Читать книгу HAUSER - IMMER FESTE DRUFF! - Andreas Zwengel - Страница 6
Im Auftrag von Boris
ОглавлениеHauser lebte streng nach der Maxime, dass Planung nur der Ersatz des Zufalls durch den Irrtum sei. Deshalb verzichtete er darauf, dem Universum allzu lenkend ins Handwerk zu pfuschen. An diesem Morgen musste er allerdings feststellen, dass mangelnde Planung die Abwesenheit von Kaffee, Brot und Milch am Frühstückstisch zur Folge haben konnte. Also machte er sich zu einer Uhrzeit, die er trotz Sonnenschein definitiv noch zur Nacht zählte, auf den Weg zur Bäckerei seines Vertrauens.
Wenn er seine Wohnung verließ, lauschte er zuerst in den Flur hinaus, ob seine Nachbarn unterwegs waren. Er fand Smalltalk unglaublich schwer und anstrengend, obwohl dabei doch nur die üblichen Belanglosigkeiten ausgetauscht wurden.
Hauser war in der Straße bekannt und wurde wie ein zutrauliches Haustier behandelt. Die Leute hielten ihn für einen Exoten und Exzentriker, doch niemand verspürte den Drang, sich über ihn lustig zu machen. Er wurde selbst von Leuten toleriert, die Toleranz nicht unbedingt zu ihren Kernkompetenzen zählten. Vielleicht lag es an der Gleichmütigkeit und an dem völligen Mangel an Aggression, die er ausstrahlte.
Hauser mochte die Großstadt. Er konnte sich nicht vorstellen, auf dem Land zu leben. Nicht einmal eine kleinere Stadt kam für ihn infrage. Und wie die meisten Frankfurter hatte Hauser nichts dagegen, wenn die Weltgeschichte einen großen Bogen um die Stadt machte. Sollte sie ihr Anliegen doch in Offenbach vorbringen.
Als er aus der Bäckerei trat, einen Becher Kaffee in jeder Hand und ein Frikadellenbrötchen zwischen den Zähnen, entdeckte er Melanie Beck auf der anderen Straßenseite. Seine unbezahlbare Souffleuse lehnte an einem Laternenpfahl, der mit mehreren Schichten aus Aufklebern und Kleinanzeigen beklebt war, sodass man erst ab einer Höhe von zwei Metern aufwärts das Metall sehen konnte. Auf dem gepflasterten Parkstreifen vor ihr stand ein schmutziger Corsa. Sie schien auf ihn zu warten.
Hauser war überrascht, sie so schnell wiederzusehen. Er berichtigte sich: Tatsächlich war er überrascht, sie überhaupt noch einmal wiederzusehen. Er stellte die beiden Kaffeebecher aufs Autodach und nahm das belegte Brötchen aus dem Mund, um ein ausgesprochen selbstzufriedenes Grinsen aufzusetzen. »Ich weiß um meine Wirkung auf …«
»Oh bitte, ersparen Sie mir das. Ich bin bestimmt nicht freiwillig hier. Mein Chef möchte Sie sprechen.«
»Boris Schneider?«
»Ich habe nur den einen Chef.«
»Weshalb will er mich sehen?«
»Ihre Leistung hat ihn sehr beeindruckt.« Der Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Hauser war überrascht. »Dann hast du ihm nicht erzählt, wie es abgelaufen ist?«
»Nicht die Vorstellung auf dem Polizeirevier. Die Ermittlungsarbeit, die Sie vorher geleistet haben.«
»Ach so. Worum geht es?«
»Das weiß ich nicht. Eine Modeberatung können wir wohl ausschließen. Ich nehme an, er hat einen Auftrag für Sie. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Aber ich würde die Angelegenheit gern rasch hinter mich bringen. Also, einsteigen!«
Melanie startete den Motor. Kaum hatte Hauser auf dem Beifahrersitz Platz genommen, galt seine ganze Aufmerksamkeit dem Kaffee, den er unbedingt in den Bechern behalten wollte. Das Brötchen hatte er vor dem Einsteigen mit vier raschen Bissen verschlungen und nun trank er abwechselnd aus beiden Bechern, um den Pegel darin rasch zu senken. An der Ampel vor der Friedensbrücke schüttete er die Kaffeereste in einem Becher zusammen, damit er eine Hand zum Festhalten am Türgriff nutzen konnte. Die Fahrt dauerte weniger als zehn Minuten, was nicht an der Kürze der Strecke lag, sondern an der Geschwindigkeit, mit der Melanie diese zurücklegte. Glücklicherweise waren dem Kleinwagen Grenzen gesetzt, was die Beschleunigung betraf, und so blieben sie die meiste Zeit auf der eigenen Fahrspur. Trotzdem war Hauser anschließend der Meinung, genug Aufregung für diesen Tag gehabt zu haben.
