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Kapitel Fünf
ОглавлениеDas La Cucaracha befand sich in der ehemaligen Dorfmühle. Nur wenige der klobigen Holztische waren besetzt. Auf großen Tafeln wurde Werbung für einen hessischen Abend gemacht: Rippchen mit Handkäse gefüllt und in Apfelwein gekocht. Dazu Sauerkraut, ebenfalls in Apfelwein gekocht, und ein Bembel zum Nachspülen. Felix würgte trocken. Ein Mann kam hinter der Theke hervor und grinste. “Hey, Felix, wie geht es dir?“
“Antonio, ich möchte dir einen alten Freund von mir vorstellen, Tibor Hendricks. Er ist gerade zu Besuch. Tibor, das ist Antonio, es ist sein Laden.“
Sie tauschten einen freundlichen Händedruck und Antonio führte sie zu seinem, wie er sagte, besten Tisch. “Was kann ich euch bringen? Der Koch hat gute Laune, ich glaube, seine Burritos sind heute durchaus genießbar.“
“Wir wagen es.“
Antonio verschwand kurz in der Küche und tauchte kurz darauf mit zwei Bechern Kaffee auf.
“Der geht aufs Haus, für unseren neuen Gast.“
Tibor nahm einen großen Schluck von dem heißen Getränk und seufzte zufrieden. “Hier gefällt s mir.“
“Ja, ein gemütlicher Laden“, stimmte Felix zu. “Antonio war der erste Mensch, der mich nach meiner Scheidung zum Lachen gebracht hat.“
Tibor verschluckte sich an seinem Kaffee und sah hustend zu Felix, der nicht anders konnte, als über den überraschten Gesichtsausdruck zu lachen.
“Du warst verheiratet?“
“Ja, das einzig Abenteuerliche, was man hier unternehmen kann. Und was hast du in der großen weiten Welt getrieben?“
“Ich bin so eine Art Unternehmensberater geworden und werde immer gerufen, wenn irgendwo die Kacke am Dampfen ist. Das Büro ist in Berlin, aber die meiste Zeit bin ich unterwegs.“
“Verheiratet?“
“Nur lockere Beziehungen.“
“Kinder?“
“Nein, erwachsene Frauen.“
“Ich meine o“
“Ich weiß, was du meinst“, sagte Tibor und grinste. Sein letzter Versuch, mit jemandem zusammenzuleben, war am Gesundheitsbewusstsein seiner Partnerin gescheitert. Sie gestand ihm lediglich eine Zigarette nach den Mahlzeiten und die “Zigarette danach“ zu, mit dem Ergebnis, dass er zwanzig Kilo zulegte und sie so viel Sex hatten wie nie zuvor während ihrer Beziehung.
“Mein Job lässt mir leider keine Zeit für eine Familie. Ich reise von Stadt zu Stadt und lebe in Hotels.“
“Klingt abwechslungsreich.“
“Ist aber ziemlich langweilig. Obwohl man recht gut damit verdient. In ein paar Jahren lasse ich mich in den Innendienst versetzen, heirate und baue ein Haus für meine Frau und die Kinder.“ Tibor sagte das in einem Tonfall, als beschreibe er etwas, das auf keinen Fall für ihn infrage komme. “Und was treibst du so?“
“Ich bin selbstständiger Unternehmer, die erste Ich-AG in Ginsberg.“
Tibor wartete einen Moment, ob Felix dies noch genauer ausführte, dann hob er seinen Becher. “Ich glaube, das war vage genug.“
Sie prosteten sich zu und begannen das vergangene Jahrzehnt aufzuarbeiten. Die Bekannten von früher und was in der Zwischenzeit aus ihnen geworden war. Wer machte was, wer war mit wem verheiratet, geschieden, liiert. Wer hatte Affären, Kinder, Probleme. Wer war weggezogen und wohin. Zwei Mädchen aus ihrem Jahrgang waren vor Jahren bei einem Autounfall gestorben. Ein Junge, mit dem sie die Grundschule besucht hatten, war inzwischen ein hohes Tier in der Politik und der Klassenclown der vierten Klasse arbeitete als Dauerlaberer für einen Sender, der vierundzwanzig Stunden am Tag Ratespiele veranstaltete. Tibor kommentierte die Fakten mit Lachen, ungläubigem Kopfschütteln oder schadenfrohem Grinsen. Die wenigen Krankheits-, Schicksals- und Todesfälle wurden mit betroffenem Schweigen und anteiligem Anstoßen quittiert. Felix redete mit einer Offenheit, die er den meisten anderen Menschen nicht in den höchsten Sphären alkoholisierter Vertrauensseligkeit entgegenbringen würde. Tibor konnte er alles erzählen, ohne fürchten zu müssen, Tage später beim Einkaufen oder an der Tankstelle darauf angesprochen zu werden. Er würde es sich anhören, weiterziehen und es vergessen ¡ oder auch nicht. Der springende Punkt war, dass er es für sich behalten würde.
