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Piktogramme

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Wie begann denn nun tatsächlich das Schreiben? Bis zur Aufklärung im 18. Jahrhundert erklärte man in der Regel, es sei eine göttliche Erfindung, wie die von Sokrates erzählte Geschichte von Thoth, dem Gott der Weisheit, sie darstellt. Heutzutage nehmen viele Wissenschaftler, wahrscheinlich sogar die meisten, an, dass das früheste Schreiben aus dem Rechnungswesen hervorgegangen ist, und zwar nicht auf dem Wege über die Ton-Zeichen, sondern aus den Erfordernissen des kommerziellen Rechnungswesens.

Die frühesten Schriftzeugnisse aus Mesopotamien, gebrannte Tontafeln, datieren aus der Zeit um etwa 3300 v. Chr.; die frühesten Schreibnachweise aus Ägypten stammen demgegenüber aus der Zeit um 3200 v. Chr. Sie fanden sich in Symbolen auf Schreibunterlagen aus Knochen und Elfenbein, die man zur Bestimmung und zur Berechnung von Grabbeigaben benutzt hatte. Keine der Zeitangaben ist jedoch absolut sicher, und manche Ägyptologen setzen den Zeitpunkt für den Beginn des Schreibens in Ägypten ein wenig früher an. Die frühesten Schriften Europas, die Linear-A- und Linear-B-Tontafeln aus Kreta und vom griechischen Festland, gehören in die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. Auch bei ihnen handelt es sich um Aufzeichnungen kommerzieller Art. Es ist zwar irritierend, dass in China, Indien und Mittelamerika in den frühesten Schriftzeugnissen das Rechnungswesen nur selten in Erscheinung tritt – der Grund dafür kann aber schlicht und einfach darin liegen, dass solche Rechnungsaufzeichnungen sich nicht erhalten haben. Kommerzielle Buchführung dürfte in diesen frühen Zivilisationen auf vergänglichen Materialien vorgenommen worden sein, wie etwa auf Bambusblättern, Baumrinde oder Tierhäuten. Solche Materialien sind – anders als in Mesopotamien, Ägypten und Kreta – zerfallen und verschwunden. Selbst Tontafeln sind in vielen Fällen nur deswegen erhalten geblieben, weil sie zufällig bei der Einäscherung von Palastarchiven gebrannt und gehärtet worden sind.

Mit anderen Worten: Gegen Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. führte in den Städten Sumers in Mesopotamien – der ‚Wiege der Zivilisation‘ zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris – eine aufblühende Wirtschaft zur Entwicklung des Schreibens. Die Komplexität des Handels und der Verwaltung nahm so stark zu, dass sie die Fähigkeit der herrschenden Elite, alles im Gedächtnis zu behalten, überstieg. Transaktionen aller Art in einer zuverlässigen, zeitüberdauernden Form festzulegen, wurde unverzichtbar für Verwaltungs- und Wirtschaftsvorgänge. Für Verwaltungsfachleute und Kaufleute wurde es von dieser Zeit an möglich, das sumerische Äquivalent zu unseren Redewendungen „Ich werde das schriftlich festlegen“ und „Kann ich das auch schriftlich haben?“ zu gebrauchen.

Manche Wissenschaftler glauben, dass eine gezielte Suche nach einer Lösung dieser Problematik durch einen unbekannten Sumerer aus der Stadt Uruk, dem biblischen Erech, um 3300 v. Chr. zum Schreiben geführt hat. Andere postulieren, dass das Schreiben das Ergebnis der Arbeit einer Gruppe von vermutlich sehr klugen Verwaltungs- und Handelsleuten gewesen sei. Noch andere meinen, es sei überhaupt keine Erfindung gewesen, sondern eine zufällige Entdeckung. Viele betrachten es als Resultat eines langwierigen evolutionären Vorgangs und nicht als plötzliches Ergebnis eines Geistesblitzes. Alle diese Ansichten stellen diskutable Hypothesen dar, die allerdings nur eine begrenzte Beweiskraft besitzen. Wir werden wohl niemals wissen, welche von ihnen tatsächlich richtig ist.

