Читать книгу Das Erbe der Macht - Band 32: Sigilschwingen - Andreas Suchanek - Страница 6

1. Nächste Schritte

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Alles wirkte so idyllisch.

Jen starrte durch das Fenster und betrachtete die Wolken. Im Unterschied zu sonst sah sie diese heute aus anderer Perspektive – von oben. Joshua hatte Wort gehalten und ihnen einen sicheren Unterschlupf geschaffen. Ein Haus, das im Himmel schwebte. Getragen von einem Fundament aus Bernstein, in das ein Permanentzauber eingewoben war. Eine Illusionierung hatte diese Zuflucht unsichtbar werden lassen.

»Die Wolken sehen aus wie ein Meer unter uns«, sagte Jen leise zu sich selbst.

Die Sonnenstrahlen kitzelten ihr Gesicht. Sie spürte Wärme und Frieden.

Und einen Körper.

Ihren eigenen.

Wie lange war sie nicht mehr gewesen als pure Gedanken, in Form gehalten von einem magischen Artefakt; davor bewahrt, als Geistessplitter in der Zeit verloren zu sein.

In den vergangenen Tagen hatte sie Schaumbäder genommen, war auf dem Balkon durch die frische Luft spaziert, hatte ihre Muskeln trainiert. Jedes Gefühl hatte sie genossen, jede Berührung.

Sie blickte hinüber zum Bett, wo Alex noch immer schlief. Er lag quer auf der Matratze, wie immer, sobald sie das Bett verlassen hatte. Sein brauner Haarschopf lugte zerzaust hervor, während die Decke den Rest seines Gesichts bedeckte. Seine Füße hatte er natürlich freigestrampelt. Bei jedem Atemzug bewegte sich der Deckenhügel. Er atmete regelmäßig und entspannt, was ein gutes Zeichen war.

Die vergangenen Tage hatten sie alle bis ans Limit gebracht, aber wenigstens nicht darüber hinaus. Alex schlief die meisten Nächte durch. Im Gegensatz zu ihr. Immer wieder schreckte sie hoch und überprüfte, ob ihr Körper noch da war, ob Haut und Knochen nach wie vor existierten.

Sie schlüpfte in die Jogginghosen, streifte sich ein Shirt über und schlich aus dem Raum. Sollte Alex noch etwas schlafen. Sie benötigten ihre Kräfte für das, was ihnen bevorstand.

Eines musste man Joshua lassen: Er hatte vorgesorgt. Immer wieder war er aus dem Zeitschlaf gekommen, wobei er direkt auch dieses Haus ausgestattet hatte. Mit Kleidung, Nahrungsmitteln, Kaffee.

Sie lebten in purem Luxus, weitab von jedem Problem. In einer fliegenden Villa. Es hätte ein wunderbarer Urlaub sein können, doch stattdessen tickte die Uhr. Kevins Tat hatte die Zeitlinie gesplittet in jene, die sie kannten, und eine zweite, die einer Dystopie ziemlich nahekam. Der Anbeginn war dort stärker, machtgierige Magier hatten die Kontinente und Länder unter sich aufgeteilt, und ein ominöses Institut herrschte über die Verteilung von Sigilen.

Irgendwo gab es ein Portal, das beide Seiten verband. Es war für sie der Weg nach Hause. Zurück zu ihren Freunden.

»Und wir müssen ja auch nur Artus und Kevin finden, den Übergang und das alles, und zwar noch rechtzeitig, bevor unsere Zeitlinie ausradiert wird.«

Sie aktivierte die Kaffeemaschine, die mit einem Summen zum Leben erwachte. Wie aufs Stichwort schoss der Körper eines jungen Mannes vorm Fenster vorbei. Mit ausgebreiteten Flügeln setzte Tyler auf dem Balkon auf. Wie so oft mittlerweile trug er weiße 1980er-Sneakers, verschlissene Jeans und ein Hemd. Auf seinem Gesicht lag ein versonnener Ausdruck, wie immer, wenn er von einem Rundflug zurückkehrte. Er stürzte sich in die Wolken, flog hinauf Richtung Sonne, badete im Licht. Pure Freiheit.

»Guten Morgen«, begrüßte er sie.

»Morgen.«

Es folgte eine kurze Umarmung.

»Hast du dich auf magische Art mit der Kaffeemaschine verbunden?«, fragte Jen. »Du tauchst immer auf, wenn sie angeschaltet wird.«

Tyler grinste über beide Ohren und wirkte dadurch wie eine jüngere Version seines Vaters Chris. Das traf auch auf die Muskeln zu. »Das ist so toll. Man drückt auf einen Knopf und frischer Kaffee fließt in die Tasse.«

Jen lachte leise. Tyler war zuerst in einem Splitterreich aufgewachsen, bevor er später in die normale Welt gewechselt war und in der Vergangenheit gelebt hatte. Mit den Zeitreisenden hatte er dann die Wall-Erschaffung erlebt oder das Chaos, das Kevin angerichtet hatte. Von moderner Technik wusste er quasi nichts.

