Читать книгу Das Erbe der Macht - Band 22: Königsblut - Andreas Suchanek - Страница 6
ОглавлениеEs war knapp.« Jen ließ ihren Blick über die neue Umgebung schweifen. »Beinahe hätte Tilda es nicht zurückgeschafft.«
Alex stand neben ihr auf den Zinnen der Zuflucht, gekleidet in Hoodie und Jeans, das Haar vom Wind zerzaust. »Annora ist so was von wütend, das kannst du dir nicht vorstellen. Sie hat Tilda angebrüllt, bis die in Tränen ausgebrochen ist.«
»Es liegen bei jedem die Nerven blank.«
Von Brasilien aus waren sie in irgendeiner Wüste gelandet, von dort war es weitergegangen an den Rand eines Meeres, wieder in einen Wald und schließlich hierher.
»Von Thunebeck will seine Apparatur morgen Früh in Gang setzen«, erklärte Alex. »Damit können wir vorausberechnen, wann der nächste Sprung erfolgt.«
Einstweilen funktionierte die transzendente Apparatur und es gab ausreichend Noxanith-Pulver, damit die Zuflucht ständig zwischen verschiedenen Punkten hin- und herspringen konnte. Merlin vermochte sie auf diese Art nicht zu finden.
»Sobald sich der nächste Sprung vorausberechnen lässt, können wir auch wieder Einsätze durchführen«, schloss Jen.
Alex trat auf sie zu, zog sie in seine Arme und hauchte einen Kuss auf ihre Lippen. Unweigerlich überzog ein Lächeln Jens Gesicht. Was mit der Welt auch geschah, sie fühlte sich bei ihm geborgen. Umgekehrt war dies ebenso. Was auch sonst passierte, sie hatten stets einander. Wie hatte sie das nur so lange nicht sehen können? Nichts konnte diese Einheit …
»Wo bleibt ihr denn?!«, rief Artus.
Alex gab ein genervtes Stöhnen von sich. »Meinst du, wir können ihn von den Zinnen werfen?«
»Die Ordnungsmagier …«, rief der ehemalige König von Camelot.
»Hör auf, mit mir zu diskutieren, wir werfen ihn nicht von den Zinnen.«
Schon tauchte Artus‘ breiter Oberkörper im Durchgang auf. Mit seinem dichten Bart und den durchdringenden blauen Augen brachte er stets etwas in Jen zum Klingen. Eine ferne Erinnerung, nicht mehr, doch sie hätte es lieber gesehen, wenn es nicht so gewesen wäre.
»Es ist Zeit, der Unterricht beginnt.«
»Wie nett, dass du uns das extra sagst«, kommentierte Alex, natürlich verdrehte er dabei die Augen.
Was dazu führte, dass Artus seinerseits schnaubte und ansetzte: »Damals, auf Camelot …«
»Wir sollten nach unten gehen«, unterbrach Jen den heraufziehenden Schlagabtausch.
Kurzerhand schritt sie davon.
Hinter ihr kam Alex herbeigeeilt, Artus folgte dichtauf. Sie schritten zügig aus und erreichten in kürzester Zeit den Unterrichtsraum.
Die Neuerweckten sowie die Söhne und Töchter magischer Familien lagen auf einfachen Betten, die in dichten Reihen aufgestellt worden waren. Erwachsene Magier patrouillierten im Raum, um über die schlafenden Körper zu wachen, die auf der Traumebene unterrichtet wurden. Einzig das Wissen um magische Tiere und Pflanzenarten wurde von Alana Franke im Splitterreich vermittelt.
Ohne lange zu warten legte Jen sich auf ein freies Bett. Sie zeichnete mit ihrem Essenzstab magische Symbole auf den Unterarm und sprach: »Noctis Somnus.«
Der Schlaf kam sofort.
In einem Augenblick lag sie noch auf dem Bett, im nächsten stand sie in dem gewaltigen Studierzimmer, das Jules Verne ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Die Tür war geöffnet, auf dem Gang lärmten allerlei Schüler herum. Dank eines durchdachten Lehrplans von Annora und den übrigen neuen Lehrern sowie der Hilfe von Jules hatte die Traumakademie innerhalb weniger Tage ihre Arbeit aufnehmen können.
Der Unterricht ging also weiter, und nicht nur das: Er konnte sogar in ausgestalteten Traumkulissen vermittelt werden.
»Erster.« Alex erschien neben ihr.
Kurz darauf folgte Artus.
