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Der Erfüllungsort.

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Die Notwendigkeit des Opferbringens und empfundene Schuld formten prototypische Moralvorstellungen. Während die Grenze zwischen Selbstverteidigung und Jagd verschwand und man sich die Seele der Raubtiere aneignete, änderten sich die Rituale. Man stellte fest: Indem man sich satt macht, füllt man nicht nur den Magen aus sondern auch erfährt Sättigung, Glückseligkeit, Zufriedenheit, als ob man beim Verzehr der Körper die Seelen anderer Lebewesen übernimmt, die Seelenwanderung vollzieht, bei der die Schuld und die Anstrengung des Tötens in die Befriedigung übergeht. Bei der kultischen Erweiterung des Freßrituals nutzte man nicht nur die Tiere sondern auch die Menschen aus, um sich ihrer Lebenskraft zu bemächtigen, sowie über die Unterstehenden die Übermacht zu erlangen. Das Opferfest wurde zum Ritual der Machtergreifung und Machtfestigung. Spätere Ausformungen dieses Verhaltens, wofür katholische Feste um das Kruzifix beispielhaft sind, rekapitulieren psychogenetische Entwicklung in Ersatzhandlungen, die allerdings, im Gegensatz zu früheren Opferritualen, ohne Totschlag und Blutvergießen auskommen. Dabei wird jemand, der sagenhafte Kräfte besitzt, rituell übermächtigt und seine Körper-Seele zwischen "Trauergästen" verteilt, um seine Lebensenergie "einzuverleiben". Das Verhalten wird durch elementare physiologische Notwendigkeiten bestimmt: Nahrungsaufnahme, Durstbefriedigung, atmen, schlafen, sich bewegen, fortpflanzen, reinigen, ausscheiden u.d.g. Daran reihen sich weitere Bedürfnisse: Kommunikation, Sozialisation, Arbeitsteilung... Die Gruppenbildung war nicht nur vorteilhaft für Physiologie, sie war auch notwendig: Die Gruppe garantierte das Überleben des Einzelnen, während außerhalb der Schutzzone überall der Tod und die Vergänglichkeit lauerten. Aus diesen Gründen wurde das Stammesleben zu artspezifischem Verhalten und genotypisch festgehalten. Die zweckdienlichen Anpassungen (die Reduktion olfaktorischer Empfindung zur Verhinderung der Überreaktion auf die Körpergerüche, kooperatives Revierverhalten, der Grad der sexuellen Bindungen u.s.w.) bestimmten das reibungslose Funktionieren des gemeinsamen Lebens und das Bestehen der Gemeinschaft. Die Entstehung des Stammes, des Volkes von einer Familie, die man nachträglich für heilig erklärt, wurde in zahlreichen Abstammungsgeschichten "dokumentiert": Abraham bei den Juden, Adam und Eva in der Bibel, Arier-Kult der Nazis sind einige Beispiele dafür. Dabei unterscheiden sich Menschen bei ihrer Völkerbildung nicht von übrigen Lebewesen, die alle mehr oder weniger sozialisiert sind, ihre Kolonien bilden, ihr Leben kollektiv verteidigen und ihren Platz gemeinsam erkämpfen. Bei dem Zusammenprall der Populationen infolge ihres unbegrenzten Wachstums und ihrer ökotypischen Gleichförmigkeit entsteht Konkurrenzkampf innerhalb einer Art. Die innerhalb der menschlichen Population permanent entflammenden Bürgerkriege resultieren aus gleichem Grund, wie die Revierkämpfe zwischen Artgenossen im Tierreich, die allerdings etwas bescheidener als die Olympischen Spiele und Weltkriege aussehen und nie mit interkontinentalen Raketen und Atomwaffen ausgetragen werden.

Die Evolution ist kein Kampf ums Überleben; vielmehr bedeutet jede Evolution eine Adaptation, eine Anpassung der Arten an ihre Umgebung, was parallel mit der Veränderung und Anpassung der Umgebung an die Gemeinschaft anderer Lebewesen verläuft. Die stetige Entwicklung der Anpassungstechniken ist mit dem Wettbewerb der Intelligenz verbunden; die Intelligenzbestie Mensch machte keine Ausnahme daraus, und entwickelte sich u.a. infolge der Kriegsführung mit seinen Artgenossen; das lügenhafte Verhalten und der Mordtrieb sind dadurch zum Bestandteil seines Wesens geworden.

