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Kapitel Vier
ОглавлениеDie Wahl zum Bürgermeister hatte Garth zu Beginn als eine reine Formsache betrachtet. Sein Vorgänger war berühmt gewesen für seinen vollständigen Mangel an Führungsqualitäten und Geschäftssinn. Der Mann hatte seine politische Ausrichtung am jeweiligen Gesprächspartner orientiert, um möglichst wenig Aufregung in seinem Amt zu haben. Garths erste Amtshandlung als Bürgermeister hatte darin bestanden, die Gemeindevertretung nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Er spielte die einzelnen Parteien gegeneinander aus, bis sich die meisten schmollend zurückzogen. Jeden potenziellen Gegenkandidaten drangsalierte er lange genug, bis er sich ein anderes Hobby suchte. Die Gemeindevertretung wurde rasch zum Scheinkabinett. Die wenigsten Mitglieder waren glühende Bewunderer von Garth, aber keiner von ihnen stellte einen ernst zu nehmenden Gegner dar, der sich seinen Wünschen widersetzen würde.
Die Gemeindevertretung hatte sich um den großen Tisch im Konferenzraum versammelt. Gewöhnlich tagten sie am letzten Donnerstag jeden Monats und nur mit dreitägiger Voranmeldung, doch an diesem Tag hatten sich die acht Mitglieder vor Garths Bürotür versammelt, bevor er zum Telefonhörer greifen konnte. Bürgermeister Garth blickte in die Runde. Links von ihm saß Max Krabbe, der Arzt des Dorfes, der wegen seiner Freigiebigkeit bei Krankheitsbescheinigungen den Spitznamen Doc Holiday führte. Er war ein Fachidiot und außerhalb seiner Praxis nur begrenzt lebensfähig, aber auch nützlich, da er die ärztliche Schweigepflicht großzügig auslegte und jede Information an Garth weitergab, nach der dieser verlangte. Krabbe wollte sein Kumpel sein und biederte sich aufs Schamloseste bei Garth an.
Neben dem Arzt saß Lehrer Bach, der seine Redebeiträge gerne durch beispielhafte Verhaltensweisen Achtjähriger belegte und gewohnheitsmäßig auf die Bundespolitik abschweifte. Besonders seit Pisa nicht mehr nur eine Stadt in Italien war, die einige glücklose Turmbauer angezogen hatte. Ansonsten war er froh, wenn man ihn in Ruhe angeln ließ. Wer ihn dabei störte, stellte schnell fest, dass er nicht halb so freundlich war, wie er wirkte. Denn Bach lächelte nur deshalb so viel, weil seine Zähne zu groß für seinen Mund waren und er die Lippen kaum über den Zahnreihen schließen konnte.
Rudolf Kernstein war Autohändler. Genau genommen verkaufte er die Autos in Garths Autohaus und war in jeder Hinsicht abhängig von seinem Chef, bei dem er immense Schulden hatte. Mindestens genauso abhängig war er vom Alkohol, der seine Hilflosigkeit noch verstärkte. Ein trauriger Fall. An der Ecke des Tisches saß Hellmuth Ziegler, der sich vom ersten Marihuanatrip seines Lebens erholte. Für gewöhnlich ein kompetenter, verlässlicher Mann, der politisch völlig unbelastet war und in ihrer Runde gerne die Stimme des kleinen Mannes vertrat. Genauso wie Dörr, der Garth am anderen Ende des Tisches gegenübersaß. Im realen wie im übertragenen Sinne. Dabei setzte er sich nur für die Themen ein, die ihn unmittelbar betrafen. Alle anderen interessierten ihn nicht. Günther Dörr war cholerisch, streitsüchtig und nahm immer eine Gegenposition ein. Er sammelte Feindschaften wie andere Leute Münzen, Briefmarken oder gebrauchte Damenunterwäsche.