Das Essen kam. Als Vorspeise brachte Antonio Rühreier mit Schnittlauch und Scheiben scharfer Wurst. Er wartete, bis sie gekostet und ausgiebig gelobt hatten, dann verschwand er in der Küche, um sofort wieder voll beladen zu erscheinen. In der einen Hand hielt er eine Kanne Kaffee und auf dem Arm balancierte er eine Platte mit frischen Burritos und eine Schale mit klein geschnittenen Maiskolben, die in einer Chili-Koriander-Tomaten-Soße gewendet waren.
“Versucht Garth dich eigentlich immer noch aus der Mühle zu werfen?“, erkundigte sich Felix.
“Es kommt immer mal wieder ein Schreiben, aber ich glaube, er betreibt das nur noch ziemlich halbherzig.“ Antonio grinste stolz. “Mein Kampf um jeden einzelnen Kunden wurde belohnt.“
Dieser Kampf um Kundschaft nahm oft verstörende Züge an. Die Anschaffung einer Karaoke-Maschine hatte ihn mehr Gäste gekostet als jede andere seiner geschäftsfördernden Ideen zuvor. Viele im Ort versuchten wie er oder Gernhardt auf die Schnelle reich zu werden, doch Garth ließ nur ein bestimmtes Maß an Erfolg zu. Darüber hinaus gab es nur zwei Möglichkeiten: aufhören oder woanders weitermachen. Wer sich nicht daran gehalten hatte, hatte es immer bereut.
Antonio schnaufte kurz und klatschte dann aufmunternd in die Hände. “Aber ihr solltet euch davon nicht den Appetit verderben lassen, ein leerer Magen ändert nichts. Außerdem habe ich als Dessert Früchte mit Nelkensirup vorbereitet und es wäre ein Verbrechen, diese Leckerei verkommen zu lassen.“
Als Felix nach dem Essen zahlen wollte, übernahm Tibor die Rechnung. “Das setzte ich als Spesen ab, kein Problem.“
Sie traten in die Mittagssonne und setzen synchron ihre Sonnenbrillen auf.
“Wie geht es deinem Onkel?“, erkundigte sich Tibor.
“Das kannst du selbst feststellen. Sollen wir vorbeifahren?“
Tibor zögerte einen Moment. Auf der einen Seite interessierte er sich sehr für die Casa Gernhardt, wo er einen beträchtlichen Teil seiner Jugend verbracht hatte. Mit dem Gebäude verband er intensivere Gefühle als mit seinem Elternhaus. Auf der anderen Seite war eine Begegnung mit Onkel Leo selten ein angenehmes Erlebnis. Dazu musste man sich nur Felix anschauen. Der schlaksige Bursche mit der windzerzausten Frisur besaß meist einen ernsten Gesichtsausdruck. Wer Leo kannte, wusste, weshalb sein Neffe so dreinblickte.
“Wenn ich an früher denke“, sagte Tibor, “warst du nie ein sorgloses und fröhliches Kind, sondern immer wachsam oder besorgt.“
“Die Umstände haben mich so gemacht.“
“Die Umstände?“
“Onkel Leo“, erklärte Felix das Offensichtliche. “In seiner Gesellschaft sollte man immer mindestens ein Auge auf ihn haben.“
Das Haus der Gernhardts stach allerdings zwischen den anderen hervor. Die letzte Renovierung lag lange zurück. Der Putz wies viele feine Risse auf. Eine öffentliche Grünfläche mit dichtem Buschwerk war direkt vor dem Gebäude angelegt worden. Es machte den Eindruck, als wollte man dadurch das Haus verstecken und dieser Eindruck täuschte nicht.
