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Angela Hoptich Das Singen der Engel

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Das dicke Schaf blökte Aaron mitten ins Gesicht. Er hielt sich die schmerzenden Ohren zu. Das andauernde Geblöke der Herde war ohrenbetäubend laut. Kein anderes Geräusch drang hindurch, wenn man in ihrer Mitte stand; nicht das Bellen des Hundes, nicht die Stimme der Mutter, oder gar das abendliche Zirpen der Grillen. Unwirsch schob er das Muttertier mit aller Kraft beiseite. Zwei Lämmchen sprangen um ihn herum, stießen ihn mit ihren harten Schädeln in Bauch und Beine, bis er schwankte.

Aaron fluchte.

Es ärgerte ihn maßlos, dass er so klein war und auf einer Augenhöhe mit den Schafen stand. Wäre er doch endlich ein wenig gewachsen. Die Zeit verging quälend langsam und er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sein sechstes Lebensjahr doppelt so lang war, wie alle vorherigen gemeinsam.

Mit vollem Körpereinsatz kämpfte er sich durch die wollige Herde den Hügel hinauf. Seine Eltern warteten dort bereits mit dem kargen Abendessen: Brot und Schafskäse, wie jeden Tag. Sie waren Hirten, wie auch ihre Eltern und deren Eltern und deren zuvor.

Aaron wollte nicht in diese Fußstapfen treten. Das Hirtendasein war einfach und ärmlich. Er hatte sich fest vorgenommen, etwas anderes aus seinem Leben zu machen, etwas Besseres. Händler zum Beispiel. Da kam man weit herum, sah Städte und vielleicht sogar Länder, so fern und so fremd, dass man sie sich im Geiste nicht hätte ausmalen können. Man lernte viele verschiedene Menschen kennen, Bräuche und Sitten. Aaron stellte sich das herrlich vor.

Er stolperte.

Eines der Lämmer war ihm gefolgt und hatte ihn in den Rücken gestoßen.

Wütend drehte er sich um, packte das übermütige Tierchen und wollte es schütteln, als etwas in seinem Augenwinkel seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er reckte den Hals, um besser sehen zu können. Da. In der Ferne, am Fuße des Hügels, glitzerte etwas im Schein der untergehenden Sonne. Aaron konnte es nicht recht erkennen. Zu dicht standen die Schafe um ihn herum und versperrten ihm die Sicht. Kurzentschlossen kletterte er rittlings auf den Rücken des größten Tiers.

Einer schillernden Natter gleich wand sich eine Karawane die Straße nach Bethlehem entlang. Sein Herz schlug schneller. Händler? Sie schienen ihm zu wohlhabend, mit ihren schwer beladenen Tieren und bunten Kleidern. Aaron konnte Kamele erkennen, und Pferde, und Männer mit glänzenden Waffen. Es mussten Könige sein, die so prunkvoll reisten, dachte er. Doch er war zu weit entfernt, um mehr auszumachen.

Zu schade. Enttäuschung breitete sich in ihm aus und verdrängte die kribbelnde Aufregung in seinem Bauch. Ein paar Meter den Hügel hinauf wartete das Abendessen, aber dort unten zog die weite Welt von dannen.

Ohne einen weiteren Gedanken an seine Eltern zu verschwenden, hieb er dem Schaf scharf die Fersen in die Seiten. Das arme Tier erschrak und galoppierte wie ein Rennpferd den Hügel hinunter. Aaron wurde hin und her geschüttelt. Er krallte sich in das wollige Fell, doch auf halbem Weg hinab – dort, wo die Herde dichter stand –, bremste das Schaf abrupt ab. Er wurde in die Luft katapultiert und landete unsanft zwischen Kot und Klauen auf dem spärlich bewachsenen, harten Boden. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. Tapfer wischte er sie mit dem Ärmel ab und rappelte sich auf, nicht ohne dabei einige Tritte der erschrockenen Schafe abzubekommen. Er streckte sich, so hoch er konnte, um einen Blick auf die Karawane zu bekommen. Doch nur eine vage Bewegung und eine Staubwolke weit hinten auf der Straße zeugten noch von dem prächtigen Tross, der schon beinahe den nächsten Hügel erreicht hatte.

Wütend schob Aaron die Tiere aus seinem Weg.

Diese blöden Schafe verderben alles Gute in meinem Leben, dachte er. Immer blockieren sie den Weg.

Er holte tief Luft, fasste sich ein Herz und lief den Rest des Hügels hinunter. Vielleicht machte die Karawane bald Rast und er könnte sie noch einholen. Er rannte und rannte, so schnell er konnte, aber die Straße war lang, seine Beine kurz und bald müde. Immer langsamer wurden seine Schritte, immer schwerer wurde es, die Füße zu heben und einen Fuß vor den anderen zu setzen, bis er schließlich stehen bleiben musste und kraftlos auf die Knie sank. Er konnte nicht weiterlaufen. Die nackten Sohlen brannten schrecklich von den spitzen Steinen der Schotterstraße. Seine Kehrseite schmerzte schlimm wegen des Sturzes vom Schafsrücken. Sein Magen knurrte hungrig und die Zunge klebte ihm am Gaumen.

Sein Ziel war in unendliche Ferne gerückt. Erschöpfung und Verzweiflung übermannten ihn. Sein Gesicht war tränennass.

Er blickte die schier endlose Straße hinauf zu dem anderen Hügel, hinter dem die Karawane verschwunden war. Inzwischen hatte der Himmel sein Nachtkleid angelegt und die dünne Sichel des Mondes wurde begleitet von einem hellen Stern, der über dem Hügel stand und die stille Nacht erhellte. Ein Glitzern fing Aarons Blick, nur einige wenige Meter von ihm entfernt. Auf Knien rutschte er darauf zu.

Da lag eine kleine silberne Schelle, die im Licht des hellen Sterns glänzte und funkelte wie ein Edelstein. Sie musste vom Geschirr eines Pferdes abgefallen sein, oder von dem Gewand eines der Könige.

Als er sie aufnahm, gab sie ein feines Klingeln zu Gehör, das in Aarons Ohren wie der Gesang eines Engels klang.

Ein Zeichen des Himmels, dachte er und drückte das Kleinod an sein Herz.

„Aaron!“

Hinter dem Jungen stand plötzlich sein Vater. Sorge zeichnete sein Gesicht. Er hob das Kind auf und drückte es erleichtert an sich, wie Aaron es mit der Schelle getan hatte.

Doch der Junge bemerkte es kaum. Er ließ die silberne Glocke singen und rief:

„Vater, sieh nur! Hinter dem Hügel, unter dem Stern, dort ziehen die Könige. Fast hätte ich sie eingeholt. Komm. Komm! Bitte lass uns ihnen folgen. Es muss etwas ganz Besonderes sein – dort in Bethlehem.“


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