Das Büro von Boris Schneider lag am nördlichen Mainufer, in einem der gläsernen Paläste, die auf dem ehemaligen Gelände der Degussa errichtet worden waren. Gebäude und Lage unterstrichen noch einmal die Exklusivität von Schneiders Kanzlei und damit auch die seiner Kunden. Der Mann schien ausgezeichnet zu verdienen. Eine Eigenschaft, die Hauser bei seinen eigenen Klienten sehr schätzte.
Melanie fuhr in die Tiefgarage und stellte den Corsa zwischen Fahrzeugen ab, die etliche Preisklassen über ihm lagen.
»Ich muss dich bei der Gelegenheit auch mal zu mir einladen«, sagte Hauser, als sie mit dem gläsernen Aufzug ins Obergeschoss fuhren.
»Ich wohne hier nicht, ich arbeite hier nur«, gab sie giftig zurück, als hätte er ihr irgendetwas unterstellt. Als der Aufzug hielt, blickte Hauser weiter nach oben.
»Was ist über uns?«
»Dort befindet sich die Privatwohnung von Herrn Schneider.«
Hauser pfiff beeindruckt. »Ein Penthouse am Main. Langsam verstehe ich, warum dein Boss auf keinen Fall in den Knast wollte.«
Er trabte fröhlich hinter ihr her durch die Glastür und den verlassenen Empfangsbereich. Außer Melanie schien um diese Uhrzeit noch niemand hier arbeiten zu müssen. Sie erreichten ein lichtdurchflutetes Büro mit einer phänomenalen Aussicht durch die riesige Panoramascheibe. Hauser gab einen anerkennenden Laut von sich. Als er sich in dem Raum umschaute, stellte er fest, dass die Inneneinrichtung trotz der Flusslage nicht aus nautischen Objekten bestand, sondern eher den Eindruck erweckte, Schneider habe einen Hessenshop geplündert. Hausers Blick blieb an der erdrückenden Fülle an Devotionalien hängen, die eine tiefe Verbundenheit mit der Stadt Frankfurt und dem umgebenden Bundesland ausdrückten.
»Einen Moment, ich hole Herrn Schneider«, sagte Melanie und ließ ihn allein. Hauser sah sich um, spazierte am Schreibtisch entlang und tippte beiläufig auf dem Laptop herum. Er sammelte einige herumliegende Zettelblöcke ein und steckte sie in seinen Beutel. Für jemanden, der von seinen Notizen abhängig war, durfte der Nachschub nicht abreißen. Kein Gratiskugelschreiber war vor ihm sicher und mit Post-its könnte er ganze Räume tapezieren. Ohne dass ihm das bewusst gewesen wäre, hatte er in den vielen Jahren seiner Detektivarbeit noch nie für Büromaterial bezahlt.
Boris Schneider kam telefonierend herein, beendete das Gespräch und knipste ein professionelles Lächeln an. »Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, mich zu bedanken«, sagte er und packte die Hand des Detektivs, bevor dieser sie richtig ausstrecken konnte. Dann bewegte er Hausers Arm auf und ab, als müsste er eine störrische Wasserpumpe bedienen. Hauser wurde zusehends unwohl. Schnell befreite er sich aus dem Griff und ging auf Abstand. Die Freundlichkeit des Anwalts war alarmierend. Er sah hilfesuchend zu Melanie, die sich im Hintergrund hielt, ihm aber keine Signale zur Flucht gab.
Schneider marschierte um seinen Schreibtisch herum und ließ sich in den Stuhl fallen. »Kommen wir zum Geschäft!«
Hauser fiel auf, dass Schneider sich entgegen seiner Ankündigung noch nicht bei ihm bedankt hatte. Der Mann wirkte in seinem Büro völlig anders als auf der Polizeistation. Vor allem war seine Gesichtsfarbe annähernd normal und besaß nicht mehr diesen cholerischen Teint.
