Читать книгу Benjamins Schatten. Befreiung aus Co-Abhängigkeit und destruktiven Beziehungen. Eine therapeutische Fabel - Angelika Kaufmann - Страница 8
ОглавлениеZufallist ein Wort ohne Sinn.
Nichts kann ohne Ursache existieren.
Voltaire
Teil 1
Sucht und Co-Abhängigkeit
Doch was macht ein kleiner brauner Esel, für den niemand sorgt; der nicht gelernt hat, wie er für sich selbst sorgen kann, wenn der Magen so laut knurrt, dass man meinen könnte, er habe einen brüllenden Löwen verschluckt? Diese Frage ging ihm durch den Sinn, als der Bauer eines Abends lautlos in die Scheune getreten war und ihm eine dicke rote Rübe vor die Nase hielt. Oh, wie hat er sich gefreut.
„Ein Bauer, der weiß, dass ich Hunger habe“, stieß es lauthals aus ihm hervor.
„Was schreist du denn so herum?!“, hatte der Bauer ihn geschimpft. „Es muss doch nicht die halbe Welt erfahren, dass ich bei dir schlafen möchte.“
‚Er will bei mir schlafen?‘, fragte sich der kleine Esel. ‚Er will bei mir schlafen!‘, freute er sich dann. ‚Ja, das kann er doch‘, dachte sich Benjamin und so legte er sich zu einem Kopfkissen, wie er es schon so oft für die Kinder getan hatte und schlief mit dem Bauern gemeinsam ein. Das war schön! Am nächsten Morgen kraulte ihn der Bauer, in aller Frühe, ganz behutsam, bevor er die alte Scheune verließ. Nach wenigen Minuten kam er mit einem prächtigen Frühstück zurück. Benjamin glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Da lagen im Dunkel der alten Scheune leuchtende Maiskolben, saftige Möhren, dicke gekochte Kartoffeln und zwei duftende, frisch gepflückte Äpfel. Oh, mit wie viel Freude begann Benjamin sich nun satt zu essen. Es war eine Freude ganz besonderer Art, denn er fühlte sich nicht nur wie im Schlaraffenland, nein, er glaubte sich auch nicht mehr einsam, nicht so entsetzlich übrig geblieben. Während er die dritte oder vierte Möhre verspeiste, wurden ihm sanft die Ohren gekrault, die Beine massiert, der Bauch gestreichelt; Benjamin konnte gar nicht glauben, was er da erlebte.
Nach so einem Frühstück konnte er auch noch viel besser und ausgelassener mit den Kindern spielen. Außerdem glänzte sein braunes Fell jetzt noch schöner und seine Ohren standen so stramm wie nie zuvor.
Zwei Tage und Nächte waren vergangen, als am frühen Morgen, die Sonne war gerade aufgegangen, die Kinder mit der Bäuerin davonfuhren. Benjamin hätte dem keine besondere Beachtung geschenkt, denn sie waren schon des Öfteren mit dem Auto vom Hof gefahren, merkwürdig aber war, dass die Esel so entsetzlich schrien. Benjamin musste mit ansehen, wie die Esel nacheinander an einem Strick auf einen Anhänger gezogen wurden, während sie ohrenbetäubend brüllten. Benjamin fühlte sich in die Vergangenheit zurückversetzt. Nur, dass seine Eltern nicht geschrien, sondern zu ihm gesprochen hatten, als sie abgeführt worden waren, aber das machte das Ganze eher noch schlimmer. Den Bauern erschreckten die Geschehnisse nicht, sie schienen ihm gleichgültig zu sein. Aber vielleicht schien es auch nur so.
‚Die werden vielleicht woanders spielen‘, dachte Benjamin bei sich, ‚denen ist diese Weide hier vielleicht zu abgegrast. Oder sie fahren in den Urlaub, Menschen machen ja so etwas‘, das wusste er. ‚Aber die Esel, was war mit ihnen und warum ist der Bauer nicht mitgefahren?‘ Die Esel hatten gebrüllt, fürchtbar gebrüllt; sie hatten sich steif gemacht, wollten nicht auf den Anhänger gezogen werden. Was war geschehen? Über Nacht war es dann ruhig auf dem Bauernhof geworden, völlig ruhig, ungemütlich ruhig. Keine Kinder, keine Esel – nichts; alles war wie ausgestorben. Sogar der Hahn und die Hühner waren nicht mehr da. Benjamin lief an manchen Tagen den Weg entlang bis zur nahen Landstraße, lief auch die Nachbarweiden ab, rief nach den Eseln, rief nach den Kindern, doch niemals kam eine Antwort zurück.
