Читать книгу Eine Brücke für Joachim - Angelika Kutsch - Страница 3
I
ОглавлениеDer Zug rumpelte über die Weichen. Es war September. Regen zerfloß an den schmutzigen Scheiben und verwischte das Bild, das, obwohl der Zug fuhr, stillzustehen schien. Wenn der Regen einmal nachließ, sah man flaches Land, endlose Wiesen, überzogen vom feinen Netzwerk der Gräben, hier und da Gruppen von schwarzweißen Kühen, die sich dicht zusammendrängten.
Agnes drückte den Kopf tiefer in den Mantel und schloß die Augen. Sie war auf dem Weg in den Urlaub, den ersten Urlaub ihres Lebens. Schulferien kannte sie, Osterferien und Herumsitzen bei grauem Vorfrühlingswetter, Sommerferien mit den Eltern in den Bergen und Weihnachtsferien ohne Schnee. Wie hatte sie sich auf den ersten Urlaub vom selbstverdienten Geld gefreut! Urlaub unter südlicher Sonne an einem weißen Sandstrand, noch im Traum hörte man die Meeresbrandung, und wenn man Glück hatte, fand man die Liebe seines Lebens – oder wenigstens eine Sommerliebe.
Lutz berührte sie an der Schulter. »Du bist sicher müde. Schlaf ein bißchen. Ich weck’ dich, wenn wir aussteigen müssen.«
Agnes riß wütend die Augen auf. Natürlich war sie müde – beinahe wäre sie eingeschlafen. Wer wurde nicht schläfrig im Bummelzug! Wie schön wäre es, jetzt allein im Zug zu sein, ohne Lutz jedenfalls, südwärts in einem schnellen, gut gefederten, lautlosen Zug.
Und da saß sie im Abteil eines Lokalzuges mitten unter lärmenden Schulkindern. Statt nach Süden fuhr der Zug nach Norden, und ihr Ziel war alles andere als großartig. Es war nicht einmal ein richtiger Urlaub, eine Verlegenheitslösung nur, weil die anderen im Augenblick nichts mehr mit ihr anzufangen wußten. In so einem Fall war es immer gut, einen fortzuschicken. Die anderen meinten offenbar, räumlicher Abstand schaffe auch Abstand zu Ereignissen. Man löste doch keine Probleme, indem man wegfuhr! Die Erinnerung ließ sich nicht einfach auf einer Reise abschütteln. Sie fuhr mit, erneuerte sich mit den Bildausschnitten, die das Zugfenster vorbeitrug. Manchmal lief die Landstraße neben den Schienen her, sie war blank vom Regen und leer, die Bäume am Straßenrand sahen aus, als ob sie bis zum Bauch im Wasser ständen. Immer wieder sprang ihr so ein Baum ins Auge, starr und unverrückbar, so wie er damals plötzlich scharf umrissen aus dem Regen vor ihnen aufgestanden war.
Agnes bewegte sich unruhig, wie um die Erinnerung zu verscheuchen.
»Kannst du doch nicht schlafen?« fragte Lutz teilnehmend. »Vielleicht hast du Hunger. Ich wette, du hast heute morgen vor Aufregung nicht gefrühstückt. Hier, iß eine Banane!«
Agnes wandte den Kopf ab. »Ich mag nicht«, brummte sie. Außerdem hatte sie heute morgen unter der Aufsicht der Mutter gefrühstückt, von Aufregung keine Spur. Aber sie war es leid, sich zu verteidigen, richtigzustellen. Für Lutz und alle anderen war sie noch krank, verletzt, zwar nicht mehr sichtbar an einem Körperteil, aber irgendwo tief drinnen. Man sah es nicht. Man mußte ihre wunden Punkte raten. Man versuchte, mit Rücksicht und Zartgefühl zu helfen.
