Читать книгу Erlös mich, wenn du kannst - Angela Zimmermann - Страница 7

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Kapitel 3

Eine Woche wohnen wir jetzt schon hier und haben uns langsam in dem neuen Heim eingelebt. Manuel hat sich die letzten sieben Tage um den Garten hinter dem Haus gekümmert. Jetzt sieht er ein wenig ordentlicher aus. Der Rasenmäher hat es in zwei Gängen doch geschafft, sich durch das hohe Gras zu kämpfen und dabei ist auch einiges zum Vorschein gekommen. Die Vorbesitzer haben wahrscheinlich Kinder gehabt, denn mein Mann hat Spielsachen gefunden, die auf kleinere Kinder hinweisen. Diese hat er in eine Kiste geräumt, die in den Keller gewandert ist. Ich selbst, hatte noch keine Zeit, es mir anzusehen, denn dieses alte Zeug zu behalten ist nicht in meinem Sinn. Aber ich werde irgendwann die notwendige Zeit dafür aufbringen, es auszusortieren und momentan stört es da unten im Keller niemanden.

Unsere Gartenmöbel, die wir von meinen Eltern zum Einzug geschenkt bekommen haben, stehen mittlerweile auf der Terrasse. Benutzt wurden sie jedoch noch nicht. Jeder hatte sich für die erste Woche Ziele gesetzt und sie auch fast alle erreicht. Dass wir uns dabei kaum gesehen haben, war vorprogrammiert. Wie gesagt hat Manuel im Garten gutzutun gehabt und ich habe die Sachen aus den restlichen Kartons ausgeräumt und an ihren neuen Standorten verteilt. Anschließend habe ich mich in mein Arbeitszimmer zurückgezogen. Da war ebenfalls noch einiges zu erledigen. Am Dienstag hatte ich dann die Zeit mich wieder meinen Schmuckstücken zu widmen, ebenso lief der Verkauf überraschend gut an.

So stehe ich jetzt mit einem Korb, wo mehrere Päckchen drin sind, die zur Post gebracht werden müssen, in der Küche und schreibe noch schnell einen Einkaufszettel. Es ist dringend Zeit, dass ich nicht nur den Kühlschrank auffülle.

Manuel ist heute Morgen sehr früh weg, er hat den ersten Arbeitstag an der Schule. Er wird in den Vorbereitungen für das neue Schuljahr von Anfang an mit einbezogen. Ihm war die Aufregung anzumerken, aber ich bin mir sicher, dass er das alles hervorragend meistern wird.

Ich dagegen habe einige Wege zu erledigen, wie Einwohnermeldeamt, das Auto ummelden und die Päckchen zur Post bringen. Da kam es mir ganz entgegen, dass gestern ein Prospekt von der Stadt in unserem Briefkasten war. Heute ist Markttag und so habe ich die Gelegenheit, mir das anzuschauen und vielleicht auch ein paar Leute kennenzulernen. Irgendwie freue ich mich darauf, einen Zugang zu den hier lebenden Menschen zu finden. Ich kann nur hoffen, dass mir nicht gerade heute Visionen in die Quere kommen, da ich ja schon Jahre keine mehr hatte, warum dann jetzt und hier.

Also packe ich alles zusammen und gehe los. Ich nehme nicht das Auto, denn laut des Infoblattes sollte es nicht zu weit sein. Während ich an den Häusern entlanggehe, sehe ich kaum eine Menschenseele. Sind alle schon auf dem Markt, oder ist es doch eine öde Stadt? Ich hatte mich vor dem Kauf ein wenig über das kleine Städtchen versucht zu erkundigen, habe jedoch kaum etwas erfahren. Wir wussten, dass es hier alles gibt, was man zum Leben braucht, aber ein besonderer Ruf eilt der Stadt keinesfalls voraus. Uns hat das nicht gestört, denn ich arbeite von zu Hause aus und finde die meisten Kunden sowieso über meinen Online-Shop. Manuel hat auf seine Bewerbung sofort die Stelle an der hiesigen Schule zugesprochen bekommen. Zur Zeit hat also jeder zu tun und wir brauchen momentan nicht viel mehr zum Leben. Wenn wir doch einmal ins Kino wollen oder vielleicht zum Tanzen in eine Disco, da können wir auch ein paar Kilometer mit dem Auto fahren.

