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KAPITEL 1:

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Sonntags im Wald


«Der Nährboden meines Lebens entsteht aus dem Vorgelebten meines vertrauten Umfeldes.»

Wie jeden Sonntag gehörte es in unserer Familie zum wöchentlichen Ritual, sich in der Natur, dies meistens im Wald oder in den Bergen, zu bewegen. Neben den üblichen samstäglichen Gartenarbeiten war die Wanderung am Sonntag ein fester Bestandteil unserer Wochenroutine. Es war das Normalste der Welt und gehörte zu meinem Leben wie alle anderen Rituale, die von meiner Familie vorgelebt wurden. Erst viel später habe ich realisiert, dass dies nicht in allen Familien gleich war. Obwohl zwischendurch Ausnahmen oder Kompromisse gemacht wurden, war es für meine Eltern ein wichtiger Teil der Erziehung, uns 4 Kinder in die Natur zu führen. Das dort gebotene Unterhaltungsprogramm war für mich vollkommen: Es gab Bäume zum Klettern, Tannenzapfen zum Werfen, Hölzer zum Balancieren, Bäche zum Stauen und Büsche zum Verstecken. Für mich war es das Spielzimmer der großen Welt mit klaren Grenzen. Alles war bereits vorhanden. Ich musste mir nichts wünschen oder mit großem Aufwand von außen beschaffen. Suchen und finden reichten völlig aus. Es war einfach alles bereits da im Spielwald der Natur. Zum Teil waren es einzelne Bausteine, die wie bei Lego zuerst zusammengefügt werden mussten. Andererseits gab es von der Natur geformte Dinge, die wie bei Playmobil spielbereit waren. Für mich war dies die Überfülle, der Kreativität waren keine Grenzen gesetzt. Ich fühlte mich an diesen Orten richtig zu Hause. Sobald ein Waldrand auftauchte, wollte ich schnell wieder zurück in die Welt der Bäume. Felder sowie kleine Dörfer dienten nur als Brücken zwischen den Spielzimmern, die rasch überwunden werden mussten.

Bezüglich des Wetters gab es bei meinen Eltern keine Ausrede. Egal wie nass oder kalt es war: Wir waren draußen unterwegs und haben oft die Belastbarkeit unserer Kleider getestet oder überstrapaziert. Dies klingt bestimmt für die meisten nicht außergewöhnlich. Auch mir ist erst später aufgefallen, dass die Grenzen meiner Eltern in Bezug auf die Natur woanders lagen als bei anderen. In unserem Garten hatte mein Vater aus großen Telefonmasten aus Holz ein mehrere Meter hohes Turngestell gebaut, das ich in dieser Größe nirgends sonst gesehen habe. Mit Kletternetz, Reckstange, Trapez, Schaukel und einigem mehr. Sogar für ihn war das Gebilde grenzwertig. Eines Nachts träumte er mit Schweissausbrüchen vom Zusammenbruch seines Werkes über uns Kindern. Dies war für ihn so heftig, dass er am nächsten Tag das ganze Bauwerk demontierte und die Masten noch tiefer im Boden verankerte. Wie dieses Beispiel zeigt, war die Sicherheit ein Werkzeug, um die Natur noch intensiver zu erleben. Selten war sie die Grenze oder sogar ein Verbot. Solange es über einem noch Äste gab und der Stamm des Baumes sich nicht neigte, konnte man ohne Weiteres höherklettern. Bäche und Flüsse wurden durchschwommen, solange im Voraus die Kälte, die Strudel und die nächsten ruhigen Ausstiegsstellen erkundet worden waren. Eisflächen wurden grundsätzlich betreten, solange man sich der Tiefe des Wassers, der Nähe des Ufers und der Dicke des Eises bewusst war. Pulverschneehänge wurden meistens befahren, wenn man die Spur dem Schneeprofil und der Hanglage anpasste.

Die Bewegung an der frischen Luft war die Hauptsache. Sie war das Ziel. Mehr gab es nicht. Es standen kein Gipfel und kein bestimmter Weg auf dem Programm. Oft wurde zu Hause das mögliche Gebiet eingegrenzt, doch die Lage vor Ort konnte schnell zu einer neuen Entscheidung führen. Für meine Eltern war es kein Aufwand, weiter entferntere Wälder, Seen oder Berge auszuwählen und somit längere Autofahrten in Kauf zu nehmen. Ich kannte die verschiedenen Fahrstrecken bereits im Schlaf und wusste, welche Kurve nach welcher folgte. Für mich wurden diese Gebiete zu einem erweiterten Garten meines Spiels. Natürlich gab es zwischendurch Ausflüge, wo Kulturgüter auf dem Programm standen. Doch konnten diese nicht mithalten, wenn die Alternative eine zauberhafte Waldlichtung umgeben von großen, kräftigen Bäumen und sanftem Waldboden war.