“Hat sich kaum verändert“, sagte Tibor, als der Touareg auf den Innenhof rollte.
“Tja, diesen Sinn für Nostalgie wissen nicht alle zu schätzen.“
Zwischen den Pflastersteinen im Hof wucherte es ungebremst, auch wenn die gnadenlose Sonne jegliche Vegetation längst ins Bräunliche verfärbt hatte. Am Fuß der Treppe versetzte Felix dem baumelnden Punchingball gewohnheitsmäßig einen Haken, der ihn an der Hauswand entlangtanzen ließ. Sein Onkel hatte irgendwann die grandiose Idee gehabt, den angesammelten Krempel nicht mehr in Kisten im Keller zu verwahren, sondern an die zahlreichen Außenwände zu nageln. Entlang der Hauswand hingen in unregelmäßigen Abständen geflochtene Körbe, Kerzenhalter mit Spiegeln, ein geschnitzter Wurzelsepp aus einem längst vergessenen Urlaub, Blumenkübel mit verendeten Pflanzen, allerlei altertümliches Werkzeug, eine Sammlung von Laternen, kitschige Schattenrisse aus Metall, Nummernschilder lange verschrotteter Motorräder, verlassene Vogelhäuser, eine Schiffsglocke, Zinkeimer mit und ohne Füllung, ein Aschenbecher aus einem Zugwaggon, eine Dartscheibe und ein Nachttopf. In der Scheune hing sogar noch eine Leine mit ausgebleichter Babykleidung und ebensolchem Kinderspielzeug, von dem Felix annahm, dass sie aus Anlass seiner Geburt befestigt worden war. Weggeschmissen wurde nichts mehr. Die Trödelsendungen im Fernsehen hatten auch in Gernhardt die Idee verankert, dass sein ganzer Ramsch noch etwas wert sei. Jeder Schrott bedeutete mit einem Mal einen unentdeckten Schatz von bisher unerkanntem Wert.
Trotzdem befand sich das Grundstück für einen reinen Männerhaushalt in einem beinahe erträglichen Zustand. Was den Reiz ausmachte, stammte allerdings noch aus der Ära davor. Felix Mutter hatte sich in Ermangelung einer anderen Tätigkeit in der Gestaltung des Außengeländes verwirklicht. Ein stillgelegter Bauernhof bot dem geübten Auge ausreichend Material. So mussten Felix und sein Onkel schwitzend die steinernen Schweinetröge in den Hof schaffen, damit sie zum neuen Heim für Blumen und Kräuter werden konnten. Für Gernhardt waren die farbenprächtigen Gewächse nur Variationen von Unkraut. Aber er stellte schnell fest, dass es weniger zeit- und nervenaufreibend war, den Wünschen seiner Schwester zu entsprechen, als über Sinn und Nutzen der jeweiligen Tätigkeit zu diskutieren, um sie anschließend trotzdem auszuführen.
Tibor hatte nie verstanden, weshalb sein Freund es vorgezogen hatte, bei dem alten Querkopf zu leben. Zugegeben, eine richtige Familie hatte Felix nie besessen, aber ausgerechnet Gernhardt? Onkel Leo war ein harter Knochen. Tibor hatte nicht lange gebraucht, um das festzustellen. Genau genommen war es einer der ersten Eindrücke gewesen, als er ihn kennenlernte. Felix verhielt sich damals in Gegenwart seines Onkels zurückhaltend, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, denn Gernhardt konnte ihn mit einer einzigen ätzenden Bemerkung auf das Mindestmaß zurechtstutzen. Und dass er es gerne tat, sprach nicht unbedingt für ihn.
“Da drüben vor der Scheune liegt ein toter Hund“, sagte Tibor leicht erschrocken.
“Das ist Groucho, der schläft immer so.“
Aus dem Wohnzimmer dröhnte der Fernseher in ohrenbetäubender Lautstärke. Leo Gernhardt saß in seinem alten, damals schon hässlichen Fernsehsessel und betrachtete mit ausdruckslosem Gesicht die Bilder eines Zugunglücks.