Kurt Amsel, der Bäcker, war harmlos, naiv und gutmütig. Er übernahm in seiner Freizeit die ehrenamtliche Aufgabe, das Wohlbefinden der Ginsberger zu gewährleisten. Er organisierte Ferienangebote für Kinder, Jugendfreizeiten, Seniorennachmittage und Feste mit den verschiedenen, meist verfeindeten Ortsvereinen. Darüber hinaus Konzerte, Lesungen und andere kulturelle Veranstaltungen, die nach dem Urteil von Garths Frau allesamt lächerlich und provinziell waren. Amsel half auch bei Nachbarschaftsstreitigkeiten und Problemen in der Familie und hatte für jeden ein offenes Ohr. Auf der anderen Seite schien er keinen Ehrgeiz zu besitzen, in dieser Runde respektiert oder auch nur gehört zu werden. Außer bei lautstarken Auseinandersetzungen, die seinem extremen Harmoniebedürfnis zuwiderliefen, sagte er während der Sitzungen kein einziges Wort. Er schien mit allem zufrieden, solange es ruhig und friedlich abgewickelt wurde.
Ganz im Gegensatz zu Rolf Berger, der nie zufrieden war, selbst wenn er etwas durchsetzen konnte. Berger war unsachlich, uneinsichtig und unbelehrbar. Er hatte zu jedem Thema eine Meinung und berief sich auf Fakten, die stets völlig falsch waren. Wie bei so vielen anderen war es Unkenntnis gepaart mit Überheblichkeit, die ihn gegen vernünftige Argumente immun machte. Sein Gegenstück in Östrogen war Judith Kemmer. Sie war die beste Freundin von Garths Frau, neben ihr die berühmteste Person Ginsbergs und ¡ aus für Garths unerfindlichen Gründen ¡ Mitglied der Gemeindevertretung. Unwissend, uninteressiert und arrogant zog sie jede Sitzung dadurch in die Länge, dass sie am Ende einer Diskussion entsetzlich dumme Fragen stellte oder noch einmal alles wiederholte. Ihre Popularität im Ort verdankte sie ihrem Stellenwert als Schriftstellerin. Was eine tolle Sache war, wenn man keines ihrer Werke gelesen hatte.
Garth senkte den Blick auf den Tisch vor sich, dann schwenkte er erneut über die Gesichter. Diesmal sehr viel schneller. Idiot. Opportunist. Schwächling. Langweiler. Arschloch. Noch ein Idiot. Quertreiber. Superzicke. Die Vertreter von Ginsberg. Sie redeten sich die Köpfe heiß und Garth sah ihnen dabei zu. Er hatte bei jedem einzelnen von ihnen Gründe gehabt, ihnen einen Platz an seiner Tafel zu verschaffen. Profilierungssüchtige Figuren wie Berger und Dorn waren im Ort durch ihre Vereinstätigkeit bekannt genug, um ausreichend Anhänger hinter sich zu scharen. Garth hatte Amsel berufen, um seine Popularität im Ort zu nutzen, und Krabbe, um der Gemeindevertretung einen seriösen Anstrich zu verschaffen. Ebenso Lehrer Bach, der nie sonderlich auffiel und wohl auch in Gedanken lieber fischen ging. Judith Kemmer war für ihn persönlich eine Fehlentscheidung, weil sie ihm furchtbar auf die Nerven ging, aber sie wirkte wohltuend auf das Ego von Berger und Dorn, die sich ihr gegenüber überlegen fühlen konnten. Solange die beiden mit frauenfeindlichen Gedanken beschäftigt waren, konnten sie nicht auf andere Weise Schaden anrichten.
Garth betrachtete die sich heiser quasselnde Versammlung mit ausdrucksloser Miene und verriet durch keinen Aspekt seiner Körpersprache, wie er das Schauspiel bewertete. Und das war auch gut so. Die Stimmungspalette im Raum reichte von verzweifelt bis aggressiv. Der Hauptpunkt war die Auswirkung des Drogenskandals auf den Ruf des Ortes und die Wirtschaft. Garth konnte die Aufregung verstehen. Jahrzehntelang hatte Ginsberg vor sich hingedümpelt. Längst hatte man sich damit abgefunden, dass der Ort niemanden durch seine attraktive Infrastruktur anzog und auch für Pendler völlig uninteressant war, da Autobahnen in jede Richtung mindestens dreißig Kilometer entfernt lagen. Doch dank Garths Wirken als Bürgermeister gab es heute in Ginsberg alles, was man für das alltägliche Leben brauchte. Der Ort besaß einen Supermarkt, einen Bäcker, eine Metzgerei, eine Tankstelle mit Postfiliale (genauer gesagt, ein Schalter, der nicht größer war als eine Kinderpost), einen Friseur, ein Autohaus mit Werkstatt, zwei Gastwirtschaften und eine Bank. Es gab einen Fußballplatz und einen Tennisplatz. Für so ziemlich jede Beschäftigung hatte man einen Verein gegründet. Diese Perle ländlicher Lebensart sollte das Traumziel jedes großstadtgeschädigten, nach Ruhe und Geborgenheit suchenden Menschen sein, der fernab von Hektik, Lärm und Verbrechen neues Lebensglück suchte. Und nun diese Katastrophe.
