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1 Schreiben und seine Herkunftsbereiche

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Keine zivilisierte Gesellschaft kann ohne gesprochene Sprache existieren, wohl aber ohne schriftliche Kommunikation. Die griechische Dichtung Homers wurde ursprünglich nur im Gedächtnis aufbewahrt und ausschließlich mündlich weitergegeben. Dasselbe gilt für die Veden, die sanskritischen Hymnen der alten Hindus, die Jahrhunderte lang nicht aufgeschrieben wurden. Das südamerikanische Reich der Inkas bewältigte alle seine Regierungs- und Verwaltungsangelegenheiten ohne Schrift. Letztlich jedoch ist wohl keine durchstrukturierte Gesellschaft in der Antike wie in der modernen Zeit ohne eine Schrift und ohne schriftliche Aufzeichnungen ausgekommen. Selbst wenn das Schreiben nicht in jedem Fall unverzichtbar ist, ist es doch ein bestimmendes Kennzeichen der Zivilisation. Ohne das Schreiben kann es keine Akkumulation des Wissens, keine historische Erinnerung und – auch wenn einfache Technologien denkbar sein mögen – keine Wissenschaft geben, und selbstverständlich auch keine Bücher, keine Zeitschriften und Zeitungen, keine E-Mails und kein World Wide Web.

Die Entwicklung des Schreibens in Mesopotamien – dem heutigen Irak – und in Ägypten verschaffte den von Herrschern wie dem Babylonier Hammurabi, dem Römer Julius Caesar oder dem Mongolen Kublai Khan etablierten rechtlichen, politischen oder verwaltungsmäßigen Ordnungen eine Geltungskraft, die weit über die persönliche Herrschaftsausübung ihrer Begründer hinausreichte und sogar ihren Tod überdauerte. Wenn z.B. der Stein von Rosetta nicht beschrieben worden wäre, hätte die Welt im Grunde genommen keinerlei oder nur geringe Kenntnis erhalten über den griechisch-ägyptischen König Ptolemäus V. Epiphanes. Seine Priester ließen im Jahre 196 v. Chr. ein Dekret zu Ehren ihres Königs in drei Schriften in den Stein von Rosetta einmeißeln: in heiligen Hieroglyphen, in der Verwaltungsschrift Demotisch und in Buchstaben des griechischen Alphabets.

Das Schreiben und das Lesen gelten generell als wertvolle Fähigkeiten. Alle modernen Eltern möchten, dass ihre Kinder lesen und schreiben können. Aber es gibt auch eine negative Erscheinung, die das Schreiben während seiner mehr als fünftausendjährigen Geschichte begleitet, auch wenn sie normalerweise nicht so stark in den Vordergrund tritt. Im 5. Jahrhundert v. Chr. beschrieb der griechische Philosoph Sokrates, der interessanterweise selbst niemals auch nur ein Wort veröffentlicht hat, unser ambivalentes Verhältnis gegenüber der ‚sichtbar‘ gemachten Rede in seiner Erzählung vom ägyptischen Gott Thoth, dem mythischen Erfinder des Schreibens. Thoth suchte den König auf, um dessen Segen für seine folgenreiche Erfindung zu erbitten. Der König aber sprach, statt sie zu loben, zu Thoth:

Du hast ein Elixier erfunden, das nicht der gedanklichen Aneignung einer Sache dient, sondern nur der oberflächlichen Kenntnisnahme. Du bietest deinen Schülern lediglich das Erscheinungsbild der Weisheit, aber nicht die Weisheit selbst. Sie werden nämlich viele Dinge lesen, ohne sich mit ihnen gedanklich auseinanderzusetzen, und deswegen werden sie vieles zu wissen scheinen, während sie in Wirklichkeit nichts wissen.

Die Welt des 21. Jahrhunderts ist überflutet von schriftlicher Information und geprägt durch entsprechende Technologien, die eine erstaunliche Schnelligkeit, Bequemlichkeit und Leistungsfähigkeit besitzen. In ihr dürften diese Worte des Sokrates, die sein Schüler Plato überliefert hat, durchaus noch einen Gegenwartsbezug besitzen.

Das vorliegende Buch ist eine Einführung in die Herkunftsbereiche des Schreibens. Es zeichnet darüber hinaus die Wege nach, auf denen es sich ausgebreitet und in Hunderte von Schriftarten weiterentwickelt hat. Das gilt für einige der Tausende Sprachen, die auf der Welt in Gebrauch sind. Es sind die Wege, auf denen unterschiedliche Schreibsysteme Bedeutung vermitteln durch phonetische Zeichen für Konsonanten, Vokale und Silben. Zusammen mit ihnen treten Logogramme auf – nicht-phonetische Zeichen, die für Wörter stehen, z.B. @, $, &, =,?. Außerdem finden sich auf diesen Wegen verschiedene Arten von Schreibzeug und Schreibmaterialien, deren sich professionelle und nichtprofessionelle Schreiber bedient haben. Schließlich zeigen sich hier auch die Zielsetzungen, für die das Schreiben fünf Jahrtausende lang in unterschiedlichsten Gesellschaften in Anspruch genommen worden ist, aber auch das Aussterben oder die Entzifferung alter Schriften.

Selbstverständlich können nicht alle Schriftsysteme einbezogen werden: Eine kürzlich dazu erschienene wissenschaftliche Darstellung, der von Peter T. Daniels u. William Bright herausgegebene Sammelband The World’s Writing Systems, umfasst nahezu tausend inhaltsreiche Seiten. Dennoch ist in unserem Überblick jede bedeutsame Schrift berücksichtigt worden. Denn trotz aller in der Gegenwart wie in der Vergangenheit überdeutlich vorliegenden Unterschiedlichkeiten der Schriften lässt sich erkennen, dass ausgestorbene alte Schriften wie die ägyptischen Hieroglyphen, die mesopotamische Keilschrift und die Glyphen der Maya in ihrer Struktur und ihrer Funktion viele Gemeinsamkeiten mit unseren modernen Schriften oder unseren spezialisierten Kommunikationssystemen haben. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich bei ihnen um Alphabete, chinesische Schriftzeichen, auf dem Handy versandte E-Mails oder um Formen der Datenübermittlung auf den Anzeigetafeln der Flughäfen handelt. Die Zeichen, aus denen diese Schriften und Systeme bestehen, mögen sich überaus stark voneinander unterscheiden, die linguistischen Prinzipien, die hinter diesen Zeichen liegen, sind jedoch ähnlich. Die alten Schriften sind keine toten Buchstaben und erst recht keine esoterischen Kuriositäten. Grundsätzlich unterscheidet sich die Art, in der Schreiber zu Beginn des 3. Jahrtausends n. Chr. schreiben, nicht wesentlich von der Art, in der die alten Ägypter und Mesopotamier geschrieben haben.

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