Читать книгу Benjamins Schatten. Befreiung aus Co-Abhängigkeit und destruktiven Beziehungen. Eine therapeutische Fabel - Angelika Kaufmann - Страница 7
ОглавлениеBenjamin
Es geschah an einem sonnigen Frühlingsmorgen. Er hatte beschlossen, sich auf die Suche zu machen. Ging los, um zu suchen, was er nicht kannte oder was er vielleicht nur vergessen oder verloren hatte. Er war auf der Suche nach etwas, das in ihm mit stummen Worten rief.
Seine Eltern waren auf dem Markt verkauft worden, bevor sie ihm zeigen konnten, wie einfach und unkompliziert das wahre Leben eines Esels ist. Er wollte bei ihnen bleiben, doch man hatte ihn fortgeschickt, weil er noch zu klein zum Arbeiten gewesen war. Er war ein übrig gebliebener Esel und er fühlte sich auch so.
Sein Name war Benjamin.
Benjamin war ein kleiner Esel mit sand-braunem Fell, mit wunderschönen großen klaren Augen, mit strammen Ohren und gut gewachsenen geraden Beinen; er war ein außergewöhnlich schöner Esel. Alle Menschen, die ihn ansahen, riefen entzückt aus: „Oh, was für ein wunderschöner Esel und was für ein kuscheliges Fell er doch hat!“ Was die Menschen, die vorübergingen jedoch nicht sehen konnten, sondern nur jene wussten, die Benjamin besser kannten, war, dass er nicht nur der schönste Esel weit und breit, sondern auch der liebesbedürftigste war. Übrig gebliebene Esel sind oft außergewöhnlich liebesbedürftig, weil sie das Alleinsein besser kennen als das Lieb-Gehabt-Werden, und ihnen das Lieb-Gehabt-Werden so sehr fehlt, dass sie bedürftig werden.
Benjamin war sehr bedürftig! Er hatte keine Eltern mehr, die ihm Geborgenheit, Liebe und Sicherheit hätten geben können. Keine Geschwister, die mit ihm rauften, ihn doch beschützten und zu ihm standen, wenn Gefahr drohte. Kein Haus, das ihm Schutz und Wärme bot, und keine Futterkrippe, die seinen Bauch füllte; ja er hatte überhaupt nichts, das ihm gehörte. Doch Benjamin besaß etwas, aus dem er mehr machen konnte! Er besaß das Wissen um etwas Unzerstörbares und Bleibendes, das seine Eltern ihm tief ins Herz gesenkt hatten. Seine Ausdauer, diese Eselsgeduld und der Glaube, dass alles gut wird, basierten auf diesem Besitz. Doch damit nicht genug! Er war nicht nur der schönste, der liebesbedürftigste und der geduldigste Esel weit und breit, nein, Benjamin konnte zudem auch denken. Er wusste, dass er ein Esel ist; was Menschen im Allgemeinen von Eseln nicht erwarten. Sie erwarten es wohl deswegen nicht, weil sie von sich ausgehen.
Menschen sind gezwungen zu denken, sie können gar nicht anders. Benjamin war nicht gezwungen, er dachte nur manchmal – hatte dann Eselgedanken. Die besten Gedanken kamen ihm, wenn er zuvor lange wunderbar, völlig tatenlos und unaufmerksam vor sich hin gestarrt und gedöst hatte.
Er fand es viel schöner zu dösen als zu denken.
Ach, Benjamin döste so gerne.
Oh – mit welcher Wonne hatte er gedöst, wenn er vor lauter Lebensfreude so viele Bocksprünge gemacht hatte und davon so müde geworden war. Eine schöne Zeit war das gewesen, damals als seine Eltern noch bei ihm waren.
Nun wollte Benjamin nicht länger ein übrig gebliebener Esel sein; er sehnte sich nach jemandem, der ihn das Verlassensein vergessen ließ. Unbeschwert wollte er wieder die Lust aufs Leben in sich spüren können und übermütig sein, so wie Kinder es sind, die sich behütet wissen. Wollte so gerne als Fohlen bei seinen Eltern sein. Ach, was für eine tiefe Sehnsucht das doch war!
Benjamin war für sein Alter ein kleiner Esel, doch er konnte so großartig empfinden, wie er es bei Menschenkindern schon oft beobachtet hatte. Er war fröhlich oder er war traurig, doch beides war er immer ganz, das machte ihn reich. Benjamin war so reich, dass er keine Angst vor dem Morgen hatte. Er war so reich, dass er sich ein einfaches Leben leisten konnte. Das Ärgerliche an seinem Reichtum war nur, dass ihn niemand mit ihm teilte, so dass er im Grunde gar nicht wusste, wie reich er war. Er wusste nur, dass er sein Leben mit jemand teilen wollte – das war alles. Aber das war viel, sehr viel, so empfand es Benjamin jedenfalls und er empfand es jeden Tag ein bisschen mehr.
Er konnte noch lieben, als ob er niemals verletzt worden wäre. Konnte alles Böse vergessen, wenn er lieb gehabt wurde; wusste, dass Liebe das Größte von Allem ist und dass nur die Angst, sich durch sie zu verlieren, verloren macht. Liebe durch Angst verlieren, das wollte er auf gar keinen Fall. Dieses Wissen hatte er von seinen Eltern, es war eine alte Eselweisheit. Er wollte diese Weisheit in Ehren halten, sie in sich bewahren; gerade weil es das Einzige war, was ihm noch von ihnen geblieben war. Benjamin war ein kluger Esel.