Die Tür des Konferenzraums öffnete sich und Villeroy kam herein. Mit seinem üblichen unverbindlichen Lächeln auf den Lippen nahm er auf einem Stuhl neben der Tür Platz. Garth hätte am liebsten die komplette Gemeindevertretung vor die Tür gesetzt und stattdessen den sicherlich wichtigen Informationen seines Anwalts gelauscht. Er merkte, dass Stephan Bach mit ihm redete, entschuldigte sich und bat ihn, das Gesagte noch einmal zu wiederholen. Bach trug noch seine Angelklamotten und sah überhaupt nicht ein, weshalb er seine schlechte Laune verbergen sollte, immerhin hatte man ihm den Vormittag verdorben. “Ich sagte, jetzt werden mir die Kollegen von der Opposition wieder unter die Nase reiben, dass sich gerade meine Partei in der Vergangenheit für die Freigabe weicher Drogen starkgemacht hat.“
“Stimmt das etwa nicht?“, warf Günther Dörr, der Pächter der Tankstelle, ein.
“Alkoholiker haben ja genug Bezugsquellen“, entgegnete Bach kühl und sah zu, wie Dörrs ohnehin dunkles Gesicht noch röter wurde. Die inoffizielle Kneipe in seiner Tankstelle, wo sich einige Dorfbewohner schon am frühen Morgen zum ersten Bier einfanden, war ein offenes Geheimnis. Das hieß aber noch lange nicht, dass Dörr sich diese Tatsache von jedem unter die Nase reiben ließ. Er sprang auf und beugte sich über den Tisch. “Was soll das denn heißen? Ich glaube, dem Herrn Lehrer ist die viele Freizeit aufs Gehirn geschlagen.“
“Immerhin habe ich mehr als ein trockenes Brötchen im Kopf.“
“Keine Scherze über Backwaren“, versuchte Bäcker Amsel einen ebensolchen. Aber niemandem war zum Lachen zumute.
Garth bedachte die Streithähne mit einem Blick, der so viel besagte wie: Wird das heute noch was? Die Gemeindevertretung entglitt ihm. Noch vor einem Jahr wäre ein solches Verhalten undenkbar gewesen. Schon allein wegen Viktors Anwesenheit. Das Höchstmaß an Widerspruch stellte damals die freundliche Bitte an Garth dar, seine Position noch einmal zu überdenken. Heute musste er Drohungen und sogar Kompromisse einsetzen, um die Meute ruhig zu halten. Sie lauerten wie hungrige Raubtiere, um sich bei der geringsten Schwäche auf ihn zu stürzen. Mit der flachen Hand schlug er auf den Tisch. “Setz dich hin, Günther, alter Sülzkopf.“
Dörr setzte sich tatsächlich und brummelte dabei Unverständliches.
Berger erhob sich und allen Anwesenden war klar, was jetzt kommen würde. “Als Trainer der Fußballmannschaft darf ich daran erinnern, dass unsere Jungs heute gegen die Deppen aus Weinsee antreten sollen. Aber unsere Besten liegen flach, das wird eine böse Schlappe. Die werden uns vom Platz fegen.“
“Wir haben doch Ersatzspieler“, sagte Krabbe und wurde dafür von Berger mit einem Blick bedacht, der ihn mit gesenktem Blick verstummen ließ.