“Leo, erinnerst du dich noch an Tibor Hendricks? Er ist hier, um seine alte Heimat zu besuchen.“
Gernhardt drehte den Kopf und musterte Tibor. Sogar wenn er saß, wirkte er kernig und fit. Die Unterarme, die aus den hochgekrempelten Ärmeln seines karierten Arbeitshemdes hervorlugten, waren hart und sehnig. Doch das war nichts, verglichen mit seinem Gesicht. Eine steinerne, tief gefurchte Gebirgslandschaft mit zwei stechenden Augen. Das Auffälligste an ihm, damals wie heute, war jedoch der altmodische Backenbart. Diese endlos wuchernden Koteletten, die in grauen Büscheln bis in die Kinnpartie reichten und ihm etwas Wildes und Animalisches verliehen.
“Lange nicht gesehen, wo hast du deine Haare gelassen?“, knurrte Gernhardt.
Tibor klopfte hektisch die Taschen seines Anzugs ab. “Nanu, irgendwo müssen sie doch sein“, flüsterte er mit gespielter Panik.
“Prima, noch so ein Spaßvogel“, murmelte Gernhardt und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Für ihn war das Gespräch beendet. Er konnte sich nicht an Tibor erinnern. Die alten Schulfreunde seines Neffen existierten nur als diffuser, lärmender Schleier in seiner Erinnerung. Der Spruch mit den Haaren war ein Schuss ins Blaue gewesen, da die wenigsten Männer bereits in ihren Zwanzigern eine Glatze hatten. Jedenfalls nicht freiwillig. Aber war Tibor nun der trockene Alkoholiker, der um das Sorgerecht für seine Tochter kämpfte, oder der Trottel, der seit Jahren vergeblich versuchte, eine richtige Fernsehshow zu bekommen? Die Geschichten kreisten in seinem Kopf unsortiert durcheinander. Felix hielt ihn immer auf dem Laufenden und er nickte nur dazu, als würden ihm die Namen wirklich etwas sagen.
“Er hat sich überhaupt nicht verändert“, bemerkte Tibor, als sie nach oben gingen.
“Er ist älter geworden.“
Felix Zimmer war eingerichtet wie eine Studentenbude. Die beneidenswerte Unbekümmertheit, mit der alle Gegenstände wie durch Zentrifugalkraft im Raum verteilt waren, zauberte ein Lächeln auf Tibors Gesicht. Sie waren im Begriff, sich zu setzen, als o
“FELIX!“ Für gewöhnlich sprach Leo Gernhardt mit einer leisen, heiseren Stimme, die seltsam abgehackt klang, so als würde ihm gegen Ende jedes Satzes der Atem zum Weitersprechen fehlen. Doch diesmal schien er über ausreichend Luft zu verfügen.
“Das ist mein Onkel“, erklärte Felix überflüssigerweise. “Ich sehe mal besser nach, was er wieder hat.“
Tibor folgte ihm nach unten ins Wohnzimmer, wo Gernhardt mit hochrotem Gesicht saß und schimpfte. “Ich habe immer gesagt, dass es nicht gut geht, ich hab es von Anfang an gesagt, aber auf mich hört ja keiner.“
“Was ist denn?“
“oman kriegt die Natur einfach nicht aus den Viechern raus, aber das interessiert ja keinen, bis er eines Tages jemanden zerfleischt. Verfluchter Köter.“
“Was ist denn los? Haben wir wieder zu viel Jod im Trinkwasser?“, fragte Felix und blickte zu Groucho, der träge in der Ecke lag.
“Red nicht solchen Mist!“
“Was ist passiert?“
“Was passiert ist? Der verdammte Köter hat meine Blutdruckpillen gefressen.“
“Sie werden ihm schon nicht schaden.“
“Wen interessiert der Hund? Mir wird es schaden. Ich brauche diese Pille, sonst schießen meine Werte in die Wolken.“
“Ich glaube, er steigt schon“, bemerkte Felix.
“Dann besorge mir eine Pille.“
“Woher?“
“Aus meinem Nachtisch, woher sonst? Muss man dir denn jeden Handgriff erklären? Bring gleich zwei mit, ich glaube, die werde ich brauchen“, rief Gernhardt seinem Neffen hinterher, dann erst merkte er, dass er sich allein mit Tibor im Wohnzimmer befand. Er hatte keine Lust auf Small Talk. Momentan nicht und auch sonst nie.