Sicher ist jedoch, dass die ersten geschriebenen Zeichen als Bilder in Erscheinung getreten sind. Viele der frühesten Zeichen aus Mesopotamien, Ägypten und China sind ohne Weiteres als Piktogramme zu erkennen. Sie stellen Tiere dar wie Fische, Vögel und Schweine und geben Pflanzen wieder wie Gerste und Dattelpalmen, Körperteile wie Hände und Köpfe, Gegenstände aus dem Alltagsleben wie Körbe und Töpfe und schließlich Naturgegenstände wie die Sonne, den Mond sowie Berge und Flüsse.

Manche der frühen Piktogramme repräsentieren allerdings auch abstrakte Begriffe. So kann die Abbildung eines Beines und Fußes nicht nur für das konkrete ‚Bein‘ und den konkreten ‚Fuß‘ stehen, sondern auch für die abstrakten Begriffe ‚gehen‘ oder ‚stehen‘, und ein Kopf mit einer Schale in der Nähe seines Mundes kann für ‚essen‘ stehen. In solchen Fällen ist die Symbolhaftigkeit universal verständlich, aber das ist noch nicht die ganze Wahrheit der Piktogramme.

Als erster Punkt ist Folgendes zu bemerken: Ein Bild kann so stilisiert und simplifiziert werden, dass es nicht mehr als ein Piktogramm zu erkennen ist. Dieser Veränderungsprozess ist während der Entwicklung der mesopotamischen Piktogramme zu bestimmten Zeichen der Keilschrift vor sich gegangen. Ähnliches erfolgte bei der späteren Entwicklung der chinesischen Piktogramme in die Elemente der verkehrsfähigen Schrift. Die ägyptischen Hieroglyphen widerstanden zwar diesem Trend zur Abstraktion und behielten deutlich ihren Charakter als Piktogramme bei. Bei ihnen führte dieser Trend aber trotzdem zu einer zweiten, abstrakteren Schrift – der Verwaltungsschrift, die als die hieratische Schrift bekannt geworden ist. Weit danach entstand sogar noch eine dritte Schrift, die demotische Verwaltungsschrift. Sie ist auf dem Stein von Rosetta verwendet worden; eine Ähnlichkeit mit der hieroglyphischen Schrift ist nur noch unter großen Schwierigkeiten zu erkennen.


2. Diese Piktogramme aus Mesopotamien erscheinen auf sumerischen Tontafeln, sie stammen aus der Zeit um etwa 3000 v. Chr. Sie haben folgende Bedeutungen:

obere Reihe: Hand/Tag/Kuh/essen/Topf/Dattelpalme

mittlere Reihe: Schwein/Obstgarten/Vogel/Schilf/Esel/Ochse

untere Reihe: Kopf/gehen, stehen/Fisch/Gerste/Brunnen/Wasser

Zweitens ist zu fragen: An welchem Punkt auf der Skala der zunehmenden Abstraktion und des immer stärkeren Übergangs in begriffliche Vorstellungen beginnt die konkrete Bedeutung eines Piktogramms sich aufzulösen? Ein stehendes Strichmännchen z.B. konnte alles bedeuten, was zwischen einem Individuum und der Totalität der Menschheit liegt. Es konnte ebenso eine symbolische Bezeichnung sein für ‚stehenbleiben‘, ‚warten‘, ‚allein‘, ‚einsam‘ und tatsächlich auch für ‚Männer-WC‘. In ähnlicher Weise konnte das sumerische Symbol für ‚Gerste‘ ebenso gut irgendeine andere Getreideart bezeichnen oder für ‚Pflanze‘ allgemein stehen. Die Situation, die mit den Piktogrammen verbunden ist, ähnelt in gewisser Weise der von Kindern, die das Sprechen lernen. Wenn sie gelernt haben, dass die Familie der Hunde ‚Hund‘ heißt, wenden sie unter Umständen dieses Wort auf andere Tiere an, die sie sehen, z.B. auf Katzen – oder aber sie gebrauchen es zu eng, indem sie es nur für einen bestimmten Hund verwenden, nämlich für den eigenen Hund.