Nach fast einer halben Stunde, also doch etwas weiter, als ich gedacht habe, komme ich auf dem Markt an. Ich laufe an den Ständen vorbei, wo frisches Gemüse, Pflanzen von einem Gärtner, Backwaren und Fleischerzeugnisse angeboten werden. Dazwischen stehen noch drei Wagen die Speisen zum Mitnehmen anbieten, aber es fehlen die Leute. Es ist kaum jemand hier und so ziehe ich fast alle Blicke der Verkäufer auf mich. Ich bin die Neue, die Fremde und sie beobachten mich mit neugierigen Augen. Sie folgen mir, bis ich die Gelegenheit bekomme, im Rathaus verschwinden zu können. So unwohl habe ich mich lange nicht mehr gefühlt. Ich bin nicht einmal dazu gekommen, etwas auf dem Markt zu kaufen und die rechte Lust darauf ist mir sehr schnell vergangen. Ich werde jetzt die Formalitäten erledigen, zum Glück ist das alles hier im Gebäude und dann auf dem kürzesten Weg wieder nach Hause gehen. Einkaufen werde ich heute Nachmittag. Am Stadtrand ist ein Discounter, wo ich bestimmt nicht so auffalle und angestarrt werde. Die wenigen Kilometer nehme ich gern auf mich.

Aus dem Rathaus heraus, biege ich in eine andere Richtung, um nicht noch einmal über den Markt laufen zu müssen. Zwei Nebenstraßen entlang komme ich auch wieder auf die Hauptstraße. Ich staune nicht schlecht, denn mein Weg führt mich an mehreren kleinen Läden vorbei. Schreibwaren, Buchhandel, Spielzeugladen sowie eine Bäckerei und eine Fleischerei. Hier fühle ich mich eindeutig wohler und am liebsten würde ich jetzt in den Buchladen gehen. In den Büchern stöbern und vielleicht etwas finden, wo man sich hinein vertiefen kann, aber ich habe leider wenig Zeit. Zu Hause wartet meine Arbeit darauf, erledigt zu werden. Nach dem Kauf des Hauses und dem Umzug brauchen wir jetzt jeden Cent.

So gehe ich schweren Herzens weiter und hole als erstes ein frisch gebackenes Brot und im nächsten Moment stehe ich in der Fleischerei. Der Geruch von leckerer Wurst steigt mir in die Nase und das Wasser läuft mir förmlich im Mund zusammen. Die Verkäuferin ist sehr freundlich und bedient mich ohne eines neugierigen Blickes. Das sie anscheinend in ihren eigenen Gedanken gefangen ist, fällt mir nicht auf.

Ich kaufe nicht so viel, eigentlich nur einzelne Proben, da wir erst einmal sehen müssen, ob es uns schmeckt. Man kann ja nicht nur nach dem Geruch gehen, obwohl der wirklich lecker ist. Ich lege das Geld in die kleine Schale, die auf der Theke steht und dann nehme ich die Tüte, die die Verkäuferin mir herüber reicht. Dabei berühren sich eher flüchtig unsere Hände und sofort durchfährt mich ein Schlag. Wie vom Blitz getroffen taumele ich nach hinten und stechende Schmerzen explodieren regelrecht in meinem Kopf.

Eine Vision! Jetzt und hier? Ich hatte schon ewig keine mehr und dachte, ich könnte hier endlich ruhiger leben. Mit den Gedanken stolpere ich an den Stehtisch, der in der Ecke des Ladens steht und kann mich gerade noch festhalten. In der Sekunde kommen die Blitze, die ich nur zu gut kenne und kurz darauf sehe ich die Bilder. Ich höre die Frauen hinter mir tuscheln, aber ich schließe die Augen und widme mich allein den Bildern, um vielleicht helfen zu können, obwohl ich hier noch fremd bin.

Ich sehe zwei Männer, die mit einer Kuh kämpfen. Sie versuchen, diese auf einen Anhänger zu ziehen, jedoch stemmt sich das Tier so sehr dagegen, dass sie kaum etwas ausrichten können. Dann geht der eine nach hinten und legt seine Hände auf das Hinterteil der Kuh und versucht sie mit aller Kraft auf den Wagen zu schieben. Aber auch das klappt nicht. Gerade als er zur Seite treten will, holt das Tier aus und tritt mit den Hinterbeinen dem Mann voll gegen den Oberkörper. Dieser fliegt nach hinten und bleibt regungslos an der Mauer des Stalles liegen. Der andere lässt erschrocken die Kuh los, die natürlich ihre Chance nutzt und schnellstens auf die Weide zu den weiteren Tieren zurückläuft. Er unternimmt nichts dagegen, sondern rennt zu dem verletzten Mann und beugt sich zu seinem Kollegen hinunter. Er rüttelt ihn, aber es kommt kein Lebenszeichen mehr von ihm. Ich sehe, wie das Blut aus einem Mundwinkel läuft und ich bin mir sofort sicher, dass er tot ist.

In diesem Moment spüre ich eine Hand auf meiner Schulter und öffne erschrocken wieder die Augen.

„Junge Frau, alles in Ordnung?“, fragt mich die Verkäuferin und stellt mir gleichzeitig ein Glas Wasser auf den Tisch.

„Ja, Danke. Es geht schon wieder“, antworte ich leise, denn die Kopfschmerzen sind noch nicht ganz verschwunden.

„Trinken Sie einen Schluck Wasser. Das tut Ihnen bestimmt gut“, redet sie höflich weiter.