“Finn Schneider, um nur ein Beispiel zu nennen“, fuhr Berger fort. “Reaktionsschnell und trickreich. Er rennt neunzig Minuten, ohne die Puste zu verlieren, und springt über gegnerische Spieler einfach drüber. Der Junge hat mal einen Lederball quer durch die Turnhalle getreten und damit noch im Flur bei den Umkleidekabinen ein Sicherheitsglas eingedrückt. Und das Beste ist, er hat dabei nur Socken getragen. Für so jemanden gibt es keinen Ersatz.“
“Wie kann man in einer solchen Situation über eine so unwichtige Sache wie Fußball reden“, mischte sich Bach ein.
“Unwichtig? Ich hör wohl schlecht. Nach dem Debakel vom letzten Jahr hängt eine ganze Menge von diesem Spiel ab. Aber warum erzähl ich das eigentlich? Was weißt du schon von Fußball?“
“Wir teilen eben nicht alle Ihre Interessen“, sagte Bach überheblich. Er hatte Berger schon vor Jahren das Du entzogen, wovon dieser sich allerdings nicht beeindrucken ließ. Und daran halten würde er sich schon gar nicht.
“Deine Interessen kennen wir alle zur Genüge, der Fischgeruch lässt einen ja rückwärts die Wände hochgehen.“
“Und wieder eine gewohnt unqualifizierte Bemerkung von Herrn Berger“, erwiderte Bach beleidigt. Er hatte sich in seinem Keller eine kleine Räucherkammer eingerichtet und entwickelte dort neue Fischrezepte. Viele Nachbarn und Kollegen ließen sich von ihm beliefern, der Besitzer des La Cucaracha hatte sogar zwei seiner Rezepte in die Speisekarte aufgenommen. Aber das zählt ja bei diesen Ballproleten nicht, dachte er schmollend.
“Meine Güte, wenn es doch nun mal ein Entscheidungsspiel ist“, spottete Judith Kemmer. Erstens, weil sie auch einmal etwas sagen wollte, und zweitens, weil sie sich über jede Form von Mannschaftssport erhaben fühlte.
“Nichtfußballer: Klappe zu“, zischte Berger und setzte sich wütend wieder hin.
Garth fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht und ließ sie in den Schoß sinken. Seine bullige Statur sorgte dafür, dass die Menschen auf Abstand blieben. Er wirkte nicht dick, sondern nur aus der Form geraten. Allerdings überschätzten die meisten Leute die körperliche Bedrohung, die von ihm ausging. Ein Fehler, den er nicht zu korrigieren gedachte. “Ich darf mal zusammenfassen. Wir hocken jetzt schon seit einer halben Stunde in diesem stickigen Raum. Das Einzige, was wir bisher erreicht haben, ist, dass ein paar alte Feindschaften wieder aufgebrochen sind. Aber von einem konstruktiven Beitrag weit und breit keine Spur.“
“DieWir-wissen-nicht-um-welchen-Stoff-es-sich-handelt,-aber-er-ist-auf-jeden-Fall-ungefährlich-Masche wird nicht funktionieren und den Titel als Luftkurort können wir auch vergessen“, scherzte Max Krabbe.
“Deine Beiträge waren auch nicht gerade erhellend, Herr Bürgermeister“, murmelte Dörr.
Garth ignorierte die Bemerkung, doch Villeroys Kopf wandte sich mit einem süffisanten Lächeln dem Tankstellenpächter zu. Der Anwalt besaß ein verweichlichtes Aussehen, aber er konnte einen ansehen wie ein Giftmörder, dessen angebotenen Drink man gerade heruntergekippt hatte. Villeroy war stets bei den Sitzungen präsent, saß schweigend hinter Garth und beobachtete die Gemeindevertreter, die seinem Blick auswichen. Villeroy hatte in seinem Leben wenig getan, das ihm irgendwelche Sympathien zuspielen könnte. Auch die Anwesenden hielten nichts von ihm, aber sie würden sich hüten, eine abfällige Bemerkung zu machen, solange sie fürchten mussten, dass Garth es hörte oder einer der Anwesenden es ihm erzählen konnte. Selbst Garth wusste nicht alles über Villeroy. Der Anwalt wich zwar nur selten von seiner Seite, doch dies führte nicht zum Austausch privater Gedanken. Geld war für Villeroy wichtig, soviel wusste Garth. Er aß gerne gut und lernte Sprachen. Jedes Jahr eine andere. Dieses Jahr war es Finnisch. Warum auch immer.