Fehlte nur noch, daß Lutz ihr gleich ein Kissen in den Rücken steckte, weil sie blaß war und keine Banane essen wollte, ausgerechnet ihr Bruder Lutz, der ihr sonst alle Schokolade, Apfelsinen, saure Gurken, eben alles, was er mochte, ohne Hemmungen vor der Nase wegaß. Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu. Aber Lutz hatte sich schon wieder in seinen Kriminalroman vertieft. Warum fand er außer peinlich teilnahmsvollen Fragen kein Gesprächsthema? Gespräch? Ach was, reden, kichern wollte sie, ihn in die Seite boxen und wiedergeboxt werden, um zu beweisen, daß sie die alte Agnes war.
»Möchtest du die Banane wirklich nicht?« fragte er, ohne von seinem Buch aufzusehen. »Wir sind nämlich gleich da.« Blind tastete er neben sich, das Buch auf den Knien balancierend, schälte er die Banane und aß sie allein auf. Er mußte sich beeilen, schon tauchten die Vororte der Stadt auf.
Agnes sah aus dem Fenster. Vor ihnen tat sich die rußgeschwärzte Bahnhofshalle auf. Die Reise war immer noch nicht zu Ende. Der letzte, unangenehmste Teil stand noch bevor, die Busfahrt, die Landstraßen – die Bäume an der Straße. »Ich werde nie wieder in ein Auto steigen«, hatte sie oft gesagt.
Anfangs hatten die anderen rücksichtsvoll geschwiegen, später gelächelt, und als es kürzlich um den Reiseplan ging, hatten sie widersprochen.
»Natürlich kannst du, man ist heutzutage aufs Auto angewiesen.«
Sie waren in der Überzahl, Mutter, Vater und Lutz, und sie hatten entschieden, daß es durchaus zumutbar sei, einmal in der Woche von ihrem »Kurort« mit dem Bus zur Krankengymnastin in die nächste Stadt zu fahren.
Der Zug hielt mit einem Ruck. Lutz warf seinen Kriminalroman ins Gepäcknetz und holte Agnes’ Koffer herunter. Er half ihr beim Aussteigen. Er trieb sie nicht zur Eile an; er wußte, daß sie noch Schwierigkeiten hatte. Sicher war das wieder ein Ausdruck seines verborgenen Feingefühls, als er sagte: »Ich gehe schon vor und kaufe dir einen Stadtplan. Wir treffen uns vor der Bahnhofshalle.«
Die erste Übung in Selbständigkeit, dachte Agnes ironisch. Üben, üben, üben hatte der Arzt zu ihr gesagt – offenbar nicht nur zu ihr, sondern auch zu den anderen. Sie hatten in der letzten Zeit so oft versucht, sie zu neuer Selbständigkeit zu erziehen, daß Agnes auf dem besten Wege war, an ihre Unselbständigkeit zu glauben.
Anfangs hatten sie jeden ihrer Schritte bewacht, gleichsam mit ausgestreckten Händen. Es war so weit gewesen, daß sie beim kleinsten Handgriff nach der Mutter rief, lange Zeit traute sie sich nicht allein vor die Haustür, weil sie fürchtete hinzufallen, sich lächerlich zu machen. Genau genommen war es ein Glück, daß sie endlich von zu Hause wegkam, mochte ihr Urlaubsziel auch noch so spießig sein. Betont gelassen schlenderte sie durch die Bahnhofshalle, in der sich die abgestandene Luft vergangener Sonnentage mit dem Geruch nach regennassen Kleidern mischte. Von ferne sah sie Lutz mit zurückgelegtem Kopf vor dem Fahrplan der abfahrenden Züge stehen. Sie hatte sein Zartgefühl offenbar doch überschätzt. Den Stadtplan hatte er nur vorgeschützt, weil er sich genierte einzugestehen, daß er so schnell wie möglich zurück wollte.
Niemand beachtete sie, weder ihren neuen Hosenanzug, den sie eigens für die Reise bekommen hatte und auf den sie sehr stolz war, noch ihren etwas schleppenden Gang. Ein junger Mann ging vor ihr hinaus und fand nichts dabei, ihr die Tür vor der Nase zufallen zu lassen. Am Fußgängerüberweg hielt erst das dritte Auto.