Weg frei

Bei diesen Ausflügen entdeckte ich für mich die Freiheit, die Wege zu verlassen. Außer dass auf ihnen eine schnellere Laufgeschwindigkeit zu erreichen war, gab es für mich keinen Grund, Wege zu nutzen. Viel schöner war es, sich eigene Wege zu suchen und zwischen all den Bäumen und Büschen, Hindernissen und Gräben den passenden Weg zu finden. Je öfter ich es machte, desto erstaunter war ich, wie sich Schlupflöcher und Durchgänge erst bei genauerer Betrachtung ergaben. Dabei war es ein Balanceakt, keine Äste zu knicken und keine Spuren zu hinterlassen. Natürlich zeigte es sich schnell, dass es in unseren Wäldern fast keine wegfreien Zonen gab, solche, die nicht bereits von Wildtieren, Jägern oder Förstern betreten worden waren. In unserem Gebiet waren die Wälder zusätzlich von keltischen Grabhügeln und Schützengräben aus dem Ersten Weltkrieg durchsetzt, was ihre Unberührtheit erst recht zum Wanken brachte. Umso mehr motivierte es mich, in Wäldern die Orte zu finden, die sich unberührt und natürlich anfühlten. Diese nannte ich dann Feenlandschaften – Plätze, die eine bestimmte Reinheit ausstrahlten und wo sich die Natur auf ihre einzigartige Weise zeigen konnte. Dort fühlte ich mich wie zu Hause. Oft legte ich mich an solchen Orten flach auf den Waldboden, schloss die Augen und versuchte, mit der Natur eine Einheit zu bilden. Als würde sich jede Zelle meines Körpers mit dem Umfeld verbinden und eins werden. Da konnte ich ganz alleine für mich verweilen. Die Zeit verlor an Bedeutung. Es war für mich ein tiefes Gefühl der körperlichen Verbundenheit mit der Erde.

Reizvoll für meine Sinne

Neben diesen einzigartigen Stätten war der Wald unermesslich. Sobald die ersten Bäume den Waldrand verdeckten, zeigte sich mir die grenzenlose Größe des Waldes. Es war mir egal, wo er begann und wo er endete. In meiner Vorstellung ergab sich eine unendliche Weite. Alles war so intensiv und fühlbar, dass ich damals überwältigt war von all den unermesslichen Reizen. Öfters bewegte ich mich allein mit dem Tastsinn durch das Dickicht und die Baumstämme hindurch. Wie konnte die Natur nur so eine zauberhafte Vielfalt erschaffen? Auf einer Fläche von wenigen Quadratzentimetern fühlte sich ein junges zartes Blatt so sanft an wie eine Vogelfelder. Gleich daneben kratzte die Rinde von einer jahrhundertealten Eiche wie grobes Schmirgelpapier an der Handoberfläche. Wenn Zweige mein Gesicht berührten, wurde ich zum Teil leicht und zärtlich gestreichelt oder wie von einer harten Speerspitze am Weitergehen gehindert. Der Boden zeigte sich auf diesen Entdeckungsreisen von seiner abwechslungsreichsten Seite, wenn man die Augen geschlossen hatte. Leicht schwammiger Moosboden erzeugte kaum Widerstand beim Betreten und ließ das Gefühl aufkommen, langsam ins Bodenlose abzusinken. Und wenige Meter daneben führte eine nackte, glitschige harte Wurzel zu einem Seiltanz, um das Gleichgewicht beim Gehen zu behalten.

