woher ist der denn?“, fragte sie vorsichtig.
„Na, aus meiner Sammlung!“
„Aber… dann fehlt dir doch jetzt ein Stein in deiner Sammlung!“
„Irgendwann finde ich schon einen neuen“, sagte er, „ich hatte eben nur gehofft, dass du dich freust!“
Und wie sie sich freute – sie konnte es gar nicht so emotional in Worte fassen: „Ich… ja ich weiß gar nicht was ich sagen soll“, flüsterte sie berührt. Und dann polterte sie fast lautstark darauf los: „Natürlich freue ich mich! So einer hat mir noch gefehlt!“
„Dann habe ich mich ja richtig entschieden, den zu nehmen“, sagte er.
„Auf jeden Fall!“
Die Bedienung kam und stellte die Burger und die Colas vor sie.
„Dann auf einen netten Abend!“, sagte Daniel.
„Der ist doch schon nett“, sagte sie keck, wickelte wieder einen Gegenstand aus, diesmal ihren Burger und biss beherzt hinein, dass der Ketchup seitlich wegspritzte. Und Daniel lachte.
Ja, sie fühlte sich gut. Es war dieses natürlich wohlige Gefühl, dass sich da in ihrem Bauch breitmachte, genau, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Sie hatte Vorurteile gegen Daniel gehabt, die sie nun überhaupt nicht mehr vertreten konnte. Er war höflich, aufmerksam, nett und überhaupt nicht wie alle anderen Jungs. Und ihr dämmerte, dass ihr negatives Erlebnis an seinem ersten Tag in der Schule wirklich auf einen unglücklichen Umstand und seine Nervosität zurückzuführen war.
In den drei Stunden, in denen sie in dem kleinen Fast-Food-Restaurant waren, unterhielten sie sich viel über persönliche Begebenheiten und was sie bisher Skurriles in ihren jungen Leben erlebt hatten. Zweimal hatten sie sich Cola nachbestellt um einfach hier sitzen bleiben zu können und die gemeinsame Zeit zu genießen.
Als sie dann endlich das Restaurant verließen, taten sie dies unter den zweifelnden Blicken der Bedienung die von Anfang an für sie dagewesen war. Ein kleines Lächeln konnte sie sich dennoch nicht verkneifen: Was würde wohl aus dem turtelnden Paar werden?
Vor der Tür hieß es erst einmal Abschied nehmen, denn jeder musste nun zu seiner Familie.
„Also dann, bis morgen in der Schule“, sagte Daniel, als er Melanie die Hand entgegenstreckte. Sie sah, dass er ihr direkt in die Augen blickte und spürte, dass die wohlige Wärme verbunden mit einem Kribbeln in ihrem Bauch mehr wurde.
„Bis morgen“, sagte sie leise.
„So einen Abend können wir gerne wiederholen!“
„Ja, finde ich auch“, flüsterte sie.
„Also dann, tschüss!“, wurde auch er leiser. Und dann beugte er sich leicht zu ihr hinunter und küsste sie auf die Wange. In diesem Moment fühlte sich ihr Bauch heiß wie ein Komet an.
Daniel drehte sich und schritt eilig von ihr weg.
Als sie sich auf den Nachhauseweg machte, spürte sie, dass hier etwas begonnen hatte, was vielleicht nie mehr zu Ende gehen würde. Und das überraschte sie wahrscheinlich viel mehr als ihr Gegenüber…
Eine Woche war seit dem Restaurantbesuch vergangen. Sie hatten sich seitdem jeden Tag gesehen. Rückblickend konnte es Melanie gar nicht glauben, dass sie es jeden Tag aufs Neue wagte sich mit diesem Jungen zu treffen. Aber es schien ihr immer richtiger zu sein. Ja, Daniel war wirklich anders als die anderen Jungs. Da war sie sich ganz sicher.
Als Melanie Lisa zum dritten Mal einen Korb für eine Verabredung am Abend gab, die Lisa sich von Tom freischaufeln wollte, bohrte sie nach. Das war vorgestern. Melanie wich ihr natürlich aus.
„Los, Melanie“, schnaubte Lisa, „heraus mit der Sprache: Was ist los mit dir? Ich bin schließlich deine beste Freundin und ich kann mich nicht erinnern, dass du mich jemals hast hängen lassen!“
Melanie ging in sich. Natürlich wollte sie Lisa nicht die Wahrheit sagen, denn das wäre der definitive Paukenschlag, so, wie sie über Daniel zu ihr geredet hatte. Zudem hatten Daniel und sie in der Schule absolutes Stillschweigen vereinbart und sich ganz heimlich jeden Tag aufs Neue verabredet. Das Geständnis an Lisa wäre also eine absolute Offenbarung gewesen.