Er wollte es den Menschen, die nur glauben, was sie sehen oder was man beweisen kann, nicht gleich tun; den Menschen, die Liebe für Dummheit halten und glauben, dass Esel dumm sind. So ließ er die Kinder geduldig auf seinem Rücken reiten und rannte mit ihnen um die Wette, wenn sie es wollten. Ließ sich als Zirkuspferd verkleiden; ja, er schleckte ihnen sogar die Beine ab, wenn sie einmal hingefallen waren. Und wenn sie sich dann, nach all dem Spielen, ausruhen wollten, legte Benjamin sich hin und ließ sich von ihnen als Kopfkissen benutzen. Es war also ganz natürlich und nachvollziehbar, dass Kinder ihn so gerne hatten. Benjamin liebte die Menschen, obwohl sie es gewesen waren, die, an einem sonnigen Tag, seine Familie verkauft hatten. Doch er liebte nicht nur die Menschen, nein – er liebte die ganze Welt. Er gehörte niemandem, gehörte nur sich selbst, aber er wollte so gerne jemandem gehören. Er kannte noch nicht die Folgen, die durch Abhängigkeit entstehen, wusste nur, dass mangelnde Geborgenheit einen kleinen Esel unfrei macht.
Voller Sehnsucht nach seinen Eltern, erinnerte er sich so gerne an die Worte seiner Mutter, die er immer wieder hörte, wenn er sich einsam fühlte. Sie hatte sie zum Abschied gesagt, als sie an einem Strick fortgeführt worden war. Manchmal, wenn Benjamin irgendwo alleine in einer verlassenen Scheune oder sonst wo ein ruhiges Schlafplätzchen gefunden hatte, wenn er sich so ganz verlassen fühlte, hörte er ihre Worte besonders deutlich, so deutlich, als wäre sie noch immer bei ihm: „Benjamin, denke immer daran, dass Esel Märchen wahr werden lassen können, wenn sie mutig genug sind, ihre eigenen Wege zu gehen, fest an ihr Ziel glauben, aus Fehlern lernen und ihrem eigenen Können und dem vertrauen, was das Herz ihnen sagt. Aber achte darauf, wer wirklich gut zu dir ist. Lasse die Märchen wahr werden, in denen du dich erkennst und nicht die Märchen der Menschen, die Esel für dumm halten. Menschen, die ihre Gefühle verdrängen, verwechseln sie leicht mit Dummheit. Hüte dich vor ihnen! Deinen Weg kannst du erkennen, wenn die Kraft in dir wächst und dein Ziel dich ruhig und freudig macht.“ Das hatte sie ihm gerade noch sagen können, dann war sie auf einen LKW gezerrt worden. Doch bevor die Klappe sich ganz geschlossen hatte, sah er noch durch einen offenen Spalt ihren liebenden Blick. „Glaub’ an unser Märchen, Benjamin!“, hatte es noch von dem Wagen gehallt. Doch als die Klappe geschlossen wurde, war ihm das Märchen verloren gegangen.
‚Glaub’ an unser Märchen, Benjamin‘, hallte es in seinem Herzen zurück, immer wenn er an sie dachte. Ja, das hatte ihm seine Mutter gesagt, das trug er in sich wie ein Gebet. Stundenlang hatten diese Worte in Benjamin nachgeklungen, tagelang hatte Benjamin vor sich hin gedöst, bevor er sich ganz alleine auf den Weg gemacht hatte, um sein Märchen zu suchen.
Er wusste nicht, wie weit er gegangen war, nicht wie lange es gedauert hatte, bis er eine alte verlassene Scheune gefunden hatte, in der er ungestört schlafen konnte und in deren Nähe Kinder wohnten. Auch lebten dort noch andere Esel, mit denen er auf einer großen Weide, die einem Bauern gehörte, ausgelassen spielen und von denen er das ein oder andere lernen konnte. Diese Spielkameraden waren Esel, die von dem Bauern gekauft worden waren, weil seine Kinder etwas Lebendiges zum Spielen haben sollten. Benjamin hatte sich einfach zu ihnen gesellt, damit er nicht länger ein Übriggebliebener war, er wollte dazu gehören; zu ihnen gehören. So hatte es sich scheinbar wie von selbst ergeben, dass er mit ihnen spielte, ohne jemandem erklären zu müssen, woher er gekommen war. Den ganzen Tag verbrachte er mit den anderen Eseln, doch am meisten freute er sich, wenn die Kinder mit ihm spielten. Eigentlich war es gar nicht das Spielen, das Benjamin so sehr mochte. Wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, mochte er die Kinder so gerne, weil sie ihn mit ihren kleinen Händen so zärtlich hinter den Ohren kraulen konnten. Und wenn er noch ehrlicher zu sich selbst war, dann liebte er das Kraulen ihrer kleinen Hände so sehr, weil es ihn an das Maul seiner Mutter erinnerte, mit dem sie ihn oft so zärtlich liebkost hatte. ‚Meine Güte, war das schön gewesen. Wie schön ist es doch, solche Erinnerungen zu haben‘, dachte dann der kleine Benjamin. So ließ er für die zahlreichen kurzen Augenblicke, in denen er diese Zärtlichkeiten genießen konnte, die ihn so sehr an selige Zeiten erinnerten, vieles mit sich anstellen, das er in Wahrheit gar nicht so gerne mochte.
Abends, wenn die Kinder ins Haus gingen und die Esel in ihren Stall geführt wurden, zog Benjamin sich in seine alte Scheune zurück, legte sich auf ein paar ausrangierte, muffig riechende Mehlsäcke schlafen und träumte von dem Tag, an dem er vielleicht auch jemandem gehören würde, so wie die Anderen.
Ein schönes Leben wäre das!