Die Reize für die Augen standen denen für den Tastsinn keinesfalls nach. Ich konnte stundenlang einem Sonnenstrahl zusehen, wie er sich einen Weg zwischen den Baumkronen und Blättern suchte, um irgendwo im Wald den Boden zu küssen. Und was ich damals nicht verstehen konnte: wie Sonnenlicht plötzlich auf seinem Weg durch die Luft als Strahl sichtbar werden konnte. Kein Nebel hing in der Luft und doch zeigten sich die Lichtstrahlen so klar und abgegrenzt, als hinge die Sonne als Lichtkörper direkt über den Baumwipfeln. Umso schöner leuchteten dann die Reflexionen am Boden auf den verschiedenen natürlichen Unterlagen; Blätter begannen in allen Farben zu strahlen. Die Holzrinde zeigte sich wie ein tiefer poröser Untergrund mit Schluchten und Bergen. Schattenwürfe der Baumstämme und Äste erzeugten eine neue, abstrakte Welt der Kontraste. Im Frühling zeigten sich die frischen Blätter und Tannennadeln im Wald in einem hellen leuchtenden Grün, als wären sie selbst die Lichtquelle. Der Herbst brachte mit den vergilbten Blättern eine Farbenvielfalt, auf die meine Augen oft mit Tränen reagierten. In dieser Zeit hatte sich die Sommerwärme bereits verabschiedet und die herbstliche Kälte brachte die Vorläufer des Winters. Doch die Buntheit der Blätter zauberte mit den Farben von tiefem Rot über Ockerbraun bis hin zu einem leuchtenden Gelb eine Wärme in die Augen, dass die Kälte kaum noch fühlbar war.

Die Düfte waren für mich im Wald so angenehm und intensiv, wie ich es kaum woanders erfahren konnte. Den Geruch des feuchten Waldbodens kann ich heute immer noch nicht beschreiben, doch war er für mich bereits damals als Kind unverkennbar. Er zauberte ein Gemisch aus pflanzlichen Ölen, Frische und Säure sowie milder Süße in die Luft. In der Nähe eines gefallenen Baumes oder eines frisch zersägten Stammes war der Duft von Holz so bezirzend, dass ich wie ein Süchtiger versuchte, diese Stoffe zu inhalieren. Vor allem im Winter, wenn frisch geschlagenes Holz im Wald lag, lag der Duft rein und magisch in meiner Nase.

Die Reize für mein Gehör waren im Wald mit denen für die anderen Sinne kaum vergleichbar. Was die Berührung, das Licht und der Duft mir als Zustände zeigten, waren für mich die Klänge ein Zeichen der Bewegung. Es fühlte sich an, als würde bei einem Geräusch in meinem Kopf ein ganz anderer Hirnbereich stimuliert. Obwohl ich mit meinen Augen oder mit meiner Haut Bewegungen feststellen konnte, waren diese Wahrnehmungen nie so tief greifend wie die über das Hörorgan. Das Gehörte erzeugte in Millisekunden eine grenzenlose Fantasie; ein Rascheln im Unterholz brachte eine Fülle an Tierbildern hervor.

Die Fantasie im Kopf führte zu einer tiefen Ruhe im Körper. Stillstand und absolute Bewegungslosigkeit wurden zu meinem gewohnten Verhalten, wie ein Reh, das den Kopf streckt und starr stehen bleibt. Es gab für mich im dichten Wald ja keine Rückzugsmöglichkeiten. Ich verharrte in dieser Haltung, um weitere Geräusche hören zu können und um meine Vorstellungskraft zu schärfen. Oft fühlte ich in mir eine innere Freude darüber, etwas Lebendiges aufzuspüren, und gleichzeitig ein Unbehagen, was das Unbekannte wohl sein könnte. Dieser Mix führte zu einem Freudenschreck, sobald ich sah, was es war. Mir blieb ein sanftes Lächeln auf den Lippen, wenn das Tier die Flucht ergriff und der Wald wieder in die tiefe Stille eintauchte.

Oh Tannenbaum

Unser Garten zu Hause war aus meiner Sicht sehr gepflegt. Doch stand in fast jeder Ecke und Nische irgendein Topf mit einer speziellen Pflanze. Mein Vater hat es sich zum Hobby gemacht, Tannen selbst zu ziehen. Von der Wahl der Samen über die Aufzucht bis hin zum Fällen und Verholzen bot sich der ganze Kreislauf in Miniatur im Garten an. Die Gartenplanung stand vor der Herausforderung, wo noch weitere Standorte für die Weihnachtsbaumzucht zu finden waren. Kein Weihnachtsfest ist mir in Erinnerung, an dem wir den Baum nicht selbst im Garten gefällt haben. Da unser Garten nicht riesig war, wuchsen einige Tannen sehr dicht beieinander und entsprachen nicht gerade dem Ideal eines Weihnachtsbaums, wie sie in den Katalogen für Festtagsschmuck abgebildet waren. Mein Vater führte mich deshalb in die Kunst des Tannenästeverpflanzens ein. Während die Nachbarn bereits dabei waren, Kugeln an ihren Baum zu hängen, sammelte ich noch weitere Tannenäste, um unserem Baum mehr Fülle zu geben. Dem mehrere Meter hohen Baum wurden an den freien Stellen im Stamm Löcher gebohrt und die zugespitzten Tannenäste in die Nischen eingepasst. Dies war unsere Schönheitschirurgie zur Weihnachtszeit. Im Wohnzimmer wurde er dann oft bis Ende Januar liebevoll gegossen und mit Wasser besprüht. Obwohl es vorbestimmt war, den Baum zu fällen, war mein Vater darauf bedacht, dieses Lebewesen mit Respekt und Dankbarkeit von der Keimung an zu pflegen und zu behüten. Ich habe dadurch Bäume erlebt, die mit mir gemeinsam gewachsen sind. Sie waren nicht einfach nur Holz – sie waren ein Teil der Natur, voller Leben und mit einer besonderen Bedeutung. In all den Jahren im Garten boten sie Tieren einen Lebens- und Schutzraum.