“Ginsberg hat sich inzwischen ganz schön herausgemacht“, bemerkte Tibor, um nicht weiter peinlich berührt im Raum stehen zu müssen. Er betrachtete einen gerahmten Zeitungsausschnitt an der Wand mit einem Bild von Garth und Gernhardt bei der Bürgermeisterwahl. Garth hatte damals mit überwältigender Mehrheit gewonnen und Gernhardt konnte nach Hause gehen. Ginsberg hat den Fortschritt gewählt, protzte die Überschrift.
Gernhardt gab einen missmutigen Ton von sich. “Lass dich von der friedlichen Oberfläche nicht täuschen. Hier geht es zu wie im Wilden Westen.“
Felix kam zurück und drückte seinem Onkel zwei Pillen in die Hand, die dieser trocken herunterschluckte.
“Ich habe damals nicht viel von Garth mitbekommen“, sagte Tibor. War zu sehr mit meinen Fluchtplänen beschäftigt, dachte er.
Gernhardt schenkte ihm nun doch seine Aufmerksamkeit. “Man muss schon den Hut vor Garth ziehen. Er hat sich den Ort so schnell unter den Nagel gerissen, dass es kaum einer mitbekommen hat. Und die Speichellecker im Dorf haben sich ihm sofort an den Hals geschmissen. Er wusste, wie er die Menschen zu nehmen hat. Alle waren zufrieden und keiner kam auf die Idee, nach dem Preis zu fragen. Sie haben einfach vergessen, was sie ihren Kindern bei jeder Gelegenheit predigten, dass man nämlich im Leben nichts umsonst bekommt. ¡ Setzt euch doch“, bot Gernhardt überraschend an, und sie waren zu perplex, um schnell genug eine akzeptable Ausrede zu erfinden. Felix hätte es Tibor gerne erspart, doch der schien sich für Gernhardts Gerede tatsächlich zu interessieren.
“Er stellt sich als einer von ihnen dar“, erklärte Gernhardt, “obwohl er in einem millionenschweren Palast wohnt, und sie glauben es. Sie fressen ihm aus der Hand und lassen ihm alles durchgehen. Nur ein Beispiel: Er betrog seine erste Frau pausenlos. Als sie endgültig genug hatte und die Scheidung wollte, erstritt Villeroy seinem Chef vor Gericht das Sorgerecht für die Kinder mit den geschmacklosesten Verleumdungen, für die seine kranke Fantasie ausreichte. So ein Verhalten hätten die Leute hier keinem ihrer Nachbarn durchgehen lassen. Und kaum war die Scheidung durch, heiratete er diesen Filmstar. Ein ziemlicher Feger. Aber kein blondes Dummchen. Sie hat mächtig was auf dem Kasten und ist ziemlich gerissen. Jeden anderen hätten sie dafür an den Pranger gestellt, aber nicht Garth. Nein, ihn nicht. Sie könnte fast seine Tochter sein, aber wozu verdient man denn so viel Kohle? Natürlich, um sich das Beste vom Besten leisten zu können, und Garth ist Gourmet. Leider hat er versäumt, die Dame besser kennenzulernen, bevor er sie ehelichte. Er ist auf ihre oberflächlichen Reize abgefahren, ohne das Kleingedruckte zu lesen.“
Gernhardt kicherte und kramte seinen Tabak hervor. Tibor bot ihm seine Schachtel an und Gernhardt bediente sich mit einem dankbaren Nicken.
“Du scheinst das Garth zu gönnen“, sagte Tibor und stieß eine Rauchsäule aus dem Mundwinkel.
“Worauf du wetten kannst. Dieses Wochenende ist Bürgermeisterwahl und bei Garth findet eine Siegesparty statt, die erste anscheinend schon heute Abend. Da gehen irgendwelche Schnarchnasen ein und aus und lassen die Sau raus. Kommt ihm bestimmt ziemlich ungelegen, der Brand in dem Schuppen.“
Für einen Moment war Tibor überrascht, dass Gernhardt Bescheid wusste, aber er erinnerte sich, mit welcher Geschwindigkeit Neuigkeiten in Ginsberg die Runde machten. Damals schon und heute offensichtlich noch genauso. Er lächelte. “Vielleicht schau ich mal auf der Party vorbei.“
Gernhardt lachte dröhnend. “Das kannst du vergessen, da sind nur ausgewählte Gäste zugelassen. Aber ich habe einen älteren Fernsehauftritt von Garth aufgenommen, willst du mal sehen?“
Bevor Tibor antworten konnte, schob Gernhardt bereits eine Kassette in einen Videorekorder ein. Tibor faszinierte allein schon die Tatsache, dass jemand noch ein solches Gerät besaß und anscheinend auch noch aktiv nutzte. Die Qualität der Aufnahme ließ Rückschlüsse darauf zu, wie oft das Band schon überspielt worden war. Sie stammte aus der Hessenschau und zeigte das Rathaus von Ginsberg. Garth und Villeroy stiegen hinten aus einem dunklen BMW und waren sofort von Presseleuten umringt.