Während Jen sich wieder in die magische Schriftrolle vertiefte, schritt Alex mit verschränkten Armen die Regalreihen ab. Artus versuchte sich daran, das richtige Buch mit einem Aufrufzauber herbeizuholen, doch nichts hatte Erfolg. Obgleich sie bereits seit dem Tag, an dem Jules Verne seinen Weg ins Castillo gefunden hatte, hier recherchierten, waren sie keinen Schritt weitergekommen.
»Ich kann noch immer nicht glauben, was sie alles getan hat«, sinnierte Alex irgendwann, das Kinn auf der rechten Handfläche abgestützt.
»Chloe ist nicht sie selbst.« Die Worte waren so oft gesagt worden, dass sie nur noch hohl und leer klangen.
»Wenn wir einen Weg finden, eurer Freundin zu helfen, können wir das bei allen tun«, führte Artus an. »Egal, wie lange es dauert.«
Sie vertieften sich wieder in die Schriften.
Das Stimmengewirr auf dem Gang ebbte ab, der Unterricht begann.
Jen war gerade in eine interessante Ausführung über magisches Blut abgetaucht, als ihr Instinkt sie aufblicken ließ. »Alex.«
»Hm?« Auch er sah auf.
Vor ihnen stand ein Mann in den Dreißigern. Er besaß dunkle, wettergegerbte Haut, ein ebenmäßiges Antlitz und definierte Muskeln. Letzteres war vor allem dadurch zu erkennen, dass er nur eine Lederhose trug. Sein schwarzes Haar fiel gewellt auf die Schultern, bunte Perlen waren darin eingeflochten.
»Wieso tut ihr nichts?«
Artus bemerkte den Neuankömmling erst jetzt und sprang schützend zu Jen – wofür sie ihm gerne einen Kraftschlag verpasst hätte. »Wer bist du?!«
»Chloe leidet«, flüsterte der Mann. »Wieso tut ihr nichts?«
Fassungslos starrte Jen ihn an, das ebene Gesicht, die Augen von unterschiedlicher Farbe. »Ataciaru.«
»Endlich könnt ihr mich hören.« Seine Stimme war sanft, doch das Raubtier schwang unterschwellig mit. »Nils kann mich hören, aber nicht gänzlich verstehen.«
»Wir wollen Chloe helfen, wissen aber nicht, wie«, sagte Alex. »Der Pakt … Merlins Pakt. Weißt du, wie man ihn bricht?«
»Es ist ein starkes Band, ein dunkles Band, aber nicht unzerstörbar. Ihr habt den Weg längst beschritten.«
»Mach hier jetzt keinen auf Orakel«, verlangte Alex. »Hilf uns, Chloe zu helfen.«
»Um den Pakt zu brechen, muss sie die Entscheidung alleine treffen und stark genug dafür sein. Ihr müsst sie zurückbringen, zu dem Zeitpunkt der Wahl.«
Jen ballte frustriert die Hände. »Wir wissen nicht, wo H. G. Wells ist. Und ohne Zeitmaschine …«
Ataciaru schüttelte den Kopf, was Jen zum Verstummen brachte. »Ihr müsst Chloe zurückbringen.«
Neben Jen atmete Alex scharf ein. »Wesley. Wesley ist der Schlüssel.«
Ataciaru nickte. »Zurückgebracht zur Wahl, kann sie erneut die Entscheidung treffen. Ihr braucht den Mann, der die Seele zurückschicken kann, und ein Messer, geschmiedet aus Magie, um Gut und Böse zu teilen.«
Ein Rauschen war zu vernehmen. Jen schaute in Richtung der Regalreihen und sah ein Buch, das herbeigeschwebt kam, auf dem Tisch landete und aufschlug.
»Ihr habt nur diesen einen Versuch. Am Schluss steht Endgültigkeit. Chloe wird sich für eine Seite entscheiden und es kann niemals rückgängig gemacht werden. Kein Zauber dieser oder einer anderen Welt wäre stark genug. Bedenkt das. Wenn ihr versagt, verliert ihr Chloe für immer.« Eine Träne löste sich aus Ataciarus Gesicht. »Ich kann nur zu den Ahnen flehen, dass ihr der Rückweg gelingt. Sie schlug den falschen Pfad aus Liebe ein, vielleicht ist es auch Liebe, die sie zurückführt. Zu euch.« Sein Körper verblasste. »Und zu mir.«
Ataciaru war verschwunden.
Jen eilte zu dem Buch und überflog die Seiten.
»Und?« Alex trat neben sie.
»Es könnte funktionieren.« Jen erwiderte seinen Blick. »Oder endgültig scheitern.«
Dicht geschriebene Worte zeigten ihnen den Weg, um Chloe zu helfen.
Oder sie für immer zu verlieren.