Selbstbeherrschung und Verstellung gehörten für den Anwalt zum Handwerkszeug seines Berufs. Wer Boris Schneider besser kannte, wusste, dass er zum Ausgleich und zur Psychohygiene Jahreskarten fürs Stadion besaß. Die einzige Großveranstaltung, die der Anwalt nicht zur Kontaktpflege besuchte. Sein Verhalten bei den Spielen der Eintracht eignete sich auch kaum dazu, neue Freunde zu finden. Er befleißigte sich dort einer Sprache, die Hooligans peinlich berührt abrücken und Väter ihren Söhnen die Ohren zuhalten ließ. Wie für viele andere Fußballfans auch diente ihm ein Stadionbesuch als Therapie und Katharsis. Die Unterwürfigkeit, mit der er seinen Mandanten begegnen musste, ließ er auf dem Parkplatz zurück.
»Ich habe mich über Sie informiert, Hauser. Man erzählt sich interessante Dinge über Sie. Angeblich sind Sie mindestens so clever wie Sherlock Holmes. Sie wissen schon, so Zeug wie: Sie hielten sich die letzten drei Monate auf Madagaskar auf, hatten als Siebenjähriger einen Reitunfall und ihr Cousin dritten Grades mütterlicherseits ist ein direkter Nachfahre des Dalai Lama.« Schneider lachte herzlich über seinen eigenen Scherz.
Hauser spielte mit dem Gurt seines Beutels und zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie auf sowas stehen, kann ich natürlich damit dienen: Sie wurden auf Helgoland geboren, haben eine Lehre als Einzelhandelskaufmann gemacht, waren zweimal verheiratet und haben einen siebzehnjährigen Sohn, der sich nur an Ihrem Geburtstag meldet. Sie mögen schnelle Autos, waren dieses Jahr auf Teneriffa und Kreta, sprechen drei Sprachen und üben sich in Ihrer Freizeit in Kalligrafie. Außerdem sind Sie patriotischer Frankfurter und verehren die Eintracht.«
Schneider war sprachlos und sogar Melanie hob überrascht eine Augenbraue. »Du lieber Himmel, das ist alles richtig«, entfuhr es Schneider ehrfürchtig. »Melanie, hast du das gerade mitgekriegt?«
»Ich war anwesend.«
»Der Mann ist ein verdammtes Genie. Woher wissen Sie das alles über mich?«
»Berufsgeheimnis.«
»Kommen Sie schon!«
Hauser wies auf den Laptop. »Ihr Facebook-Account ist offen.«
»Haben Sie etwa meine Einträge gelesen?«
»Ich dachte, wenn es die ganze Welt darf, dann würden Sie es mir auch zugestehen.«
Schneider schien in Schnappatmung verfallen zu wollen, doch dann vollzog er einen innerlichen Kurswechsel und begann schallend zu lachen. »Das ist genau die clevere und kaltschnäuzige Vorgehensweise, die ich mir wünsche«, sagte er und wies auf den freien Sessel vor seinem Schreibtisch. »Ich habe ein Problem, bei dem Sie mir behilflich sein könnten, aber dazu müsste ich weiter ausholen.«
Hauser stellte seinen Beutel neben den Sessel und setzte sich. Er streifte die Schuhe von seinen Füßen und brachte sich in eine halb sitzende, halb liegende Position.
Boris Schneider sah zu, wie der Detektiv sich gemütlich einrichtete. »Äh, so lange wird die Geschichte vielleicht doch nicht.«
Hauser machte lächelnd eine auffordernde Handbewegung loszulegen und faltete die Hände vor dem Bauch.
»Also, Sie sollen fünf Personen für mich ausfindig machen.«
»Das ist quasi mein Job«, sagte Hauser und rechnete sich aus, was ihm ein dauerhaftes Arrangement mit einem Promi-Anwalt einbringen könnte. Wer Klienten wie den alten Ludlow betreute, der rechnete sicher einen ordentlichen Stundensatz ab. »Worum geht es? Eine Erbschaft?«
»Äh, ja, das ist tatsächlich der Fall.«
»Obwohl natürlich Ehebruch mit fünf beteiligten Personen noch viel interessanter wäre«, grinste Hauser und bemerkte Melanies Augenrollen. Es hielt es für angebracht, ein paar Pluspunkte bei ihr zu sammeln. Das würde er als Nächstes in Angriff nehmen.