“Wir müssen endlich zu einer Einigung kommen, wie unsere nächsten Schritte aussehen sollen“, fasste Bach zusammen.
Berger erhob sich theatralisch. “Zunächst einmal müssen wir herausfinden, wer hinter diesem Schlamassel steckt. Das sagte ich bereits.“
Garth seufzte. “Und ich antwortete bereits, es ist Aufgabe der Polizei, den oder die Täter zu fassen. Wir müssen uns darauf konzentrieren, Schadensbegrenzung zu betreiben. Das heißt, wir müssen das Ansehen unseres Dorfes bewahren und dafür sorgen, dass wir in der Presse nicht allzu schlecht dastehen.“ Für ihn war die ganze Veranstaltung ein einziges Déjà-vu, er hatte alles sinngemäß schon dreimal gehört. Und er wusste, was Rolf Berger, der Metzger, als Nächstes sagen würde.
“Wir wissen doch alle, wer hinter dieser Sache steckt“, erklärte Berger so energisch, als wäre es das erste Mal an diesem Tag.
“Ihre Theorie in allen Ehren“, sagte Bach, “aber in den letzten zwölf Monaten wollten Sie wirklich alles, was in dieser Gegend schiefgelaufen ist, diesem Mitbürger anhängen.“
“Dass du ihn verteidigst, wundert mich nun gar nicht. Du gehörst doch zu diesen studierten Liberalen, die jeden Täter in Watte packen wollen.“
“Genau“, bestätigte Dörr, der die Bemerkung über den Alkoholausschank noch nicht vergessen hatte.
“Ich habe ebenfalls studiert“, sagte Krabbe und wurde etwas größer in seinem Sessel.
“Nichts gegen dich, Doc, immerhin bist du wichtig.“
“Und ich wohl nicht“, entrüstete sich Bach.
“Was er meinte, war o “, versuchte Amsel zu schlichten.
“Dass jeder, der ein Studium absolviert hat, ein linksliberaler Spinner ist und kein Interesse an Regeln und Gesetzen hat. Das habe ich sehr wohl verstanden.“
“Dir kann das ja wohl keiner unterstellen, Herr Bach“, sagte Berger mit bedeutungsschwangerer Stimme.
Der Kopf des Lehrers fuhr zu ihm herum. “Was wollen Sie damit sagen?“
“Nichts von Bedeutung.“
“Das dachte ich mir.“
Garth schüttelte nur den gesenkten Kopf.
“Das hat ja wohl alles keinen Zweck“, begann Bach beschwichtigend. “Wie jeder im Raum weiß, vertritt Herr Berger nicht nur die üblichen Vorurteile gegen Personen, die nicht dem gängigen Erscheinungsbild entsprechen. Der erwähnte Mitbürger ist ihm darüber hinaus persönlich ein Dorn im Auge.“
“Das ist Verleumdung“, brüllte Berger. “Ich habe keine Vorurteile. Der Kerl kurvt den lieben langen Tag durch die Gegend und keiner weiß so genau, was er eigentlich macht. Ich habe meinen Verdacht auch schon der Polizei gegenüber geäußert. Die hat meinen Hinweis jedenfalls ernst genommen.“
“Hatte der kleine Gernhardt nicht mal was mit Bergers Tochter?“, tuschelte Rudolf Kernstein, der Geschäftsführer von Garths Autohaus, mit seinem Sitznachbarn Hellmuth Ziegler, der immer noch einen leicht glasigen Blick hatte.
“Tja“, sagte Ziegler endlos gedehnt, “kurz nach seiner Scheidung, ging aber nur ein paar Wochen. Berger hat wirklich genug Gründe, Felix nicht zu mögen.“
Beide kicherten leise.