Haut der Erde

Aus einem bunten Kinderbuch zum Thema Wälder auf unserem Planeten habe ich erfahren, dass die Bäume das Lebenselixier einer intakten Natur sind. Die Bäume beschützen die zarte Haut der Erde und alles Leben im Wald. Die Wurzeln bilden den Untergrund. Die Stämme und Äste bedecken den Boden vor dem grellen Sonnenlicht und bieten Schutz vor Wind und Schnee. Blätter und Nadeln liefern Sauerstoff und halten die Feuchtigkeit am Boden. Es herrscht ein eigenes tropisch feuchtes Klima in jedem Wald. Die aufsteigende Feuchtigkeit führt zu Wolken und Niederschlag und der feuchte Boden speichert Wasser und gibt es in Form von Quellen wieder an die Oberfläche ab. Die Blätter sowie das Holz enthalten Nährstoffe für alle Waldbewohner. Es ist ein intaktes in sich geschlossenes System, das einen der wichtigsten Kreisläufe schließt. Jede Rodung führt unweigerlich zu einer umfassenden Veränderung des Klimas. Starke Sonneneinstrahlung trocknet den Boden aus. Die Vegetation verändert sich und dadurch gibt es weniger Tiere. Es gibt weniger Wolken und somit seltener Niederschläge. Stürme wehen ungebremst über die Landfläche. Wenn es dann regnet, kommt es zu Sturmfluten, da der Boden nicht genug Wasser aufnehmen kann. Es gibt keine Stämme, die das Wasser bremsen. Schneemassen führen unweigerlich zu Lawinen, wenn kein Schutzwald sie zurückhält. Der Wald ist von Natur aus ein zentraler Bestandteil einer intakten Welt. Dies durfte ich als Kind mit all meinen Sinnen erleben und es hat mich tief geprägt.

Reflexion zum Wald

Wie bei einem Baum im Wald wird mir in der Kindheit ein Nährboden angeboten, in den ich meine Wurzeln schlagen darf. Ich bin umgeben von anderen, die mich versorgen und beschützen und meine Weitsicht bestimmen. Es wird mir vorgelebt, in welche Richtung ich wachsen und mich entfalten kann. Die Höhe und Weite meiner persönlichen Entwicklung fügt sich in den Rahmen meines Umfeldes ein. Im Gegensatz zu Bäumen habe ich jedoch Hände, um mein Leben nach eigenem Ermessen zu gestalten. Ich habe Beine, um den Nährboden zu suchen, der zu meinen Wünschen passt.

In meinem Leben stelle ich mir laufend viele Fragen. Sie helfen mir, meine Wurzeln zu erkennen und meine Richtung des Wachstums zu bestimmen. Ich lade dich gerne ein, dir die folgenden Fragen zu stellen und mit Deinen Antworten neue Erkenntnisse zu gewinnen.

 In was für einem Umfeld bin ich aufgewachsen?

 Welcher Nährboden stand mir zur Verfügung?

 Wo fanden meine Wurzeln Halt und Kraft fürs neue Leben?

 Welche Entfaltungsmöglichkeiten wurden mir vorgelebt?

 Was und wer hat mich dabei inspiriert?

 Was verzaubert mich in einem Wald?

 In welchem Wald steht mein Lieblingsbaum?

 Wann laufe ich abseits vom Weg quer durch den Wald?

 Wo bin ich auf einen hohen Baum geklettert?

 Wann habe ich das letzte Mal einen Baum gepflanzt?

Heimweh Natur

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