»Warum schaust du mich so an?«, fragte er und wirkte prompt noch jünger.

»Ich denke darüber nach, wie du reagierst, sobald du Computer und Smartphones kennenlernst«, sagte Jen.

»Ach«, Tyler winkte ab, »Joshua hat mich doch einmal aus dem Bernstein geholt, damit ich ihm bei einem Diebstahl helfe. Du weißt schon.« Er nickte mit dem Kopf in Richtung Arbeitszimmer. »Da habe ich mir so einen Computer angeschaut. Man sitzt die ganze Zeit vor diesem schwarzen Glasding …«

»… Monitor.«

»… und gibt irgendwelche Wörter ein. Und einmal habe ich gesehen, wie sie eine Karte mit Löchern benutzt haben, um ein Buch von einem mechanischen Arm aus einer Bibliothek herauffahren zu lassen.« Er schüttelte den Kopf. »Mit einem Zauber geht das viel effektiver.«

Jen grinste innerlich. »Ich gehe jede Wette ein, dass du mit dem ersten App-Spiel nicht mehr vom Smartphone aufsehen wirst.«

»Wie du meinst.« Er glaubte ihr offensichtlich kein Wort, linste aber ständig hinüber zum Kaffeevollautomaten.

»Der erste gehört mir«, stellte Jen klar.

»Du warst gestern wieder so lange wach, oder?«

»Nicht zu lange.«

»Aber nur, weil Alex dich geschnappt hat und ihr dann … äh … ins Schlafzimmer verschwunden seid.« Seine Wangen nahmen einen zarten Rotton an.

Jen beschloss, darauf nicht näher einzugehen. »Wir müssen den Übergang finden.«

»Ihr habt euch also entschieden.«

Jen nickte nach einem kurzen Zögern. »Zuerst das Portal. Unsere Seite muss wissen, was auf dem Spiel steht. Weißt du, hier spielt Merlin keine Rolle. Drüben sieht das anders aus. Der Widerstand ist komplett darauf fokussiert zu überleben, ihn zu stürzen. Die wissen gar nicht, dass eine Katastrophe bevorsteht.«

Tyler schob die Hände in seine Jeanstaschen und knabberte auf seiner Unterlippe. »Das verstehe ich doch. Aber Onkel Kevin hat das alles nicht aus böser Absicht getan. Wir müssen ihm helfen.«

»Ty.« Jen suchte seinen Blick. »Falls unsere Zeitlinie ausgelöscht wird, leben wir für immer in diesem Höllenloch. Und haben mit dem Anbeginn ein noch größeres Problem.« Sie deutete auf das Arbeitszimmer. »Ich habe die Unterlagen von Joshua studiert. Natürlich nicht alle. Er hat Geschichtswälzer zusammengetragen, Mentigloben wurden hier ja scheinbar verboten. Alles ziemlich restriktiv. Aber so weit ich das gesehen habe, ist der Anbeginn hier noch stärker als bei uns. Irgendwie findet er immer ein Schlupfloch.«

Jen nahm die Kaffeetasse, goss ein wenig Milch hinein und streute Zimt darüber.

»Das weiß ich«, sagte Ty. »Aber Onkel Kevin wollte meinen Vater zurückholen. Ich kann ihn nicht im Stich lassen. Wer weiß, was die ihm antun.«

»Wir werden ihn aufspüren«, versprach Jen. »Artus befindet sich in der Gewalt von Chris, das wissen wir durch Annora, dein Onkel vermutlich ebenfalls – und das ist immerhin sein Bruder, irgendwie. Joshua hat ein paar Zauber hinterlegt, außerdem Namen von Informanten. Einige stammen noch aus den 1980ern, aber wir können sie prüfen. Es gibt sogar Inkognito-Magie.«

Hinter der Schlafzimmertür rumorte es. Kurz darauf öffnete sich die Tür. Ein verschlafener Alex stand ihm Türrahmen und sah aus, als habe man ihn vor eine Flugzeugturbine gestellt.

»Guten Morgen«, sagte er. »Ihr seid ganz schön laut.«

»Es war doch garantiert der Kaffeegeruch, der dich geweckt hat, gib es zu.« Jen drehte sich so, dass er nicht an ihre Tasse herankam.

Ty schob schnell die eigene unter den Auslauf. »Ich war zuerst.«

Während die Jungs sich um den Kaffee stritten, ging Jen langsam ins Arbeitszimmer.

In einem riesigen Stapel aus handschriftlichen Notizen, Büchern und kryptischen Zeichnungen lag die Wahrheit verborgen.

»Nur wo?«

Jen trank einen Schluck und ging an die Arbeit.

Das Erbe der Macht - Band 32: Sigilschwingen

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