Als sie mitten auf der Fahrbahn war, hörte sie Lutz hinter sich rufen. Sie setzte ihren Weg fort und drehte sich erst auf der anderen Straßenseite um. Glaubte er, sie könne nicht einmal allein über die Straße gehen?
Drüben stand er und fuchtelte mit dem Stadtplan, den er offenbar doch noch besorgt hatte. Die ganze Probe war umsonst gewesen. Er winkte sie zurück. Links, links zeigte sein Arm, dort hielt der Bus.
»Ich hab’ dir doch gesagt: vor der Halle«, maulte er. »Darf man dich denn keine Minute aus den Augen lassen?«
Er half ihr beim Einsteigen, und ehe er die Fahrscheine löste, sorgte er dafür, daß sie einen Sitzplatz bekam. Das war die Art, mit der man sie zur Selbständigkeit erziehen wollte! Agnes ließ es über sich ergehen. Noch drei, höchstens vier Stunden, dann fuhr Lutz zurück. Dann fing ihr Urlaub an, die große Freiheit. Dann konnte sie sich auf die Probe stellen, vier Wochen lang, vielleicht sogar fünf. Das hing davon ab, wie es ihr gefiel, und ob es dem Vater gelang, sich im Oktober von seiner Arbeit freizumachen. Dann würden er und die Mutter herkommen, um Agnes abzuholen, und vielleicht würden sie ein paar Tage bleiben. Herbsttage an der See – darunter stellten sie sich etwas sehr Schönes vor.
Der Bus fuhr an, sachte, beruhigend brummend wie ein gutmütiges Tier. Die anderen hatten recht. Busfahren war nicht mit Autofahren zu vergleichen, die vielen Menschen um sie herum, der breite Gang und die unbehinderte Aussicht aus großen Fenstern gaben Agnes ein Gefühl der Sicherheit. Schmutz und Regen verwischten das Bild. Ein spitzer Kirchturm zerrann. Einmal tauchten Schiffsschornsteine über flachen Dächern auf, Kräne schwenkten unsichtbare Lasten über unsichtbaren Arbeitsplätzen.
Die Stadt lag bald hinter ihnen. Das Land war flach und wenig bebaut, so daß man sich fragen konnte, warum die Straße in komplizierten Windungen angelegt war, denen der schwere Bus nur mühsam folgen konnte. Die Pappeln am Straßenrand waren mager und windgebeugt. Agnes versuchte, sie zu übersehen. Sie sah nach vorn und war nun wirklich gespannt auf das Dorf, dessen Namen sie bis vor kurzem noch nie gehört hatte. Ein paar Wochen Ruhe, hatte der Arzt empfohlen, möglichst in einer fremden Umgebung.
Daraufhin hatte die ganze Familie viele Abende über den Atlas gebeugt verbracht; sie waren mit den Fingern an den Bahnlinien entlanggefahren, hatten in hellbraunen Mittelgebirgen verhalten, und Lutz hatte Prospekte aus dem Reisebüro geholt. In ihnen nahmen die grünen und hellbraunen Flecken aus dem Atlas Gestalt an: Pension »Haus Sonnenblick« und »Waldesruh«, leuchtend weiße Fensterfronten, grünüberschattete Waldwege und vor dem Panoramablick eine Ruhebank mit einem älteren Paar von hinten.
Agnes wollte keine Pension mit Waldblick, sie wollte ein Hotel direkt am Strand. Sie wollte alles nachholen, was ihr in diesem Sommer entgangen war. Aber ihr Protest half nichts. Sie sei noch nicht gesund genug, um allein die weite Fahrt in den Süden zu unternehmen – und überhaupt hatten die Eltern etwas gegen ihren »Südentick«, wie sie es nannten.