Schneider nahm eine Akte von dem Stapel rechts von ihm, legte sie vor sich und begann zu erzählen, ohne den Hefter aufzuschlagen. »Es handelt sich um eine Erbschaftsangelegenheit. Ein Mandant hat vor seinem Tod verfügt, dass ein Teil seines Nachlasses an fünf Menschen weitergegeben wird, ohne dass seine leiblichen Verwandten davon erfahren. Um moralischen Bedenken Ihrerseits vorzubeugen, kann ich versichern, bei Letzteren handelt es sich um sehr vermögende Menschen, die keine Erbschaft benötigen, um auch weiterhin als steinreich zu gelten. Natürlich würden sie aus reiner Gier alles dafür tun, um auch an dieses Geld zu gelangen.« Schneider machte ein Gesicht wie kurz vor der Heiligsprechung. »Es geht nur darum eine Erbschaft an die richtigen Personen zu verteilen, nämlich an diejenigen, die den Verstorbenen gemocht und unterstützt haben. Sie wären ein moderner Robin Hood, Herr Hauser.«
»Robin Hood finde ich gut. Kann Ihr Mandant denn nicht vererben, an wen er will? Gibt es kein Testament?«
»Er hat es nie schriftlich festlegen lassen, nur ich wusste von diesem Wunsch. Außerdem sind die Verwandten wie gesagt vermögend und könnten mit teuren Anwälten einen jahrzehntelangen Rechtsstreit anzetteln. Die fünf Begünstigten hätten keine Chance, zu Lebzeiten an das Geld zu kommen.«
»Fünf Erben und Sie können keinen von ihnen finden? Das klingt merkwürdig. Man hinterlässt doch Spuren, selbst bei einem Umzug.«
»Ich weiß es leider nicht.« Boris schob den Schnellhefter über den Tisch. »Fünf Personen. Drei Frauen und zwei Männer. Zwei davon ein Ehepaar.«
»Welche Art von Ehepaar?«
»Bitte?«
»Mir fallen drei Kombinationsmöglichkeiten ein.« Hauser hob die Hand, um sie einzeln aufzuzählen.
»Die … äh … altmodische«, stammelte der Anwalt.
»Und wie haben Sie diese fünf Personen verloren?«
»Sie sind einfach verschwunden, irgendwann am frühen Montagmorgen. Alles, was ich über sie weiß, ist in dieser Akte enthalten. Melanie hat einiges an Vorarbeit geleistet und die Personen überprüft.«
Hauser beugte sich vor, zog den Hefter vom Tisch und blätterte ihn rasch durch.
»Die haben alle im selben Haus gewohnt«, sagte Hauser stirnrunzelnd, »und an keiner Adresse, an der man einen vermögenden Mann vermuten würde.«
»Das ist richtig.«
»Der Fall könnte doch interessanter sein, als es auf den ersten Blick aussieht«, sagte Hauser. »Ich vermute mal, die sind nicht gemeinsam in den Urlaub gefahren. Sind sie freiwillig mitgegangen oder hat man sie entführt?«
Boris machte ein Gesicht, als sei er noch gar nicht auf die Idee gekommen.
»Vielleicht wäre es hilfreich, wenn ich mehr über den Verstorbenen wüsste«, fuhr Hauser fort. »Es hat doch nichts mit Ludlow zu tun, oder?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich habe durchaus noch weitere Klienten.«
»Genau genommen haben Sie diesen Klienten nicht mehr. Zumindest, sobald Sie seinen Nachlass abgewickelt haben.«
»Danke für die Erinnerung«, sagte Boris sarkastisch.
»Gern geschehen«, antwortete Hauser so unbefangen, als würde er Untertöne nicht bemerken. »Ob die Witwe Ludlow weiterhin Ihre Dienste in Anspruch nimmt, ist auch nicht sicher.«
»Jedenfalls hat das Verschwinden der Fünf nichts mit dem Namen des Verstorbenen zu tun. Das versichere ich Ihnen.« Boris Schneider rutschte unruhig auf seinem Sessel herum. Der Gesprächsverlauf gefiel ihm nicht, das merkte jeder außer Hauser.
»Wie können Sie da so sicher sein?«
»Ich weiß es eben«, beharrte Schneider.
»Woher?«
»Können wir es bitte darauf beruhen lassen?«
»Ich dachte nur, es könnte hilfreich sein, wenn ich sämtliche Informationen zu diesem Fall hätte. Auch wenn Ihnen manche Fakten unwichtig erscheinen, können sie in bestimmten Situationen vielleicht entscheidend weiterhelfen«, sagte Hauser, während er weiter die Akte durchblätterte. Als nach einer Weile noch keine Antwort gekommen war, blickte er von den Papieren auf und sah Boris Schneider in einem ähnlichen Gemütszustand, wie er ihn schon vom Polizeirevier her kannte. Der Anwalt wollte wohl wirklich nicht mit dem Namen herausrücken.