„Danke“, nicke ich ihr zu und sie geht wieder hinter ihre Theke, um ihrer Arbeit nachzugehen.

Das kühle Wasser läuft durch meine Kehle und überraschend schnell verschwinden die letzten Schmerzen.

Jetzt kann ich wieder klar denken und überlege, wie ich das dieser Frau sagen soll. Es ist bestimmt ihr Mann, denn die Berührung unserer Hände hat diese Vision ausgelöst. Normalerweise kommen sie stets ohne Kontakt zu den Betroffenen. Ich habe sie weder gesehen noch gekannt. Das hier ist also etwas ganz anderes, was mich mehr als nervös macht.

Was wird sie wohl sagen, wenn ich ihr jetzt damit komme, dass ihr Mann einen Unfall haben wird? Sie kennen mich nicht und der richtige Zeitpunkt, mich gerade mit einer Vorhersehung vorzustellen, ist es wohl auch nicht. Ich grübele, wie ich am besten vorgehen sollte, denn viel Zeit werden wir aus meiner Erfahrung her nicht mehr haben.

In diesem Moment kommt eine andere Frau in den Laden und begrüßt die Verkäuferin sehr vertraulich. Ich nehme einen weiteren Schluck Wasser und lausche gezwungener Maßen dem Gespräch, denn jetzt kann ich mich erst recht nicht an die Frau des Fleischers wenden.

„Hallo meine Liebe. Ich habe dein Päckchen schon fertig gemacht“, sagt diese hinter der Theke und reicht eine volle Tüte zu der anderen hinüber.

„Danke dir“, lächelt die Kundin und redet weiter: „Und, wie geht es dir heute? Ich habe wie versprochen die verwelkten Blumen von dem Grab deines Mannes heruntergenommen und einen bunt gemischten Strauß aus meinem Garten in die Vase gestellt. Du musst also nicht gleich loslaufen. Es hat bis zum Wochenende Zeit.“

„Das ist aber lieb von dir. Ich habe sowieso keine Zeit. Heute kommen noch Schweinehälften und so muss ich auch noch im Schlachthaus mit helfen“, antwortet die Frau mit einem Schulterzucken.

„Katrin, da wirst du dir wohl doch noch jemanden holen müssen. Ihr zwei könnt das doch nicht alleine schaffen. Und er hat doch auch Familie und kann nicht rund um die Uhr hier bei dir sein“, sagt die Frau vor der Theke.

„Es sind doch gerade zwei Monate. Ich brauche noch etwas Zeit, um einen genauen Überblick zu bekommen, was ich mir noch zusätzlich leisten kann oder auch nicht. Ich will ja schließlich den Laden nicht verlieren. Frank hat das alles aufgebaut“, schluchzt die Frau und ich wende nun den Blick zu ihnen hinüber.

Beide flüstern noch etwas, was ich jedoch nicht verstehe. Dann drückt die Katrin ruckartig den Rücken durch, atmet einmal tief ein und ist nur Sekunden später wieder die resolute Verkäuferin. Wie kann man nach dem Tod des eigenen Mannes so einfach weitermachen? Aber sie wird nicht umhinkönnen und schon ziemlich stark sein. Die Frauen nicken sich noch einmal zu und dann verlässt die Kundin wieder das Geschäft.

Ich schaue ihr durch das Fenster hinterher und die Fragen schleichen sich in meinem Kopf und breiten sich rasend schnell aus.

Ihr Mann ist schon tot. Seit zwei Monaten! Wieso habe ich dann diese Vision erlebt? Ich brauche und kann doch nicht mehr helfen. Was soll das? Welche Aufgabe wird mir jetzt gestellt? Oder gibt es für mich nichts mehr zu tun und es waren nur die übergroßen Gefühle der Frau, die mir diese Vision geschickt haben. Ihr Schmerz und die Trauer sind wahrscheinlich so stark und trotzdem steht sie hier im Geschäft und zusätzlich noch im Schlachthaus. Irgendwie ist es klar, dass sich das über kurz oder lang entlädt. Aber warum gerade bei mir? Weil ich wohl die Einzige bin, die dafür empfänglich ist. Ich bin froh, nicht auf sie zugegangen zu sein, um helfen zu wollen. Da hätte ich mich ja komplett zum Affen gemacht und schneller einen Ruf hier in der Stadt, als mir lieb gewesen wäre.

Da ich momentan keine Antworten auf die vielen Fragen in meinem Kopf finde, trinke ich das Glas Wasser aus und stelle es auf die Theke. Ich bedanke mich noch einmal höflich und verlasse den Laden. Vor der Tür atme ich mit einem tiefen Zug die frische Sommerluft ein. Nach ein paar weiteren Zügen fühle ich mich wieder richtig gut. Mein Kopf ist klar und die Gedanken sind weg. Ich möchte unbedingt das Erlebte vergessen und mache mich schnellstens auf den Heimweg.

Erlös mich, wenn du kannst

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