Sie hatten sich natürlich nicht gestritten. Zum Streiten war Agnes noch zu krank. Man redete ihr gut zu, und wenn Frau Wilkens nicht gewesen wäre, hieß ihr Ziel jetzt vielleicht Malente oder Braunlage.
»Schicken Sie das Mädchen an die See«, hatte sie Agnes’ Eltern geraten. Sie fuhr jeden Sommer »an die See«. Das war stark übertrieben, denn ihr Urlaubsort lag weit entfernt vom offenen Meer an der Wesermündung. Das sah man mit bloßem Auge auf der Landkarte. Die Vorteile, die sie aufzählte, leuchteten ein: Die Luft war gut, die Zeit war günstig, die Preise noch günstiger. Die arme, alleinstehende Frau Brodersen würde sich über die Extra-Einnahme außerhalb der Saison freuen, und Agnes wäre in guter Obhut. Zwei nette Mädchen waren sozusagen im Preis inbegriffen.
Das alles besprachen sie über Agnes’ Kopf hinweg, und an einem stillen Abend schrieb der Vater einen Brief. Agnes konnte sich ausmalen, was alles darin stand: Meine Tochter hat Schweres hinter sich, seien Sie rücksichtsvoll, haben Sie Nachsicht mit ihren Launen –
Lutz, der in Bremen studierte, wurde zum Reisebegleiter ernannt. Heute morgen hatte er sie am Bremer Bahnhof erwartet, um sie bei Frau Brodersen abzuliefern. Nun saß er neben ihr, hatte schlechte Laune wegen des verlorenen freien Tages und wagte nicht, seine schlechte Laune zu zeigen. Er sah nicht aus dem Fenster. Offenbar machte er sich überhaupt nichts aus der rauhen Landschaft des Nordens, die er ihr vor gar nicht langer Zeit selber schmackhaft zu machen versucht hatte. Er konnte nicht einmal auf Frau Brodersens Tochter neugierig sein, weil sie Lenchen oder Leni hieß – das war nach Frau Wilkens’ Aussagen nicht einwandfrei zu klären. Frau Wilkens war begeistert von ihr, für Lutz Grund genug, mißtrauisch zu sein.
Agnes hatte auch kein besonderes Interesse an einer Bekanntschaft mit diesem Mädchen. Ihr genügte es zu wissen, daß man sie nicht wieder in eine Klinik oder in ein Sanatorium stecken wollte. Sie haßte alle Häuser, die sie ans Krankenhaus erinnerten, vierkantige Klötze mit langen, blanken Fensterreihen, und dahinter blanke Korridore, über die Schwestern mit gleichsam ebenso blanken Gesichtern huschten. Agnes waren sie im Gegensatz zu ihrer eigenen Unbeweglichkeit wie hüpfende, tanzende, glückliche Gelenkpuppen erschienen, immer eilig, immer freundlich, immer hilfsbereit, aber manchmal riefen ihre lächelnden Gesichter die Vorstellung von geschlossenen Türen hervor. Am schlimmsten waren die Korridore. Sie taten nichts, um ihr die ersten Gehversuche zu erleichtern, keine Ermunterung, keine Freundlichkeit ging von ihnen aus, ein Geländer in Griffhöhe entlang der Wände, das war alles. Nun sieh zu. In den Nischen wartende Besucher, neugierig, aber sie schauten weg, und wenn man vorbei war, spürte man ihre Blicke im Nacken, in den Kniekehlen.
Jene Monate im Krankenhaus waren wie ein unvorstellbar langer Korridor gewesen, an dessen Ende der Tag der Entlassung lockte. Für Agnes war er gleichbedeutend mit der Rückkehr ins alte Leben, Büro, Kollegen – wie hatte sie sich darauf gefreut! So sehr sie das Büro früher gehaßt hatte, manchmal, vom Krankenbett aus waren ihr die Tage dort wie ewige Feiertage erschienen.