»Also gut, dann ohne weitere Informationen«, sagte Hauser beschwichtigend und klappte den Hefter zu.
Boris kühlte langsam auf normale Betriebstemperatur herunter. »Ich verlange ja nicht, dass Sie diese Leute hier abliefern. Sie sollen sie nicht mal zu einem Treffen mit mir überreden. Ihr Job besteht einzig und allein darin, den Aufenthaltsort ausfindig zu machen und mir mitzuteilen. Um alles Weitere kümmere ich mich selbst.« Der Anwalt schnipste mit dem Finger, als sei ihm noch etwas eingefallen. »Die Behörden dürfen nicht eingeschaltet werden, die Suche soll nirgendwo schriftlich vermerkt sein«, teilte er in einem Tonfall mit, den er für Belanglosigkeiten reserviert hatte.
Hauser seufzte. »Sind Sie sicher, dass Sie nichts ausgelassen haben, um diesen Auftrag noch schwerer zu machen, als er ohnehin schon ist? Wenn diese Leute nicht gefunden werden wollen, kann das eine ganze Weile dauern.«
»Zeit ist allerdings ein entscheidender Faktor. Was für einen Wagen fahren Sie?«, fragte Schneider.
»Ich habe gar kein Auto«, antwortete Hauser mit starkem italienischen Akzent. Doch dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, kannte Boris den alten Werbespot nicht.
»Ich könnte Ihnen einen Wagen zur Verfügung stellen. Sie müssen für diesen Fall mobil sein.«
»Ich habe auch keinen Führerschein, sondern nutze die öffentlichen Verkehrsmittel.«
»Ach herrje, dann gibt es bei Ihren Ermittlungen wohl nicht oft Verfolgungsjagden, was?«, grunzte der Anwalt. »Sind Sie aus irgendwelchen ideologischen Gründen gegen Autos?«
»Sie meinen so abwegige Spinnereien wie Umweltbewusstsein? Nein, ich war nur nie in der Verlegenheit, einen Führerschein machen zu müssen.«
Schneider wandte sich dann an Melanie: »Such dir unten einen Wagen aus.«
Melanie hatte das Gespräch bisher schweigend verfolgt und nur darauf gewartet, endlich gehen zu können. Sie betrachtete ihre Aufgabe als erledigt. Schlimmstenfalls würde sie Hauser noch nach Hause zurückfahren müssen, aber auch das nur äußerst ungern. Als die Worte ihres Chefs in ihr Bewusstsein drangen, ruckte ihr Kopf alarmiert in seine Richtung.
Doch Schneider hatte sich zu Hauser gedreht. »Melanie wird Sie während der gesamten Zeit unterstützen.«
Hauser sah grinsend zu Melanie. »Wird sie das?«
»Werde ich das?« Melanie durchbohrte Schneider mit ihrem Blick.
Hauser zuckte mit den Achseln. »Ich brauche eigentlich keine Assistentin.«
Schneider ließ nicht mit sich reden. »Sie sollten sie nicht nur als Assistentin sehen, Hauser, mehr so eine Art … Betreuerin. Sie wird Ihnen die Tücken der modernen Welt vom Hals halten.«
Melanie trat neben ihren Chef an den Schreibtisch. »Was habe ich denn falsch gemacht? Sag es mir, und uns wird eine andere Form der Bestrafung einfallen.«
Es schien ihr nichts auszumachen, dass Hauser jedes Wort mitbekam.
Schneider lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und sah zu ihr auf. »Also hör mal, was redest du denn? Ich mache das, weil ich so viel von deiner Arbeit halte und die Angelegenheit für mich so wichtig ist.«
»Na klar«, höhnte Melanie.