Doch als Melanie dann auch noch rot wurde und Lisa immer noch nachbohrte: „Was stimmt mit dir nicht, Süße“, konnte sie einfach nicht mehr anders.
„Ich glaube, ich habe einen Freund!“, hauchte sie leise.
„Wie, du glaubst? Was geht ab? Komm schon, heraus mit der Sprache, wer ist es?“
„Das willst du gar nicht wissen“, sagte sie lapidar.
„Und ob ich das will, du verrückte Kuh, ich freu mich doch für dich“, sagte Lisa in ihrer botten Art.
„Es ist… Daniel“, gestand sie endlich ihrer besten Freundin das vermeintliche Dilemma.
„Wie? Was? Nein!!! Du meinst doch jetzt wohl nicht Daniel Fischer, deinen Erzfeind?“
„Doch. Den meine ich!“, stöhnte Melanie, obwohl dazu gar kein Anlass war, denn es ging ihr ja gut mit Daniel.
Lisa klappte die Kinnlade hinunter und irgendwann brachen aus einer Mauer offener Fragen ihre Worte hervor: „Herzlichen Glückwunsch, Kleine!“, dabei war Melanie sogar ein paar Monate älter als Lisa…
Nach dieser Erfahrung hielt es Melanie für angebracht, nun auch ihre Eltern einzuweihen. Es konnte nicht sein, dass die beste Freundin von ihrem Liebesleben erfuhr, ihre Eltern, zu denen sie eine immer noch sehr harmonische Beziehung hatte, aber nicht.
Also war es gestern, als sie Daniel mit nach Hause brachte. Sie stellte ihn als ihren Freund ganz nebensächlich vor, was immer das für ihre Eltern auch bedeuten mochte. Für Daniel schien es ihr, war es ein Highlight, denn er schien sichtlich berührt. Ja, hier war etwas Großes im Gange.
Sie verschwanden ziemlich schnell in Melanies Zimmer, und da sah er sie endlich: Die Steinsammlung. Alle Steine waren ordentlich in einem riesigen Bücherregal platziert. Da gab es ganz große, glatte, wie sie sie am liebsten mochte. Und auch ziemlich krumme und uneben erdige, die aber wohl einfach in eine solche Sammlung mit dazu gehörten.
„Wow“, sagte er, „das ist wirklich beeindruckend!“
„Ist deine Sammlung nicht so groß?“, fragte sie.
„Nicht ganz“, sagte er, „aber annähernd!“ Und zu seiner großen Freude sah er ganz oben, auf dem obersten Regalboden platziert, seinen Stein. Er hoffte jedenfalls, das er es war. Steine waren sich ja oft so ähnlich!
„Es kommt ja auch nur darauf an, dass man selber mit seiner Sammlung zufrieden ist“, sagte sie.
„Ja, genau“, meinte er. Auch wenn ihr nicht entging, dass er dabei etwas teilnahmslos klang.
„Wie sieht’s denn morgen aus bei dir?“, fragte sie irgendwann ganz unvermittelt, nachdem sie wieder einmal gegenseitig Episoden aus ihrem bisherigem Schulleben erzählt hatten.
„Was meinst du?“, frage er.
„Na, ob ich dann mal morgen zu dir mitkommen darf?“
„Ja, also“, begann er zu stottern, „warum… ja warum eigentlich nicht?“
„Ja dann. Ich freu mich“, meinte sie stirnrunzelnd über seine reservierte Art.
Bald danach begleitete sie ihn zur Haustür. Sie freute sich, morgen seine Familie kennenzulernen. Natürlich wusste sie, dass es Mutter und Freund war. Trotzdem akzeptierte sie dieses Verhältnis, abseits der Ansichten ihrer Eltern schon jetzt.
Was sie an diesem Abend etwas irritierte, war, dass Daniel etwas neben sich stand. Hatte er Angst, sie seinen Eltern vorzustellen? Das konnte sie sich nicht vorstellen, denn dazu verstanden sie sich gefühlte unendliche Tage einfach zu gut. Nun ja, neuer Tag, neues Glück, sagte sie sich bei der Verabschiedung. Morgen sind ein neuer Tag und mein neues Glück!
Am nächsten Morgen beim Frühstück, vor der Schule, nahm ihre Mutter sie in die Zange. Gestern waren sie sich gar nicht mehr begegnet, nachdem sie hinter Daniel die Tür geschlossen hatte.
„Sag mal Melanie“, setzte sie an, „ist Daniel eigentlich dein Freund?“ Und dann, nach einer kurzen Pause in der Melanie nichts sagte: „Du weißt schon, wie ich es meine, ist er dein Freund?“
„Ich glaube ja“, sagte Melanie beiläufig, während sie in ihr Butterbrot biss.