Vor ihrem Unfall war sie kaufmännischer Lehrling im Papiergroßhandel der Gebr. Gerstmann gewesen. Der lange Krankenhausaufenthalt hatte sie um ein Jahr in ihrer Ausbildung zurückgeworfen. Und nun ein neuer Aufschub, noch mehr Stillstand. Anstatt sie in die vertraute Umgebung zu entlassen, schickte man sie zu Fremden, die von ihr nichts wußten, und von denen sie nichts wissen wollte. Bis zu dem Unfall jedenfalls war sie beliebt gewesen. Wohin sie kam, wurde sie gehätschelt und liebevoll gehänselt. Man nannte sie »die Freche«, weil sie Frech mit Nachnamen hieß. Sie war klein und mußte sich auf ihre Weise behaupten. Wie sie das tat, gefiel den anderen.
Nach dem Firmenweihnachtsfest war sie mit Geschenken beladen hinausgegangen, glücklich. Sie hatte einige Gläser Wermut mit den anderen getrunken, ihr war warm, sie war beschwingt. Es hatte ein wenig geregnet, und als der Lagerverwalter Döpke neben ihr bremste und sie zum Mitfahren einlud, weil sie den gleichen Weg hatten, hatte sie nicht nein gesagt. Sie kannten sich schon lange. Sie hatte ihn gern, er war so ruhig und immer heiter. Mitten in der Inventurarbeit konnte man mit den dümmsten Fragen zu ihm kommen, er blieb immer gelassen. Wenn er keine Überstunden machte, nahm er sie im Auto mit. Weihnachten arbeitete natürlich niemand eine Minute länger als unbedingt nötig.
»Hast du gesehen, wie dem Chef die Tränen vor Rührung über seine eigene Rede in den Augen standen?« hatte er Agnes unterwegs gefragt. Sie hatten gelacht und gesungen. Vor ihnen lagen fünf freie Tage.
Es dämmerte schon. Eigentlich kannte Herr Döpke die Straße wie seine Westentasche. »Mir passiert nie etwas«, hatte er immer gesagt, und im Sommer desselben Jahres war er ausgezeichnet worden für zwanzig Jahre unfallfreies Fahren.
Und dann war ihm doch etwas passiert. Wer war schuld? Herr Döpke konnte nichts mehr dazu aussagen. War es der Regen gewesen, der Wermut? Hatten sie zu sehr gelacht? Hatte Agnes ihn abgelenkt? Plötzlich war dieser Baum dagewesen. Die Schrecksekunde war unendlich lang gewesen. Agnes erinnerte sich genau. Die Zeit schien stillzustehen, während die Dinge mit rasender Schnelligkeit auf sie zukamen, der Baum, die Zaunpfähle. Graben oder Baum konnte sie denken, was ist schlimmer? So ist das also. So fühlt sich das an, merk dir das, das Schleifen der Räder, das Röhren des Motors, als hätte Herr Döpke im letzten Augenblick versucht, Gas zu geben. Aber sie erinnerte sich nicht mehr daran, was er gesagt hatte, ruhig wie immer, sie erinnerte sich nur an den Ton seiner Stimme, bedauernd, leise. Wie um Entschuldigung bittend. Dann das Knirschen und Splittern, und dann war es endlich, endlich still und dunkel gewesen.
»Ein Glück, daß sie nicht lange bewußtlos gewesen ist«, hatte der Arzt gesagt, und jeder, der sie besuchen kam, wollte sie damit trösten. Es hätte noch viel schlimmer kommen können. Dein Gehirn hat keinen Schaden abbekommen. Stell dir vor – man versuchte sie zum Lachen zu bringen. Aber es hatte lange gedauert, ehe ihr wieder nach Lachen zumute war.
Die anderen hatten sie häufig im Krankenhaus besucht. Anfangs verbreiteten sie stille Teilnahme und später laute Fröhlichkeit. Sie brachten allerlei unnützen Krimskrams, Stofftiere, Puppen, Mobiles – sie gaben sich wirklich Mühe. Ihr Gips war über und über mit Namen, Blümchen und Männchen bekritzelt.