“Der Typ neben Garth ist Villeroy, sein Anwalt“, erläuterte Gernhardt. Garth knipste gerade sein gewinnendstes Lächeln an und stellte sich bereitwillig den Mikrofonen. Er spulte eine vorbereitete Presseerklärung herunter, von der alle Anwesenden vorher wussten, dass sie völlig uninteressant und nichtssagend werden würde.
“Wer ist der Fahrer?“
“Das ist Viktor. Er war sein Bodyguard und hat sich um die zwielichtigen Aktionen gekümmert.“
“Sieht ziemlich finster aus.“
“Viktor war nützlich, als es darum ging, Gangstermethoden anzuwenden. Aber er hat auch in die eigene Tasche gewirtschaftet. Es kam zu einem ziemlich heftigen Zerwürfnis, als Viktor versuchte, auf eigene Faust im Ort aufzuräumen. Er hat ein Gebäude in Brand gesteckt, in dem sich drei Leute befanden. Einer davon war Felix. Und mich hat er an einen Baum gebunden. Der Kerl war ein richtiger Psychopath. Wir können alle froh sein, dass er weg ist.“
Gernhardt spulte die Kassette weiter vor zu einer weiteren Sendung der Hessenschau. “Nach dem katastrophalen Wochenende im letzten Juni wehte Garth ein heftiger Wind entgegen. Die Leute gingen nicht mehr so ehrfürchtig mit ihm um. Jetzt pass auf“, sagte er und stieß Tibor leicht an.
“Herr Garth, was sagen Sie zu den Behauptungen, Sie würden für Ihre Bauprojekte alte Menschen aus ihren Geburtshäusern vertreiben?“
“Ich kenne sie“, sagte Tibor. “Ihr Name ist Thea, Felix hat uns vorhin bekannt gemacht.“
“Sie kam damals nach Ginsberg, um über die Ausschreitungen zu berichten, und ist danach einfach geblieben. Die Lady ist eine richtige Walküre.“
Gernhardt kicherte, als sich Garths Gesicht auf dem Bildschirm dunkelrot färbte. Villeroy hatte seinen Arbeitgeber von der Seite beobachtet und erkannte den Moment, um die Zügel zu übernehmen.
“Was bilden o “, brauste Garth auf, doch die letzte Silbe blies er bereits gegen Villeroys Hinterkopf. Tibor registrierte anerkennend die Professionalität des Anwalts. Für den durchschnittlich interessierten Zuschauer sah es keine Sekunde so aus, als wäre Villeroy in die Bresche gesprungen, um seinen Klienten vor einer Dummheit zu bewahren. Seine Bewegung war unauffällig und elegant, seine Stimme klang ruhig und kontrolliert. Man musste einfach den Eindruck haben, Garth habe das Wort weitergegeben und die Kamera sei auf Villeroy geschwenkt.
“Nun, es wird immer Menschen geben, die sich Veränderungen in den Weg stellen, weil sie sie nicht kennen und deshalb fürchten“, begann der Anwalt mit samtweicher Stimme und Tibor konnte seine Medienwirksamkeit nur bewundern. “Unsere Projekte dienen in erster Linie dazu, die gesamte Umgebung als wirtschaftlichen Standort zu stabilisieren und damit für zukünftige Investoren interessant zu machen. Wie Sie wissen, sind die Ginsberger Cremeteilchen inzwischen weit über die Ortsgrenzen hinaus berühmt. Dasselbe erhoffen wir uns auch für andere Branchen. Was die Vorwürfe angeht, wir würden Menschen aus den Häusern vertreiben, in denen sie ihr ganzes Leben verbracht haben, so kann ich dies nur empört zurückweisen. Es macht mich wirklich wütend, wenn ich sehen muss, mit welchen Methoden die Gegner des Fortschritts hier arbeiten. Sie verbreiten völlig gewissenlos böswillige Gerüchte, die rechtschaffene Bürger in Angst und Schrecken versetzen. Nicht nur verhindern sie damit die Schaffung neuer Arbeitsplätze, sondern nehmen auch den Verlust von Einnahmen für den Ort bereitwillig in Kauf. Ich nenne ein solches Verhalten rücksichtslos und in hohem Maße unsozial.“
“Aber Sie können doch nicht leugnen, dass es Pläne gibt, zwei Häuser, die an das Grundstück grenzen, komplett einzustampfen. Oder sind diese Kopien, die uns zugespielt wurden, etwa Fälschungen?“, setzte Thea Richler sofort nach.
