Читать книгу Aufwind - Angela Pointner - Страница 6
EINLEITUNG
ОглавлениеWas in Krisenzeiten zur Tragfläche wird – so könnte ein Untertitel zu diesem Buch heißen. Die Tragfläche, ein Flügel – neben dem »Aufwind« eine weitere Hommage an das Skispringen. Jenem Sport, in dem mein Ehemann und Mitautor, Alexander Pointner, als Trainer über Jahrzehnte so erfolgreich war. Diese Zeit liegt gefühlt eine Ewigkeit zurück, denn sie lag vor dem großen Schicksalsschlag, der unsere Familie traf. Ein Kind zu verlieren, ist das Schlimmste, was Eltern zustoßen kann, heißt es. Und doch gibt es für jedes Leid noch Steigerungsstufen, und auch »kleinere« Krisen können Menschen aus der Bahn werfen. Wir wollen hier berichten, wie es uns gelang, einen Weg zu finden zurück zum Glück. Wir führen kein durch und durch glückliches Leben, Tod, Trauer und auch Depressionen begleiten uns nach wie vor. Auch die Angst vor weiteren Verlusten lässt sich nicht abschütteln. Doch wir führen ein geglücktes Leben, das in vielerlei Hinsicht freier und erfüllter ist als vor diesem Tag X, der fast alles veränderte.
Den Aufwind nutzen – das versuchten schon Alex’ Skispringer, als er noch Cheftrainer beim Österreichischen Skiverband war. Wohl wissend, dass diese Phase, in der mit ein bisschen Wind von unten alles unendlich leichter wird, schnell wieder vorbei sein kann. Dieser Vergleich mit jener Sportart, die unser aller Leben über so lange Zeit maßgeblich beeinflusst hat, zeigt auch: nach der Krise ist vor der Krise. Das Leben ist ein Auf und Ab. Nur weil man einen schweren Schicksalsschlag gemeistert hat, ist man nicht vor einer weiteren manifesten Krise gefeit. Und wenn eine akute Krise vorbei ist, heißt das noch lange nicht, dass mit einem Schlag alles beim Alten ist. Die Nachwehen einer Krise sind oft eine eigene Krise für sich – so wie die mentalen gesundheitlichen Folgen, die nach der Corona-Pandemie zu erwarten sind.
Vielen wird es beim Lesen jetzt den Magen zusammengezogen haben – ja, das Leben ist manchmal sehr schwer, über lange Strecken lässt es uns verzweifeln. Dennoch hält es gleichzeitig so wundervolle Glücksmomente bereit, dass es sich lohnt, weiterzumachen. Trotz des Wissens, wie es sich anfühlt, jemanden zu verlieren. Trotz der Angst, dass es noch einmal passieren kann. Was, wenn noch ein Kind oder der Partner schwer erkrankt oder frühzeitig verstirbt? Die schon fast naive Leichtigkeit, die wir bis zum Suizidversuch unserer Tochter verspürt hatten, ist ein für alle Mal dahin. Verdrängen funktioniert nicht mehr. Katastrophen, Krankheiten, Leid und Tod treffen nicht nur die anderen, sondern auch uns selbst.
Aber – und das ist entscheidend – wir führen kein ängstliches Leben. Wir führen ein zufriedenes und erfülltes Dasein, auch wenn wir nicht immer glücklich sind. Keiner von uns möchte als Persönlichkeit in die Zeit vor den 5. November 2014 zurück. Natürlich wünschen wir uns nichts sehnlicher, als dass Nina noch gesund leben würde, doch persönlich sind wir in den letzten Jahren so gewachsen, haben uns so verändert, dass wir mit unserem alten Ich (und mit unserem alten Wir) nicht mehr tauschen möchten.
Das klingt auf den ersten Blick jetzt sehr klar und vielleicht auch zu nüchtern; in Wahrheit befinden wir uns in einem hochemotionalen Prozess, der andauert und immer noch einen unklaren Ausgang hat. Die Trauer um unsere Tochter wird niemals abgeschlossen sein, sie ist Teil unseres Lebens. Die Krankheit Depression bleibt weiterhin unsere Begleiterin: Wir lernen immer mehr dazu, versuchen weiterhin offen damit umzugehen und sind nach wie vor Betroffene (ein weiteres Kind bekam im Teenageralter die Diagnose). Doch Depression, Krankheit, Tod und Trauer sind für uns keine Tabus mehr, all das ist ein selbstverständlicher Teil unserer Lebenswelt geworden.