Aber je länger sie im Krankenhaus blieb, um so spärlicher wurden die Besuche, und seitdem sie zu Hause war, ließ sich niemand mehr blicken. Einmal hatten sie angerufen – ein Gemeinschaftstelefongespräch, zu dem jeder ein ermunterndes Sätzchen beitrug. Aber im Grunde schien niemand mehr mit ihr zu rechnen.
Und nun hatte sie es doch geschafft. Sie hatte wieder gehen gelernt. Eigentlich ging es ihr gut, wenn nur die Angst nicht gewesen wäre, Angst vor »draußen«, Angst vor den anderen. »Sie muß zu sich selbst finden«, hatte der Arzt gesagt.
Deswegen schickte man sie also in dieses Dorf. Es lag vor ihnen im Schatten des Deiches, der sich wie eine Mauer in weitem Bogen um den Ort zog.
Hupend scheuchte der Bus Hühner von der Straße. Er hatte Mühe, sich in die kopfsteingepflasterte Gasse einzufädeln, die so schmal war, daß er fast die Steinmauer des Kirchhofes streifte.
Bevor er ausstieg, fragte Lutz den Fahrer, wann der nächste Bus zurück in die Stadt führe. Er hat es eilig, von hier fortzukommen, dachte Agnes, das kann ich verstehen. Sie sah sich um. Die Häuser, die im Halbkreis um die Kirche standen, waren schon sehr alt. Eins schien das andere zu stützen. Die alten Giebel mit ausgefransten Strohdächern neigten sich vornüber wie neugierige Gesichter. Agnes schlug den Jackenkragen hoch. Sie warf einen Blick zum Himmel. Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Wind war kalt und drang durch alle Kleider bis auf die Haut. Agnes dachte an die Bikinis in ihrem Koffer. Vermutlich war sie doch zu optimistisch gewesen.
»Siebzehn Uhr zehn –«, murmelte Lutz vor sich hin, »siebzehn Uhr zehn –« Sie gingen die Dorfstraße entlang, verfolgt vom Gebell der Hofhunde, die mit ihren Ketten rasselten. An der Öffnung des düsteren Halbrunds stand ein Pfahl, der unter der Last der Schilder schier zusammenzubrechen drohte. »Zum Strandbad«, hieß es, »Camping«, »Haus Wattenblick«, »Jugendhof«. Daneben stand ein kleiner Kiosk, der mit Zeitschriften ebenso überladen war wie der Pfahl mit Schildern.
»Warte«, sagte Lutz, »ich werde nach dem Weg fragen!« Er grub in seinen Hosentaschen nach Kleingeld für einen neuen Krimi.
Agnes wartete in einiger Entfernung bei den Koffern und fror im Wind.
»Ein unfreundlicher Patron«, sagte Lutz, als er zurückkam, »man merkt, daß die Saison vorbei ist. Die haben’s nicht mehr nötig. Hoffentlich schickt er uns wenigstens nicht in die Irre!«
Die Straße sah nicht aus wie ein Irrweg. Schnurgerade führte sie auf den ebenso schnurgeraden Deich zu. Hier schaute Himmel zwischen den Häusern herein, die noch nicht so alt waren. Sie brauchten keine Stütze und standen jedes für sich in weitläufigen Gärten. Ihre Ziegeldächer leuchteten frisch gewaschen nach dem Regen, der Wind wühlte in alten Baumkronen und warf die ersten Blätter auf Rasen und Beete.
Lutz blieb stehen. Vergeblich suchte er nach Hausnummern. Die Schildchen an den Gartenpforten waren von Efeu überwuchert oder vom Regen verwaschen. Er zählte die Häuser und wies auf einen Bungalow, der auf einem künstlichen Hügel lag. »Nummer zwölf muß nach Adam Riese die Villa da oben sein.«
Das schöne neue Haus söhnte sie ein wenig aus mit dem Urlaub im »Kuhdorf«. Vielleicht wurde es doch noch ganz nett.