“Nein, die Pläne, auf die sie anspielen, sind echt. Aber sie stammen noch aus der Vorbereitungsphase, wenn ich das mal so sagen darf. Sehen Sie, zu Beginn eines Projektes werden Dutzende von Konzepten entwickelt, das heißt aber nicht, dass man tatsächlich in Erwägung zieht, diese zu verwirklichen. Man spielt eben alle Möglichkeiten durch, die sich eröffnen.“
“Aber dieses Konzept wäre für Herrn Garth natürlich das kostengünstigste.“
Villeroy lächelte Thea Richler an. “Ich muss zugeben, dass dieser Entwurf, dermaßen aus dem Konzept gerissen, wirklich sehr bedrohlich wirken muss. Aber es ist das Werk gewissenloser Populisten, die sich den Entwurf auf kriminellem Wege angeeignet und veröffentlicht haben. Durch sie wurden die Bürger derart verunsichert und verängstigt. Ich sage das aus vollster Überzeugung ¡ und da dürfen Sie mich ruhig zitieren ¡ Herrn Garths Pläne werden niemandem in dieser Region schaden. Wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen.“
Villeroy drehte sich zu Garth und gemeinsam gingen sie zum Eingang des Rathauses. Gernhardt schaltete den Apparat ab. “Aus seinen Plänen wurde nichts, weil er ein paar sehr mächtige Männer verärgert hat. Das habe ich ihm von Herzen gegönnt, aber es reicht nicht aus.“
“Weiß man inzwischen, wer die Pläne der Presse zugespielt hat?“, wollte Tibor wissen.
“Ja, es war einer von Garths eigenen Leuten. Ich glaube, er hieß Moorhaus. Er hat eine Weile die Keksfirma geleitet, zumindest, bis es rauskam. Garth hat dafür gesorgt, dass er innerhalb weniger Stunden arbeitslos, obdachlos und mittellos war.“
“Ich glaube, Tibor hat jetzt genug Horrorgeschichten über den Ort gehört“, sagte Felix.
“Klar, du hast dich ja entschlossen, die Augen zu schließen und den Kopf unten zu halten. Aber ich beabsichtige zu kämpfen.“
Felix verdrehte die Augen und machte Tibor ein Zeichen mit dem Kopf, ihm nach draußen zu folgen. Tibor verabschiedete sich von Gernhardt, der ihn mit einer knappen Geste entließ.
“Was meint Leo damit, dass er kämpfen will?“
Felix seufzte und führte seinen Freund in das sogenannte Arbeitszimmer seines Onkels. Schweigend standen sie nebeneinander und betrachteten das handgemalte Plakat, auf dem nur zwei Worte standen: WÄHLT GERNHARDT!
“Oh Mann“, seufzte Tibor nach einer Weile.
“Das kannst du laut sagen“, pflichtete Felix ihm bei, seufzte ebenfalls und wechselte dann das Thema. “Wie geht es eigentlich deinen Eltern?“
“Sie treiben sich in der Weltgeschichte rum und genießen ihre Pensionen. Vom Erlös des Hausverkaufs haben sie sich ein Wohnmobil zugelegt und damit sind sie das ganze Jahr über unterwegs.“
“Es gibt schlimmere Schicksale.“
Gemeinsam spazierten sie über den Hof. Dahinter führte eine Wiese an den Fluss. Dort hatten sie eine nicht unbeträchtliche Zeit ihres Heranwachsens verbracht, Bier getrunken und über Dinge geredet, die Jungs ihres Alters beschäftigten.