Die Idee zu diesem Buch entstand drei Jahre nach dem Tod unserer Tochter, die nach ihrem Suizidversuch 13 Monate im Wachkoma gelegen hatte. Durch die Gewissheit, nach einem schweren Schicksalsschlag wieder Fuß gefasst zu haben, glaubten wir zu verstehen, wie das funktioniert: Woher Widerstandskraft und Freude kommen, wie das mit der Trauer ist, wo man immer wieder Kraft tanken kann. Das wollten wir erklären, und damit anderen Betroffenen helfen.
In der damaligen Hochphase wäre das Schreiben dieses Buches ganz einfach gewesen, vielleicht hätten wir uns sogar dazu hinreißen lassen, »klugscheißend« und ein wenig überheblich zu dozieren. Doch die Depression, jene Krankheit, mit der wir als Familie so sehr zu kämpfen haben, ließ dies nicht zu. Die neuerliche Erkrankung innerhalb der Familie führte uns zum wiederholten Male an unsere Grenzen, als Ehepartner, als Eltern und als Persönlichkeiten. Auch wenn unsere Grenzen heute andere und wir im Umgang mit Depression und Suizid sehr erfahren sind, so gibt es dennoch immer wieder Zeiten, in denen uns schwierige Situationen ratlos machen und uns die Kraft fast verloren geht.
So entstand dieses Buch nicht als klassischer Ratgeber, sondern als Erfahrungsbericht von Menschen, die viel erlebt haben, aber immer noch dazulernen (müssen/wollen). Wir erzählen davon, wie es uns gelungen ist, an einem schweren Schicksalsschlag nicht zu zerbrechen, sondern daran zu wachsen – ohne eine Garantie dafür abgeben zu können, ob das auch weiterhin so bleiben wird.
Das Coronavirus hat noch während der Entstehung dieses Buches dafür gesorgt, dass Themen wie Tod und Trauer, die in unserer Leistungs- und Spaßgesellschaft nur zu gerne verdrängt werden, plötzlich vielen auf der Haut brennen. Der Lockdown im März 2020 veränderte unser aller Leben auf nie gekannte Weise – zumindest für eine gewisse Zeit. Mentale Gesundheit, Resilienz und körperliche Regeneration (in Form von moderater körperlicher Bewegung) bekamen mit einem Schlag einen ungemein hohen Stellenwert.
In jeder Krise, egal ob groß oder klein, sind Anpassungsfähigkeit und Veränderungswillen gefragt. Egal ob das bisherige Leben von heute auf morgen auf den Kopf gestellt wird oder dies ein schleichender Prozess ist, irgendwann müssen die neuen Gegebenheiten akzeptiert werden. Dazu brauchen manche länger, andere kürzer – doch unserer Erfahrung nach wird wichtige Energie verpulvert, wenn zu lange mit einer neuen Situation gehadert wird. Zeitangaben sind dabei aber relativ zu sehen. Es gibt keine Normvorgaben, wie lange dieses Widerstandsstadium dauern »darf«.
Für Alex war es in der akuten Krise, als unsere Tochter im Wachkoma lag, enorm wichtig, dass er dank professioneller Hilfe lernte, seine rückwärtsgewandten Denkspiralen zu beenden. Warum ist das ausgerechnet uns passiert? Warum habe ich an diesem Unglückstag nicht anders gehandelt? Solche und ähnliche Fragen sind quälend und gleichzeitig lähmend und helfen nicht, die akute Situation bestmöglich zu meistern. Aber – sie sind normal.
Wir haben nun versucht, strukturiert aufzuarbeiten, wie es uns gelungen ist, uns an ein beinahe untragbares Schicksal »anzupassen« – mit dem nachhaltigen Willen, aus dieser Situation, die unser Leben so dramatisch veränderte, Stärke zu gewinnen. Wir greifen dafür nicht nur auf ganz persönliche Erfahrungen mit der Erkrankung Depression und dem Suizid unserer Tochter zurück, sondern auch auf unzählige (Therapie-)Gespräche mit Fachleuten verschiedenster Disziplinen und anderen Betroffenen. Auch unsere Arbeit als Trainer bzw. im Rahmen der audiovisuellen Wahrnehmungsförderung fließt in dieses Buch mit ein. Nicht zuletzt spielen auch Bücher, Artikel und andere Medien eine Rolle, die wir in Anspruch genommen haben, um uns selbst weiterzubilden.