Stille! Wohin er auch sah, wohin er auch ging. Es war jene Art von Stille, die im Magen zieht, die von Verlassenheit erzählt. Er kannte dieses Gefühl gut und es tat ungemein weh. Irgendetwas stimmte hier nicht, das wusste Benjamin. Aber was? Er fühlte sich völlig hilflos!
Hilflosigkeit dauert seine Zeit! Benjamin ließ sie verstreichen, bis ihn der Bauer eines Abends fragte: „Sag mal, Benjamin, was hältst du davon, wenn du mit mir in meinem großen Bauernhaus lebst?“
Benjamin wusste nicht, was er davon halten sollte, denn er hatte ja noch niemals in einem Bauernhaus gelebt.
Wir alle wissen, dass das Leben nicht immer nur in eine Richtung verläuft und auch Benjamin hatte das schon als kleiner Esel erfahren. Sollte das hier nun ein Richtungswechsel sein, der vielleicht sein Leben wieder in bessere Bahnen lenken würde? Das Ende der Einsamkeit vielleicht?
Meine Güte, wäre das schön!
Vom Vater hatte Benjamin einmal gesagt bekommen, dass es drei Möglichkeiten gibt, die ein Esel kennen muss: „Du entscheidest dich für etwas, gegen etwas oder du wartest, bis von anderer Stelle für dich entschieden wird. Die dritte Möglichkeit ist eines Esels nicht würdig!“ Die Erinnerung an seinen Vater tauchte unseren kleinen Benjamin in eine mehlsackschwere Traurigkeit. Er konnte deutlich seinen verloren gegangenen Tatendrang spüren, wenn er an seinen Vater dachte. Er wusste, dass seine Eltern die dritte Möglichkeit erfahren hatten, als sie an einem Strick fortgeführt wurden und dass er übrig geblieben war, ohne dass er sich dagegen hätte entscheiden können. Plötzlich spürte Benjamin, trotz seines jungen Lebens, die ganze Tragweite der freien Entscheidung und empfand sie als ein großes Geschenk.
Esel sind in der Regel stolz darauf, dass sie ihren eigenen Willen haben. Doch unter widrigen Umständen können auch sie vergessen, dass sie ein Esel sind.
So geschah es, dass der Bauer mit ihm über die große Weide ging, hinüber zu seinem prächtigen Bauernhof, in dem Benjamin etwas unbeholfen umher stolperte. Als der Bauer ihn gebeten hatte, mit ihm in seinem Schlafzimmer zu schlafen, weil er das Alleinsein nicht ertragen könne, konnte Benjamin das sehr gut verstehen. ‚Auch ein Übriggebliebener‘, dachte er.
Dann quälte er sich eine steile Holztreppe hinauf, was für einen Esel eine ungeheure Leistung darstellt, um an der Seite des Bauern zu einem riesigen alten Bett zu gelangen. Benjamin legte sich auf den Fußboden, nahe dem Bett, so dass ihn der Bauer, wenn er seine Hand seitlich herunterhängen ließ, fühlen konnte. So waren sie beide friedlich eingeschlafen.
Am anderen Morgen fühlte Benjamin sich jedoch etwas seltsam; es war ihm irgendwie nicht so recht eselhaft zu Mute. Doch als der Bauer ihm wiederholt ein Schlaraffenlandfrühstück brachte, dachte er nicht länger darüber nach, wie er sich als Esel gewöhnlich gefühlt hatte; dafür ging es ihm jetzt viel zu gut. Das glaubte er zumindest – und weil er es glaubte, fühlte er sich auch so gut! Er hatte oft Angst gehabt, ohne seine Eltern nicht leben zu können, nun hatte er diese Angst nicht mehr.
Viele Abende folgten, an denen Benjamin sich sorglos und gut fühlte, aber es kamen auch viele Morgen, an denen ihm nicht eselhaft zu Mute war. Die Erlebnisse des Frühlings jedoch lagen weit zurück. Die Zeit hatte seine Traurigkeit verblassen lassen, aber sie hatte sie nicht geheilt. Abend für Abend quälte Benjamin sich die steile Treppe hinauf, um dem Bauern eine Freude zu machen und um eine warme Hand in seinem Fell spüren zu können. „Niemand sollte verlassen sein“, sagte sich Benjamin immer wieder, wenn sie gemeinsam einschliefen.