Tibor genoss den Anblick. “In solchen Augenblicken hat man das Gefühl, nie weg gewesen zu sein.“
“Kann ich dir nicht sagen ¡ ich war nie weg.“
Felix hatte den Ort nie verlassen, aber das schien für ihn in Ordnung zu sein. Er wäre auch an keinem anderen Ort glücklicher, solange er dort mit seinem Onkel lebte. Bei dem Gedanken an Leo Gernhardt musste er innerlich grinsen. Ein gerechter Gott, mit Sinn für Humor, würde die Ginsberger genau auf diese Weise strafen.
Tibor kickte einen Stein in die Lahn. “Früher haben wir oft hier gesessen.“
“Damals haben wir Bier bei Oma Droste gekauft und es ihr anschließend in die Hecke gepinkelt. Selten war mir meine Rolle in der Gesellschaft so klar wie in diesem Kreislauf.“
“Würde mir gefallen, aber leider kann ich nicht bleiben“, sagte Tibor. “Ein andermal gerne.“
Felix verzichtete darauf, zu erwähnen, dass es Oma Droste längst nicht mehr gab, genauso wenig wie ihr Haus.
“Versteh mich nicht falsch, Felix, ich finde es wirklich nett, die alten Zeiten aufleben zu lassen, aber ich habe den Eindruck, so richtig gut geht es dir nicht?“
Felix zuckte nur mit den Achseln.
Tibors Blick wurde noch eine Spur besorgter. “Das hat aber nichts mit dem kleinen Drogenlager zu tun, das in Flammen aufgegangen ist, oder?“
“Quatsch, wo denkst du hin. Damit habe ich nichts am Hut. Niemand, den ich kenne, macht so einen Mist.“
“Das beruhigt mich. Ich glaube dir, aber wer noch? Wenn ich dir irgendwie helfen kann o “
Felix winkte ab. “Das ist nicht dein Problem.“
“Ich würde dir wirklich gerne helfen, egal wie.“
“Danke, aber ich hoffe, das wird nicht nötig sein. Ich werde genau das tun, was Leo mir immer vorwirft: die Augen schließen und meinen Kopf unten halten.“
“Ich lass dir auf jeden Fall meine Handynummer da. Wenn ich dir schon nicht helfen soll, willst du trotzdem vielleicht mal darüber reden. Okay?“
Felix nahm die Visitenkarte entgegen und steckte sie in seine Hemdtasche.
Tibor legte einen neuen Kontakt auf seinem Smartphone an und ließ sich von Felix seine Nummer diktieren. Dabei sah er auch die Uhrzeit. “Ich muss los.“
“Ich bringe dich noch zu deinem Wagen.“
“Die paar Meter kann ich laufen, kein Problem“, wehrte Tibor ab.
“Quatsch, wer weiß, wann ich wieder Gelegenheit habe, etwas für dich zu tun.“
Gernhardt schlurfte an ihnen vorüber und murmelte: “In Marokko kannst du sehen, wie ein Tuareg ein Kamel lenkt. Hier ist es umgekehrt.“
Felix hatte aufgehört zu zählen, wie oft sein Onkel diesen Spruch nun schon gebracht hatte. Er schob Tibor nach draußen und fuhr ihn zurück zur Brandstelle, wo der Volvo parkte.
Tibor schüttelte ihm zum Abschied die Hand. “Es war wirklich schön, dich mal wiederzusehen. Ich wünschte, es wäre unter anderen Umständen geschehen.“
“Das nächste Mal bringst du eben mehr Zeit mit“, beruhigte Felix ihn, doch nachdem Tibor losgefahren war, wurde er das Gefühl nicht los, dass sein Freund mit der Bemerkung etwas anderes gemeint haben könnte. Er wunderte sich nicht darüber, dass Tibor so schnell wieder verschwand. Auch früher hatte er die Gesellschaft anderer Menschen gemieden und alle auf Distanz gehalten. Dieses eigenbrötlerische Wesen hatte er offensichtlich bewahrt und noch ausgebaut. Felix wusste, dass seinem Freund Nähe unangenehm war, und niemand hatte Tibor damals nähergestanden als er. Aber ihre Beziehung war durch die lange Trennung abgekühlt. Eines Tages sind eben alle Geschichten erzählt, die meisten viele Male.