Ein schmaler Trampelpfad wand sich an einem grünen Lattenzaun entlang, über den mannshohe Sonnenblumen ihre regenschweren Köpfe hängenließen. Das Haus lag auf einer gepflasterten Plattform. Der Eingang war auf der Nordseite, und hier in seinem eigenen Schatten verlor das Haus an Glanz. Neben allerlei Eimern und Schaufeln, Harken und Besen, standen Gummistiefel verschiedener Größen, mehr oder minder verschmutzt, und über eine borstige Matte hatte jemand ein handgemaltes Pappschild gehängt: »Bitte Schuhe abtreten«.
Nachdem Lutz geklingelt hatte, stieß Agnes ihn in die Seite. »Untersteh dich, ihnen Ratschläge zu geben, wie sie mich behandeln sollen!« Erst nachdem Lutz noch einmal geklingelt hatte, öffnete sich die Tür, einen Spalt nur. In Schlüssellochhöhe schob sich ein blonder Kopf hervor, zuerst ein riesiger, gebauschter Haarknoten mit einer Schleife, dann ein gewaltiger Pony und darunter ein kleines Gesicht mit dunklen Augen.
Wie auf Verabredung begannen Lutz und Agnes im Takt auf der Matte zu treten. »Guten Tag –«
»Meine Mutti kommt gleich«, unterbrach das Mädchen, ohne zur Seite zu rücken.
Agnes und Lutz traten unverdrossen auf der Stelle, und Agnes glaubte, vor Lachen platzen zu müssen. Das war ja ein schöner Empfang.
Mit einem Ruck, der das kleine Mädchen zur Seite stieß, wurde die Tür weit geöffnet. Den frei werdenden Raum füllte eine rundliche Frau aus. Sie streckte ihnen die kurzen Arme entgegen. »Die Geschwister Frech – willkommen!« sagte sie und noch einiges mehr, was man so zur Begrüßung sagt.
Sie schob das kleine Mädchen sanft aus dem Weg. »Eigentlich wollte Lenchen dir das Zimmer zeigen, sie freut sich so auf deinen Besuch. Aber ausgerechnet heute nachmittag hat sie Gymnastik. Übrigens, das ist Uschi, meine Jüngste.«
»Ulla«, verbesserte das Mädchen. Schritt für Schritt gab es den Zugang zur Treppe frei, die ins oberste Stockwerk führte.
Die Zimmer waren alle schräg, und eins war wie das andere eingerichtet, Waschbecken, Kleiderschrank, billigste Ausführung aus dem Kaufhausangebot, ein dreibeiniges Tischchen, Doppelbettstellen und Fenster, die nur halbrunde Ausgucklöcher waren.
»Du möchtest sicher ein Zimmer mit Blick aufs Meer«, sagte Frau Brodersen. Agnes fühlte sich an ein Fenster geschoben.
Pflichtschuldig betrachtete sie die Aussicht. Lange suchte sie das »Meer«. Erst ein vorbeifahrendes Schiff zeigte es ihr; es war genauso grau wie der Himmel, und das jenseitige Ufer, das es laut Landkarte noch in sichtbarer Nähe geben mußte, verschwamm im Dunst. Wenn sie sich vorbeugte, konnte sie den Pfad sehen, den sie eben heraufgekommen waren. Am Fuß des Hügels lag ein Haus, das sie vor lauter Sonnenblumen übersehen hatte. Wie frisch gestutzte Stirnfransen stülpte sich das Strohdach über die kalkweißen Wände.
»Taprogges Haus ist das meistfotografierte im Dorf«, erklärte Frau Brodersen, stolz über so prominente Nachbarschaft.
»Schön«, sagte Lutz, »sehr schön.« Und das Schiff draußen stieß wie zur Bestätigung ein nachdrückliches Tuten aus.
Agnes sah auf die Uhr. »Du mußt jetzt gehen«, sagte sie.