Die allerfrühesten sumerischen Tontafeln aus Uruk bestehen aus Piktogrammen oder Quasi-Piktogrammen und Zahlzeichen. Sie betreffen Berechnungen. Obgleich wir nicht in jedem Detail über die Bedeutungen, die die Tafeln haben, sicher sein können, können wir manchmal dem Verlauf einer Berechnung folgen: Beschrieben ist sie in der grundlegenden Studie Frühe Schrift und Techniken der Wirtschaftsverwaltung im alten Vorderen Orient: Informationsspeicherung und -verarbeitung vor 5000 Jahren. Sie stammt von einem multidisziplinären Team von Wissenschaftlern, nämlich Hans Nissen, Peter Damerow und Robert Englund. Der Titel mag nicht sehr verlockend klingen, tatsächlich aber kann das Buch intellektuell so fesselnd sein wie ein Kriminalroman.

Die Arten, in denen die sumerischen Zahlzeichen in die Tontafeln eingepresst wurden, blieben während des 3. Jahrtausends v. Chr. hindurch unverändert erhalten, während sich die Keilschrift weiterentwickelt hat. Entweder drückte man das zylindrische Ende eines Schilfrohres senkrecht in den weichen Ton, um ein kreisförmiges Loch in ihm anzubringen, oder man presste es schräg hinein, um eine Vertiefung zu hinterlassen, die wie ein Fingernagel geformt war. Man benutzte aber auch eine Kombination beider Eindruckstechniken, um mit den übereinander gelegten Zeichen eine höhere Zahl auszudrücken. Es ist möglich, dass die mit dem Schilfrohr erzeugten Formen sich aus den Einritzungen entwickelt haben, die es bereits auf den Ton-Marken und den Ton-Kapseln gab. Es ist aber genauso gut möglich, dass sie speziell für den Gebrauch auf den Tontafeln entwickelt worden sind.


3. Diese frühe Keilschrift-Tontafel aus dem im heutigen Irak gelegenen alten Uruk stammt aus dem späten 4. Jahrtausend v. Chr. Sie enthält die Niederschrift eines Geschäfts mit Gerste. Vgl. den Text zur näheren Erklärung.

Die abgebildete Tafel enthält die Niederschrift eines Geschäfts mit Gerste. Das Piktogramm für Gerste erscheint ganz deutlich zweimal. Die Zahlzeichen oben geben an, um wie viel Gerste es sich handelt. Die drei wie Fingernägel geformten Abdrücke ganz am linken Rand, die alle ein rundes Loch aufweisen, bezeichnen jeweils die größte Maßeinheit, die 43.200 Liter entspricht; das entspricht insgesamt dreimal 43.200, nämlich 129.600 Liter. Die Gesamtsumme aller zwölf Zahlzeichen beträgt rund 135.000 Liter. Unmittelbar darunter stehen links die Zeichen für den Abrechnungszeitraum, nämlich 37 Monate: Wenn man genau hinschaut, sieht man drei runde Löcher und sieben kleine eingedrückte Linien, sie stehen für die Zahl 30 und die Zahl 7; sie alle sind in das Zeichen für ‚Monat‘ eingeschlossen. Unmittelbar unter diesem ‚Monat‘-Zeichen stehen zwei Zeichen für den Namen des verantwortlichen Beamten oder für den Namen einer Institution oder einer Behörde – es ist eine Art von sumerischer Signatur oder Unterschrift. Aufgrund der Ähnlichkeit dieser zwei Zeichen mit späteren Keilschriftzeichen, deren phonetische Bedeutung bekannt ist, dürfte der Name des verantwortlichen Beamten ‚Kushim‘ gelautet haben. Einige andere Zeichen unten in der rechten Ecke sind in ihrer Bedeutung nicht ganz klar; sie dürften sich auf die Funktion des Dokuments beziehen und auf die beabsichtigte Verwendung der Gerste. Wenn man die sehr große Menge der Gerste berücksichtigt und auch den sehr langen Abrechnungszeitraum, nämlich etwas mehr als drei Jahre, dann erscheint die Tafel als eine Abschlussrechnung oder eine Bilanz.