„Ja, das freut mich aber“, sagte ihre Mutter. „Wie lange seit ihr denn schon befreundet?
„Eine Woche!“, sprudelte es aus Melanie heraus.
„Eine Woche?“, fragte Mutter. „Das ist keine Ewigkeit!“
„Aber eine Überlegung wert!“, konterte Melanie.
„Das ist es wohl!“, entgegnete ihre Mutter.
Melanie schluckte ihre Cornflakes hörbar und schmerzvoll hinunter. Gerecht werden konnte man niemals allen. Sie freute sich auf den Abend nach der Schule, wo sie Daniels Eltern kennenlernen würde, wenn sie auch nicht wusste, warum er bei diesem Thema so reserviert geblieben war…
Als Daniel sie nach der Schule am Abend abholte, merkte sie, dass er nervös war.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie ihn sofort nach der Begrüßung.
„Ja, warum auch nicht?“, tat er gelassen, sie merkte aber, dass etwas nicht stimmte, aber auch, dass er jetzt darüber nicht reden wollte. Deswegen ließ sie sein eigenartiges Verhalten zunächst auf sich beruhen indem sie lapidar „dann ist ja gut“, sagte.
Sie sprachen sehr wenig auf den gut fünfzehn Minuten Fußweg bis zu der Wohnung seiner Mutter und dessen Freund. Melanie wusste mittlerweile, dass irgendetwas nicht stimmte, wenn auch nicht was, denn Daniel wurde immer nervöser.
Irgendwann konnte sie nicht anders, als diesen Umstand erneut anzusprechen: „Irgendetwas ist doch, Daniel…? Sag, bist du wirklich so nervös, weil du mich deiner Mutter und ihrem Freund vorstellen musst?“
„Na ja…“, stotterte er verlegen, „so einfach ist die Situation für mich auch nicht!“
„Aber ich bin doch eigentlich ganz umgänglich, oder…?“, hakte sie nach und sah ihn schief lächelnd von der Seite aus an.
Er sah es und musste lachen: „Ja wirklich, du bist eine gute Partie!“
Das ging ihr runter wie Öl. Immer mehr fühlte sie, dass er der Richtige für sie war. Wie schnell man sich doch sicher sein konnte, wenn man wirklich auf den Richtigen traf: Eine Woche!
Als sie dann bei ihm Zuhause ankamen, und seine Mutter die Tür öffnete, war auch bei ihr die letzte vielleicht noch vorhandene Unsicherheit verflogen: Kathrin, die Mutter von Daniel, empfing sie mit einer herzlichen Umarmung, hinter ihr tauchte Jürgen auf, der Freund von Daniels Mutter. Ein herber Handschlag hieß sie herzlich willkommen. So konnte sie sich schon vorstellen, dass ihre und Daniels Fast-Familie eine coole Clique werden konnte. Ihre Begrüßung auf Daniels Seite verlief zumindest genauso herzlich, wie Daniel von ihren Eltern empfangen worden war.
Ein paar nette Worte wurden gewechselt: „Du siehst ja noch viel hübscher aus, als Daniel erzählt hat“, sagte seine Mutter. „Ein junger Mann kann froh sein, mit dir auszugehen!“, zog Jürgen schon ein bisschen überzogen sein Kompliment hervor.
Dann reichte es auch Daniel und er sagte: „Ich glaube, ich möchte Melanie jetzt mein Zimmer zeigen!“ Dabei entging Melanie nicht, dass Daniel schon wieder höchst nervös war.
„Tu das ruhig, mein Sohn“, sagte seine Mutter und Jürgen zwinkerte ihm wissentlich zu: Diese beiden brauchten nun ihre Zeit für sich.
Schnell waren sie auf Daniels Zimmer und er schloss hektisch und äußerst angespannt die Tür.
„So“, sagte er ein wenig kraftlos, „da wären wir. Mütter und Väter – oder eine Mutter und deren Freund“, und dabei lächelte er gequält, „sind manchmal schon anstrengend!“ Dabei wies er mit der Hand auf sein Bett, das mit einer Tagesdecke überzogen war und somit auch als Sofa diente.
Sie ging hinüber und setzte sich, während er nervös vor ihr stand.
„Ja… das ist es also… mein Zimmer!“, meinte er angespannt.