In unseren Augen lassen sich drei wesentliche Themenkreise ausmachen, in denen sich bei uns ein wertvoller Anpassungs- und Veränderungsprozess abgespielt hat. An erster Stelle steht jener Aspekt, den wir als kognitiven Bereich bezeichnen möchten. Wir verstehen darunter die rationale Auseinandersetzung mit Themen wie Depression, Suizid und auch Trauer. Die Erkrankung, ihre Ursachen, ihre Folgen zu verstehen, das hat in der Akutphase und darüber hinaus sehr geholfen. Es ging darum, Worte zu finden für das, was uns passiert ist, und darum, das öffentliche und ureigene Tabu zu brechen.
Das zweite Themenspektrum, mit dem wir uns beide beruflich bereits viel auseinandergesetzt hatten, betrifft den körperlich-biologischen Bereich. Wie reagiert unser autonomes Nervensystem auf Stress, was sind die körperlichen Folgen dauerhafter Anspannung, und was kann man für eine effektive Regeneration tun? Das waren Fragen, auf die wir bereits vor unserem Schicksalsschlag Antworten suchten. Und dennoch fällt es in einer so tiefen Krise schwer, dieses Wissen in konkretes Tun umzusetzen. Es dauert unter Umständen sehr lange, bis man für sich selbst ein gleich guter Coach ist wie für andere.
Der dritte Punkt, der uns sehr wichtig erscheint und mit dem wir uns erst in jüngerer Vergangenheit bewusst auseinandergesetzt haben, ist das Thema Emotionen. In unserer nach stetigem Glück strebenden Gesellschaft scheinen »negative« Gefühle, wie Wut, Angst, Traurigkeit, Scham oder Neid, unerwünscht. Trauer sollte möglichst bald überwunden, Wut nicht zugelassen und Angst, Scham oder Neid verdrängt werden. Doch wenn man in einer so allumfassenden Krise steckt, wie wir das erleben mussten, drängen sich alle Gefühle mit unbändiger Macht auf – die positiven wie die negativen. Und dann gesellt sich irgendwann die Scham darüber hinzu, dass es nicht länger gelingt, die vermeintlich negativen Emotionen zu unterdrücken. Es war für uns beide der letzte befreiende Schritt, uns von diesen in frühester Kindheit erlernten Denkmustern zu lösen. Unser emotionales Erleben hat wie unsere Beziehung dadurch absolut an Qualität gewonnen.
In allen drei Bereichen befinden wir uns noch immer in einem Entwicklungsprozess, Rückschritte keinesfalls ausgeschlossen. »Alte« Themen drängen sich stets wieder auf, gerade wenn eine neue Krise (wie etwa Corona) dazukommt. Alle drei Bereiche hatten und haben, abhängig vom Zeitpunkt, immer wieder eine andere Qualität. Wir werden in unserer Erzählung auch die Unterschiede zwischen der akuten Phase einer Krise und den mittel- und langfristigen Folgen derselben hervorheben.
Einen weiteren Aspekt bildet die individuelle, ganz persönliche Betroffenheit in den jeweiligen Themenkreisen. Was macht so ein Schicksalsschlag mit mir als Persönlichkeit (privat wie beruflich), was macht er mit uns als Ehe- und Liebespaar, was als Eltern? Alle genannten Punkte und Teilbereiche sind miteinander vernetzt, lassen sich nicht linear hintereinander reihen, sondern bilden eine sich immer wieder verändernde Gemengelage.
Unser Anliegen ist es, Licht in dieses Durcheinander zu bringen, um einen Weg aufzuzeigen, der ein geglücktes Leben mit und in einer Krise möglich macht.
P.S: Dieses Buch schreiben wir gemeinsam: als Ehepaar, das an der bisher größten Krise seines Lebens gewachsen ist. Den schreibenden Part übernimmt wie schon bei »Mut zum Absprung« und »Mut zur Klarheit« Angela. (Die Ich-Form gebührt deshalb in diesem Buch ihr, während Alex mit Namen bzw. in der 3. Person genannt sein wird.)