Benjamin bemerkte, dass er die Sprache des Bauern mittlerweile besser verstand als seine eigene, dass ihn seine vulgären Witze nicht mehr erschreckten und dass er innerlich die Lieder eines Mannes sang, dessen Brot er aß. Was aber erschreckend war: Benjamin hatte seine eigene Sprache vergessen, er war stumm geworden und er bemerkte es nicht einmal. Doch dass sich hinter seiner Selbstlosigkeit Furcht verbarg, ahnte er erst, als er eines Tages nicht mehr recht einschlafen konnte. Sein Leben mutete ihn plötzlich so unwirklich an. Er fürchtete sich vor der Frage, ob es das Leben war, das er leben wollte. Seine Angst hatte wohl mehr Macht bekommen als sein Gespür für Glück. So handelte er wie fremdbestimmt, so, als ob er nur ein Statist sei. Erst viel später stellte Benjamin sich die Frage, warum er den einen statt den anderen Weg gewählt hatte.
Wer sich nicht selbst helfen will,
dem kann niemand helfen.
J.H. Pestalozzi
Die Äpfel faulten an den Bäumen, das Laub wurde bunt, nachts wurde es jetzt häufiger empfindlich kalt. So wurden die Fenster allabendlich geschlossen. Aus diesem Grunde nahm Benjamin wohl erst jetzt einen seltsam unangenehmen Geruch wahr, den er vorher gar nicht bemerkt hatte. Der Bauer, der sonst immer so ruhig und friedlich geschlafen hatte, stand nun auch häufiger auf. Er trank Wasser aus Flaschen, dessen Geruch Benjamin in der Nase juckte und nach dem der Bauer entsetzlich aus dem Mund roch. Auch bemerkte Benjamin, dass der Bauer ganz anders sprach und überhaupt ein ganz anderer war, wenn er dieses Wasser getrunken hatte. Benjamin konnte das gar nicht verstehen; er verstand nur, dass irgendetwas nicht gut an diesem Wasser sein konnte.
Der Bauer erzählte ihm immer häufiger von seinen Sorgen und dass er nicht mehr genügend Geld verdienen könne, um den großen Hof zu behalten. Seine Frau habe ihn verlassen und die Kinder mitgenommen; damals, als er in den Stall zu Benjamin gekommen war. Damals, als alles still und so anders geworden war. Benjamin erinnerte sich gut an dieses Gefühl, das er im Frühling gehabt hatte. Die Kinder waren nicht mehr da und auch die Tiere waren alle verschwunden gewesen.
„Warum sind alle fort?“, wollte Benjamin wissen.
„Ich bin alkoholkrank und habe alles versoffen“, erzählte ihm eines Abends der Bauer, als er wieder von dem stinkenden Wasser getrunken hatte.
„Du bist alles, was mir geblieben ist. Einen Esel, der zu jung zum Arbeiten ist, wollte mir keiner abkaufen.“
Nun war es nicht mehr schön, mit dem Bauern zu leben, denn er wälzte sich immer so schrecklich im Bett herum. Oft spuckte er ganz furchtbar oder er machte ins Bett. Wenn er dann aufstand, trat er manchmal auf Benjamin, das war nicht schön. Vor allem, weil die Tritte ihn oft im Tiefschlaf trafen. ‚Was ist das nur für eine Krankheit?‘, fragte sich Benjamin. Die hat er doch erst, seitdem er das stinkende Wasser trinkt. Dann soll er das doch einfach sein lassen, und das sagte er dem Bauern dann auch.
Doch der beachtete ihn schon lange nicht mehr, schien ihn gar nicht wahrzunehmen; war nur noch mit sich selbst beschäftigt. Verbrachte immer häufiger die Tage mit einer Flasche im Bett.
Als Benjamin einmal eine Flasche versteckt hatte, war der Bauer so aggressiv geworden, dass er ihn, wie aus einer Panik heraus, die Treppe hinuntergestoßen hatte. Zwei eingetretene Türen, Stromausfall und ein zerbrochener Knüppel waren ihm in Erinnerung geblieben, als er Tage später mit geschwollenen Hinterläufen aus seiner Ohnmacht erwacht war. Es war so schlimm gewesen, dass Benjamin zu zittern begann, wenn er nur daran dachte.