“Seht ihn euch doch nur mal an“, wetterte Berger weiter. “Und dann seine Kumpel aus dem Viertel, die inzwischen glücklicherweise verschwunden sind. Ich bitte euch! Dass solche Leute mit Drogen handeln, ist für mich alles andere als weit hergeholt.“
Bach legte bedeutungsvoll die Handflächen auf den Tisch und beugte sich vor. “Aber dafür gibt es doch nicht den geringsten Beweis. Das Ganze erweckt in mir den Anschein, als wollten wir so schnell wie möglich einen Schuldigen finden, den wir der Polizei präsentieren können, damit die Angelegenheit unter den Teppich gekehrt werden kann.“
“Na prima, jetzt hat auch der Herr Lehrer verstanden, weshalb wir hier sind“, spottete Dörr. “Wissen Sie, was ich glaube?“
“Dass die Erde eine Scheibe ist?“
Sofort war der Raum wieder von wildem Gebrüll erfüllt.
Krabbe lehnte sich zu Garth hinüber und senkte unnötigerweise seine Stimme. “Was machen wir mit Chloe?“ Dabei benetzte er ihn mit seiner feuchten Aussprache. Garth hatte bei der Sitzplatzverteilung nicht aufgepasst und zu spät gemerkt, dass der Platz neben ihm frei gewesen war. Krabbe, der jede Gelegenheit nutzte, in Garths Nähe zu kommen, hatte die Gelegenheit genutzt, sich an ein paar Platzsuchenden vorbeigedrängt und sich schneller, als es höflich oder schicklich gewesen wäre, auf den freien Stuhl gesetzt.
“Sie war ja immerhin mal mit Felix verheiratet?“, fuhr er sprühend fort. Garth deckte seine Kaffeetasse mit der flachen Hand ab und gab sich keine Mühe, es unauffällig zu tun.
“Ich regele das schon“, versicherte er und erhob sich. Eine Weile lang nahm keiner von ihm Notiz, aber langsam kehrte Ruhe ein. Garth wartete geduldig ab, bis er die Aufmerksamkeit von allen besaß. Es überraschte ihn nicht, dass bei dieser Sitzung nicht der geringste Fortschritt erzielt worden war. Er sah in die erwartungsvollen Gesichter und wusste genau, was sie wollten. Er sollte ihnen sagen, sie könnten beruhigt nach Hause gehen und ihren Freunden und Familien erzählen, dass alles gut werden würde. Ihr Bürgermeister würde das Kind schon schaukeln, sie selbst seien von jeder Sorge oder Verantwortung entbunden. Aber das konnte er ihnen nicht sagen, weil es nicht stimmte und sie es auch nicht glauben würden. Dann gingen sie stattdessen nach Hause und riefen: Packt die Koffer, der Bürgermeister hat auch keine Ahnung, wie es weitergehen soll!
“Herrschaften, nachdem wir jetzt die verschiedenen Meinungen gehört haben, will ich Folgendes sagen: Wir werden uns nicht in die Ermittlungsarbeit der Polizei einmischen und schon gar nicht werden wir ihnen einen möglichen Täter liefern. Leider können wir nicht mehr ungeschehen machen, dass Rolf gegenüber der Polizei etwas zu laut gedacht hat, damit müssen wir leben. Wenn er sich nämlich irrt und herauskommt, dass die Gemeindevertretung von Ginsberg zur Hexenjagd aufgerufen hat, wird die Presse erst recht über uns herfallen. Wir werden vorerst abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln, aber bis dahin will ich keinen von euch auch nur in der Nähe einer Fernsehkamera oder eines Mikrofons sehen. Villeroy wird den Kontakt zur Presse übernehmen. Und jetzt raus hier!“
Der Gemeindevertretung erhob sich geschlossen und strebte zur Tür. Garth fing Berger ab und führte ihn lächelnd zur Seite. “Eine Kleinigkeit noch, Rolf. Wenn du das nächste Mal das Bedürfnis hast, mir gegenüber so das Maul aufzureißen, kommst du in die Wurst. Verstanden?“
Villeroy wartete, bis die eiligen Schritte des Metzgers verklungen waren, dann räusperte er sich dezent.
“Wie sieht es aus?“, fragte Garth.