Lutz klopfte ihr auf die Schulter. »Mach’s beste draus«, flüsterte er ihr zu und ging schnell hinaus.
Frau Brodersen folgte ihm. »Wir sind immer für Agnes da«, versprach sie.
Die Tür blieb einen Spalt offen, und Agnes hörte, wie Lutz sagte: »Sie ist nur übermüdet von der Zugfahrt – eigentlich furchtbar brav –« Alles konnte sie nicht verstehen, aber es genügte, um sie wütend zu machen. Na wartet, dachte sie, ihr werdet noch Augen machen!
»Keine Sorge, ich hab’ Erfahrung mit diesem Alter.« Frau Brodersen redete ungeniert laut. »Ich bin froh, daß mein Lenchen Gesellschaft bekommt. Sie liegt mir schon lange in den Ohren, ich solle mal jüngere Pensionsgäste nehmen. Aber das junge Volk will ja nicht aufs Land. Und ich hatte auch so meine Bedenken. Man fühlt sich ja schließlich verantwortlich.«
Agnes starrte zornig aus dem Fenster. Das Schiff hatte den Bildausschnitt verlassen. Gähnende Leere, eine Mischung von grau und grün. Dann erschien Lutz, das einzige menschliche Wesen in der trostlosen Landschaft. Am Zaun drehte er sich noch einmal um. Er winkte.
Agnes rührte keine Hand. Sie drehte sich um und stand Frau Brodersen gegenüber. Sie glaubte wohl, so etwas wie Abschiedschmerz in Agnes’ Miene zu entdecken, und sagte herzlich: »Wir werden es uns so richtig schön machen! An uns soll es nicht liegen!«
Agnes schwieg abweisend.
»Ich muß jetzt nach dem Essen sehen«, sagte Frau Brodersen, »Donnerstag ist mein freier Nachmittag. Da gibt es immer etwas besonders Gutes. Komm herunter, wenn du ausgepackt hast. Bis dahin wird auch Lenchen da sein!«
Endlich allein! Im Handumdrehen hingen die Kleider im Schrank. Auf der Glaskonsole über dem Waschbecken standen ihr Zahnbecher und ihr Deodorant, unter dem Bett lugten ihre Pantöffelchen hervor, und immer noch war es nicht ihr Zimmer. Auf dem Tisch lag ihr eigentlicher Besitz, den sie immer mit sich herumtrug, ein kunterbuntes Durcheinander von geliebtem, unnützen Krimskrams. Am Fußende des Bettes lag Lutz’ Kameraausrüstung.
Eigentlich nett von ihm, ihr den teuren Apparat für den Urlaub zu geben. Oder hatte er ihn ihr nur gegeben, weil sie noch so krank war? In einem unbeobachteten Augenblick hatte er einige Taschenbücher auf den Nachtschrank gelegt. Verächtlich stopfte sie die Bücher in eine Schublade. Seit Monaten hatte sie gelesen, tagaus, tagein, jetzt hatte sie Urlaub. Jetzt wollte sie all das erleben, was sie bisher nur gelesen hatte. Energisch drehte sie den Wasserhahn auf. So sehr sie auch an dem Hahn mit dem roten Knopf drehte, das Wasser blieb kalt. Sie wollte nicht nur den Reiseschmutz abwaschen, sie wollte Abstand schaffen zwischen sich und Lutz, Zuhause, dem Krankenhaus ...
Als sie mit dem Waschen fertig war, merkte sie, wie müde sie war. Nur einen Augenblick hinlegen, dachte sie, Kräfte sammeln, noch heute abend gehe ich aus, vielleicht mit dieser Leni oder wie immer sie heißen mag. Vom Bett aus konnte sie den Himmel sehen, graue Leere mit dunkleren Tupfern, und plötzlich war sie eingeschlafen. Als jemand an die Tür klopfte, um sie zum Essen zu holen, mochte sie die Augen gar nicht mehr öffnen. »Morgen«, murmelte sie und zog sich die Bettdecke über die Ohren.