‚Menschen achten keine Esel‘, dachte Benjamin. ‚Ob der Bauer wohl ein Mensch ist, der Esel für dumm hält?‘ Dieser Gedanke machte ihm Angst. Benjamin hatte gelernt, dass Einsamkeit sich auch dann breit machen kann, wenn er mit dem Bauern zusammen war und dass Angst und Einsamkeit etwas miteinander zu tun haben mussten. Benjamin entwuchs seiner Kindheit, indem er immer stummer und ängstlicher wurde.
An manchen Tagen, wenn der Bauer nicht im Bett liegen blieb, musste Benjamin mit ihm in eine kleine Stadt gehen; dann lud der Bauer ihm viele Kisten mit Flaschen auf den Rücken. Auf dem Hinweg waren sie leicht, weil sie leer waren, doch auf dem Heimweg hatte Benjamin immer sehr schwer zu tragen. Vor allem, weil der Bauer dann meistens nicht mehr gehen konnte und sich zusätzlich noch auf Benjamins Rücken setzte. Auch bekam er kein Schlaraffenlandfrühstück mehr am Morgen. Jetzt bekam er nur noch Kartoffel- und Apfelschalen zu essen, wenn er überhaupt noch etwas zu essen bekam, und an die Luft kam er so gut wie gar nicht mehr. Benjamins Fell war nun nicht mehr kuschelig braun, sondern borstig stumpf; die wunderschönen klaren Augen sahen trübe und traurig aus. Seine Ohren standen nicht mehr stramm nach oben, sondern fielen an den Spitzen schlapp nach unten. Die Beine knickten immer häufiger ein, wenn sie auf den langen Wegen in die Stadt schwächer wurden, weil die Kisten und der Bauer so schwer auf seinem Rücken lasteten. Einmal hörte Benjamin zwei Frauen miteinander sprechen, als er an ihnen vorbeitrottete:
„Da kommt der alte Säufer mit seinem Esel“, hatten sie gesagt.
„Der säuft sich um den Verstand und diesen Esel bepackt er wie ein Muli. Kein Wunder, dass seine Frau mit den Kindern ausgezogen ist. Dieser Esel muss zurückgeblieben sein, denn so etwas lässt sich nur ein dummer Esel gefallen.“
Da hätte Benjamin gerne weinen mögen, wie die Menschen es können. Doch er konnte es nicht. Die Erfahrung, dass er nicht um seiner selbst willen geliebt wurde, war so schmerzhaft, dass er seine wahren Gefühle zu leugnen begonnen hatte. Es schien ihm plausibel, dass er sich die Liebe des Bauern verdienen musste. Mittlerweile hatte er selbst ein paar Mal aus der Flasche getrunken, um seine verleugneten Gefühle zu betäuben. Sie hatten, in manch unruhiger Nacht, Fragen aufgeworfen, die Benjamin nicht beantworten konnte, solange er seine Verleugnungen aufrechterhielt. ‚Eigentlich sollte ich dieses Leben gar nicht leben‘, sagte sich Benjamin manchmal, ‚denn ich gehöre niemandem. Der Bauer benutzt mich, aber helfen tut es ihm nicht. ‘ Es ist jedoch eine alte Eselweisheit, dass niemand alleine gelassen werden darf, der einmal ein Freund gewesen war. Es war eine Weisheit, die Benjamin irgendwie falsch und doch schön fand. Auf jeden Fall war sie bequem, so glaubte er, denn er hatte keine Ahnung, was er für sich selbst, aus eigener Kraft bewirken konnte.
So schleppte Benjamin die Lasten, die der Bauer ihm auflud. Schlief in einem Zimmer, das nicht eselwürdig war und wurde täglich trauriger, träger und einsamer an der Seite eines Menschen, der ihn nur noch bei sich behielt, damit er in Ruhe sein stinkendes Wasser trinken konnte und weil ihm sonst niemand geblieben war, der ihm dienen wollte. Unser kleiner Benjamin wäre wohl immer trauriger geworden und vielleicht wäre er sogar daran gestorben, wenn nicht eines Morgens die Konsequenz der Fremdbestimmung für Benjamin Schicksal gespielt hätte.