»Dieser Auftrag hat absolute Priorität, es geht leider nicht anders«, beharrte Boris und sah Hauser an. »Sie haben sicher mitbekommen, welches Opfer dieser Auftrag für meine Assistentin bedeutet. Deshalb möchte ich Sie bitten, in diesem Fall besonders schnell zu arbeiten, um sie nicht unnötig leiden zu lassen.«
Hauser sah nachdenklich von einem zum anderen. »Ihr beiden wollt mich doch auf den Arm nehmen, oder? Also wenn ich nur das kleinste bisschen Selbstachtung hätte, würde ich mir das nicht bieten lassen.« Er nahm seinen Beutel auf und erhob sich. »Außerdem steht es doch in Ihrer Macht, diese Bürde von ihr zu nehmen.«
Boris Schneider ging nicht darauf ein, sondern griff sich einen dicken Filzschreiber. Vergeblich suchte er nach einem Zettelblock und schrieb schließlich auf einen Briefumschlag. Es war eine fünfstellige Zahl. Er drehte das Papier in Hausers Richtung.
»Nicht Ihre Postleitzahl, nehme ich an«, sagte Hauser. »Also schön, niemand soll mir nachsagen, ich wäre nicht käuflich.«
Schneider grinste zufrieden und winkte ihnen zum Abschied. »Viel Erfolg euch beiden!«
Hauser folgte Melanie zum Empfang und sah ihr zu, wie sie in einem Schlüsselkasten herumkramte. Er schwieg, weil es das Beste war, was er tun konnte, wenn er nicht die ganze Wut abbekommen wollte, die Melanie gerade für ihren Chef empfand. Als Sekretärin, Anwaltsgehilfin oder welche Funktion sie auch immer hier besaß, hielt sie es sicher für eine Verschwendung ihrer Kompetenzen, den Chauffeur zu spielen. Sie nahm einen Schlüsselbund und ließ den Ring um ihren Zeigefinger wirbeln. Dann marschierte sie im wütenden Stechschritt auf den Lift zu, ohne darauf zu achten, ob Hauser ihr folgte. Sie gab ihm das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Dabei war er sich hundertprozentig sicher, dass dem nicht so war. Zumindest nicht bei seinen Taten in der letzten halben Stunde.
»Ich möchte nicht mit Ihnen zusammenarbeiten«, sagte sie auf dem Weg nach unten und verriet damit kein gut gehütetes Geheimnis. »Ich bin die Assistentin von Herrn Schneider und nicht der Doktor Watson für einen durchgedrehten Detektiv Holmes.«
»Tut mir leid, dass Schneider dich dazu verdonnert hat. Mir wäre es auch lieber, wenn du mich freiwillig begleiten würdest«, sagte Hauser mit aufrichtigem Bedauern.
»Das ändert für mich leider überhaupt nichts.« Melanie stürmte aus dem Aufzug wie aus einer Startbox beim Pferderennen und steuerte direkt auf einen schwarzen Sportwagen zu.
»Ach herrje, das Bat-Mobil«, entfuhr es Hauser.
»Das ist ein Jaguar C-X16. Momentan der Lieblingswagen von Boris«, erklärte Melanie, während sie die Fahrertür öffnete.
»Du bist sicher, dass das für ihn okay ist?«
»Das ist es ganz sicher nicht.«
Hauser betrachtete das Innere des Jaguars. Melanie hielt das 3-Speichen-Lenkrad lässig mit einer Hand und bediente mit der anderen die Anzeige. Er wusste nicht, was sie dort alles einstellte, aber es machte den Eindruck, als würde sie sich gerade häuslich einrichten.
Schneiders Jaguar stellte das typische Hätschelkind eines analfixierten Charakters dar; handpoliert, checkheftgepflegt und niedertourig gefahren. Wenn das Fahrzeug über eine Persönlichkeit verfügen würde, dürfte die Begegnung mit Melanie zu einer traumatisierenden Erfahrung werden. Boris war sicher davon ausgegangen, dass sie den Jaguar als tabu betrachtete. Dabei sollte er doch wissen, was der Zorn einer Frau anrichten konnte. Melanie ließ den Motor aufheulen.
»Warum machst du so einen Krach?«, beklagte sich Hauser beim Einsteigen.
»Weil es das beste Geräusch der Welt ist.«
»Es ist Motorenlärm. Wenn dir das gefällt, muss dir ja der Feierabendverkehr wie ein Symphonieorchester vorkommen.«
»Wir können ja mal irgendeinen Mann von der Straße fragen, was er von diesem Geräusch hält.«
»Ich bin ein … ach so, ich verstehe die Anspielung. Na gut, ich möchte dir auf keinen Fall die Freude an der sinnlosen Produktion von CO₂ und Stickstoffoxid verderben.«
»Gut«, sagte sie und gab Gas. Mit quietschenden Reifen sauste der Jaguar die Ausfahrt hinauf.