In Ägypten stammt die älteste Gruppe beschriebener Artefakte – entdeckt wurde sie erst in den späten achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts – aus einem Fürstengrab in Abydos; es trägt die Bezeichnung U-j und liegt zeitlich vor der dynastischen Periode, die 3100 v. Chr. begann. Bei mehr als hundert dieser Fundstücke handelt es sich um keramische Gefäße, sie tragen auf ihrer Außenwand große einzelne oder paarweise zusammengefügte Zeichen. Ein zweiter, noch reizvollerer Typ von Artefakten besteht aus nahezu 200 kleinen Knochen- und Elfenbeintäfelchen, die im Durchschnitt ganze eineinviertel Zentimeter hoch sind. Sie sind alle in einer Ecke durchbohrt, sodass es aussieht, als seien sie ursprünglich an Tuchballen oder andere wertvolle Grabbeigaben angeheftet gewesen, die von Räubern gestohlen wurden. Auf diese Täfelchen sind Zahlzeichen geschrieben – in Gruppen bis zu zwölf einzelnen Zeichen plus die Zeichen für 100 und für 100 + 1 – sowie piktographische Zeichen. Rätselhaft bleibt es, dass die Zahlzeichen und die Piktogramme so gut wie gar nicht auf ein- und demselben Täfelchen erscheinen. Schließlich ähneln einige der Piktogramme, aber keineswegs die Mehrzahl, stark späteren hieroglyphischen Zeichen, insbesondere Vögeln, einem Wasserstrahl und möglicherweise einer Kobra.


4. Diese Knochentäfelchen vom Grab U-j bei Abydos stammen aus der Zeit um 3200 v. Chr., sie sind die älteste Gruppe beschriebener Artefakte, die man aus Ägypten kennt. Manche Fachgelehrte glauben, die Piktogramme auf diesen Plättchen seien Vorläufer des späteren hieroglyphischen Schreibsystems, das erst im Zeitraum zwischen 3100 und 3000 v. Chr. entwickelt worden ist.

Nach der Meinung der Ausgräber der Täfelchen handelt es sich bei diesen Zeichen um Vorläufer der Hieroglyphen. Wenn es so ist, zeigen sie die Existenz eines Schreibsystems, aus dem innerhalb einiger hundert Jahre die vertrauten Hieroglyphen hervorgegangen sein könnten. Mehr noch: Sie zeigen dann ein System, das seine Grundlage in den ökonomischen Verhältnissen hätte, wie es auch bei den Rechnungsaufzeichnungen der Fall ist, die auf den Tontafeln in Uruk zu finden sind. Diese Schlussfolgerung ist jedoch zweifelhaft. Während das Element des Rechnens auf diesen Stücken unbestreitbar vorhanden ist, ist die Existenz eines Schreibsystems nicht bewiesen, und die Verbindung mit den Hieroglyphen ist reine Spekulation. Bis jetzt gibt es keine Begründung dafür, sich sicher zu sein über den genauen Zweck und die Bedeutung dieses begrenzten Repertoires primitiver Zeichen oder über ihre Verbindung zu den späteren Hieroglyphen. Außerdem gibt es in den Zeichen keinerlei Hinweis auf ein phonetisches Lesen, das auf der ägyptischen Sprache beruhte. Solange nicht beträchtlich mehr an Material durch Archäologen entdeckt sein wird, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu einer allgemein anerkannten Meinung über die Bedeutung der U-j-Inschriften kommen – abgesehen von der Tatsache, dass sie zeitlich allem anderen vorangehen, was man in Ägypten an Schriftlichem gefunden hat.

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