Die Schlachtung der Pflanzen und Tiere, im Gegensatz zur Schlachtung der Artgenossen für politische Zwecke, wird weiterhin gerechtfertigt und mit monotoner Regelmäßigkeit vollzogen. Aber die Opferbringung der Menschen bleibt ein fester Bestandteil des anthropoiden Verhaltens: Man "schlachtet" in der Öffentlichkeit oder im Gerichtssaal die Sündenböcke aus, das vermeintliche Fehlverhalten jeglicher Art wird öffentlich an den Pranger gestellt, Pop–Stars werden kultisch auf die Bühnen erhoben und in den Arenen verehrt. Beide Veranstaltungsorte stehen stellvertretend für den Altar, was im Verhalten, das als stalking bekannt ist, manifestiert; erst die Verehrung provozieren Stalker, die Superstars zu verfolgen und u.U. sie zu schlachten. In diesen Ritualen finden die Instinkte des Opferbringens ihre Befriedigung (man kann von der Befriedigung sprechen, solange es nicht zum Totschlag kommt). Falls man keine Opfer findet, werden sie konstruiert und in die Realität projiziert. Der Asoziale ist demgemäß eine soziale Konstruktion zur Befriedigung des opferbringenden Verhaltens. Der Terrorismus und Islamismus sind gleichfalls "ausgedacht" und werden als ein kollektiv erdichtetes Gebilde in die Realität umgesetzt, weil jede Seite ihr eigenes Selbstbild positiv überbewertet und dem entstellten Fremdenbild gegenüberstellt, was man als Das-Dorian-Gray-Bildnis-Effekt bezeichnen kann. Zudem erwachsen solche "Gefahren" aus der Ohnmacht gegenüber allem, was sich der menschlichen Kontrolle entzieht; die Angst vor dem Ungewissen und Unbegreiflichen wird auf die eine oder andere Projektionsfläche übertragen und findet dort ihre kinematographische Ausformung: Die Gradsteigerung gegenseitiger Angstempfindung erfasst beide verfeindeten Seiten und bestimmt die Vorgehensweise, die oft mit dem Krieg endet, in dem die Gegner versuchen, einander zu vernichten.

Im Gegensatz dazu, was die allgemeine Vorstellung von den Voodoo-Kulten hält, stellen sie die zivilisatorisch wertvolle Erfindung dar. Ihre Funktion besteht darin, die Wucht der Instinkte abzufedern: Man "tut" den Puppen "weh", statt ihre Prototypen umzubringen. Die Voodoo-Kulte der gegenwärtigen Gesellschaft erscheinen in vielfältigen Formen: Gebühren, Steuer, Strafen, weihnachtliche Dekoration (wie z.B. Tannenbäume), Spenden, öffentliche Debatten u.d.g. Bei den Grillfesten "zähmt" man nicht nur das Tierfleisch sondern auch das Feuer. Die Feuerwehrmänner bemächtigen sich den Naturgewalten Feuer und Wasser, wenn dabei noch das Schicksal und das Böse im Menschen (Brandstifter, Unachtsamkeit u.d.g.) bekämpft werden. In den Opferfesten manifestieren sich die phylogenetischen Überreste vergangener Kämpfe, die zur instinktiven Verhaltensformen ("Normen") geworden sind und sich wie das Hallen, Echo der erlebten Erfahrungen und Lebensumstände in jeder Handlung erscheinen. In bestimmtem Sinn erfüllen auch die Fußballmeisterschaften und die olympische Spiele die Funktion, das Triebwerk der Männlichkeit zu befriedigen. Gleichfalls muß nicht übersehen werden, daß der Wettkampf irreleiten und den Konflikt provozieren kann. In den perversen Verhältnissen der (Dienst)Leistungsgesellschaft müssen sogar die geistig und körperlich Behinderten an den Paralympischen Spielen teilnehmen, um die Beweise für ihre Vitalität vollzubringen. Bei den lebensverlängernden Maßnahmen kommt es nicht um das Wohl der Patienten, deren Lebensfrist längst abgelaufen ist, sondern darauf an, immer neue Rekorde aufzustellen und die Leistungsfähigkeit medizinischer Geräte und ihrer Hersteller zu demonstrieren.

Der Tommyknockers–Komplex

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