Sie schaute sich um. Natürlich war es ein echtes Jungenzimmer. Regale vollgestellt mit Automodellen, VHS-Videokassetten und Poster von Pop-Künstlern, vorwiegend weiblich. Doch es störte sie nicht. Nicht das. Irgendetwas anderes störte oder irritierte sie. Doch sie kam einfach nicht darauf. Daniel sagte kein Wort, als ahnte er schon, was sie gleich bemerken würde. Sie ließ ihren Blick weiter herumwandern. Und auf einmal wusste sie, was sie irritierte und was sie eben nicht bemerkte: Ein Regal mit seiner Steinsammlung!
„Wo… sind denn deine Steine?“, platzte es auch ihr heraus. „Ich meine, du hast mir erzählt, du hast auch eine Sammlung?“ Sie starrte ihn an und wusste genau in diesem Moment, warum er die ganze Zeit über nervös gewesen war.
„Also… sie… ich…“
„Na was denn?“, wurde sie langsam ärgerlich. „Sag, was du sagen willst!“
„Also… sie… also… ich muss dir etwas gestehen“, sagte er leise ziemlich zerknirscht. „Es… gibt keine Steinsammlung. Ich… sammle gar keine Steine!“
Und in diesem Augenblick spürte sie, wie sie errötete. Nicht wie vor ein paar Tagen, als sie noch verlegen gewesen war, sondern diesmal aus reiner Wut. Für sie stand fest, er hatte sie belogen. Und das war nach der vergangenen schönen Woche für sie wie ein Stich ins Herz.
„Moment“, wurde ihr Ton jetzt schärfer, „was stimmt hier jetzt nicht? Hast du mir nicht zu unserem ersten Treffen einen wunderschönen, großen, glatten Stein aus deiner Sammlung geschenkt?“ Sie legte den Kopf schief und erwartete eine klärende Antwort. Diese bekam sie an den Kopf geknallt wie einen Steinwurf:
„Du weißt gar nicht, wie lange ich nach der Schule danach im Wald gebuddelt habe um ihn dir abends mitzubringen!“, redete er sich jetzt auf einmal in Fahrt.
Sie war stinkesauer: „Du willst mir jetzt sagen, du hast deine Steinsammlung nur erfunden und mir den Stein mitgebracht, um dich an mich ranzumachen?“, fauchte sie ihn bitterböse an.
„Nun ja“, zwinkerte er ihr zu – der Kerl war mittlerweile so selbstsicher geworden, seit die Sache raus war, dass es ihren Blutdruck immer höher trieb –, „anscheinend hat es ja funktioniert!“
Sie konnte nichts mehr sagen. Wie dreist war das denn, der Kerl sagte, was er dachte. Er hatte eine klare Linie: Er hatte sie gewollt und alles dafür getan. Seine Lüge missfiel ihr, aber sie war die Grundlage dafür, dass er jetzt in diesem Moment absolut ehrlich und offen zu ihr war. Und der Motor von diesem allem war, dass er sie wollte, mit ihr zusammen sein wollte. Und das hatte er bis zu diesem Zeitpunkt alles geschafft. Nun lag es eigentlich nur an ihr, ob sie diesem Jungen, der sie so positiv überrascht hatte, weil er so ganz anders als die anderen Jungs war die sie bisher kennengelernt hatte, die eine, letzte große Chance ihrer Begegnung geben würde: Ihm erlauben, ihr Freund zu sein, und damit sie beide ein Paar. Und als ihr diese Gedanken in Sekundenbruchteilen durch den Kopf schossen, verrauchte ihr Ärger in Luft. Ja, Daniel war außergewöhnlich und er hatte Recht: Er wollte sie von sich überzeugen. Und ja, er hatte es geschafft!
Sie spürte, dass die Wut in ihr verschwand und die Röte ihr Gesicht verließ. Sie schaute ihm tief in die Augen und er erwiderte diesen tiefen Blick etwas überrascht.
„Anscheinend hat es das…“, flüsterte sie fast.
Und dann sah sie sein Gesicht, ganz, ganz langsam auf sich zukommen.
Als er sie dann ganz vorsichtig und zärtlich auf den Mund küsste und sie es zuließ, wusste sie, dass er nun die Chance genutzt hatte, die sie ihm gegeben hatte: Sie waren ein echtes Paar, Freund und Freundin.
Und während sie das unglaublich wohlige Gefühl, die Schmetterlinge die bei diesem Kuss in ihrem Bauch flatterten, genoss, wusste sie, dass sie sich heute Abend, wenn sie wieder allein nach Hause kam, bestimmt nicht dafür schämen würde, wenn sie sich vor ihrem Bett auf die Knie sinken lassen und Gott danken würde, dass er ihr Gebet wieder erhört hatte. Die Hoffnung, endlich den Richtigen zu finden, die sie so lange getragen hatte, hatte heute die Gewissheit gefunden.