“Die Polizei hat alles abgesperrt, aber natürlich ist da draußen die Hölle los. Wer nicht an der Brandstelle ist, steht vor dem Rathaus. Ich habe mit einem Kripobeamten gesprochen und er wird uns auf dem Laufenden halten. Aber bevor nicht die Spurensicherung eingetroffen ist, sagen sie gar nichts.“
“Das ist natürlich ein Fest für meine Konkurrenten“, murmelte Garth düster. “Hat sich schon einer von ihnen zu Wort gemeldet?“
Villeroy schüttelte den Kopf. “Gernhardt würde eher auf die Presse schießen, als mit ihnen zu reden, und Stark hat noch kein Statement abgegeben, aber da kommt sicher noch was. Der ist zu sehr Profi, um sich die Gelegenheit entgehen zu lassen.“
“Dieser Schönling hat das Zeug dazu, Bundeskanzler zu werden. Warum verschwendet der sich an Ginsberg?“
Villeroy sah sich eilig um, ob jemand die Frage gehört hatte. “Du meine Güte, achte auf deine Worte! Mit so einer Frage könntest du deine Kandidatur beenden.“
“Ja, ja, schon gut“, wiegelte Garth ab.
“Nein, nichts ist gut. Du hast immer noch das Image des neureichen Geldsacks, der sich ein Dorf gekauft hat und sich für etwas Besseres hält. Daran werden wir nichts mehr ändern, selbst wenn du hundert Jahre im Ort lebst und in einer Einzimmerwohnung zur Untermiete wohnst. Dein Ferienvillenpark hat dich sehr unbeliebt gemacht, und seitdem das Projekt gescheitert ist, wird das alles auch oft und gerne ausgesprochen.“
“Das ist allein Maiwalds Schuld. Als er sich zurückgezogen hat, sind auch alle anderen abgesprungen.“
“Noch so ein Satz, der dich die Wahl kosten könnte. Wenn du anderen die Schuld an deiner Niederlage gibst, werden das höchstens die Verschwörungstheoretiker unter deinen Anhängern lieben.“
“Aber es stimmt“, protestierte Garth.
“Spielt doch keine Rolle. Du wirkst dadurch schwach und machtlos. Wenn es keine Ausrede, sondern die Wahrheit ist, dann wurdest du besiegt. Die Leute wollen niemanden, der eine Niederlage gut wegstecken kann, sondern einen Gewinner, der seine Gegner zum Frühstück verspeist. Sei dieser Gewinner!“
“Ich will, dass du da rausgehst und mit der Presse redest. Sag ihnen irgendwas Nettes.“
“Ist mir ein Vergnügen.“ Villeroy verließ den Konferenzraum und marschierte hinunter zur Eingangstür, die Max nur widerwillig öffnete. Sobald Villeroy ins Freie trat, reckten sich ihm Mikrofone entgegen und Fragen prasselten auf ihn ein.
“Wusste der Bürgermeister von den Drogen?“
“War es jemand aus dem Ort?“
“Gibt es noch mehr Verstecke?“
Villeroy hatte die Hände entspannt vor dem Schritt verschränkt und zwinkerte nicht einmal im Blitzlichtgewitter. Es war offensichtlich, dass er auf Ruhe wartete, aber die Reporter waren zu wild auf eine gute Geschichte.
“Wird durch das Feuer etwas vertuscht?“
“Wer sind die Hintermänner?“
“Ist die Feuerwehr von Ginsberg drogensüchtig?“
Schließlich zuckte er bedauernd mit den Schultern, wandte sich um und trat zurück durch die Tür, die Max hinter ihm schloss. Ein Aufschrei der Empörung drang durch das Holz. Villeroy überprüfte den Sitz seiner Krawatte, schaute gelangweilt auf seine Uhr und nach zwei Minuten ging er wieder nach draußen, um dieselbe Position wie zuvor einzunehmen. Ungerührt ließ er eine weitere Batterie Fragen an sich abprallen.
“Deckt das Rathaus die Drogenhändler?“
“Wer ist noch in den Fall verwickelt?“
“Nehmen Sie Drogen?“
Nach und nach wurde allen klar, dass Villeroy auf provozierende Fragen nicht antworten würde, und schließlich kehrte Ruhe ein. Erst als der letzte Reporter verstummte, räusperte sich der Anwalt. “Besten Dank. Nun meine Herrschaften, ich nehme an, dass Sie alle ähnliche Fragen haben, also lassen Sie uns doch auf zivilisierte Art und Weise an die Sache herangehen.“
Garth beobachtete vom Fenster des Konferenzraumes aus, wie sich die Menge um den Anwalt scharte und artig ihre Fragen stellte.