Читать книгу Eine Brücke für Joachim - Angelika Kutsch - Страница 4

II

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Es war so still, daß Agnes davon erwachte. Ihre Träume waren laut und bunt gewesen, voller Bewegung, sie war gelaufen, gesprungen, sie hatte getanzt – das träumte sie oft. Jetzt die Stille, sie glättete die Wirbel, ließ die Farben verblassen.

Agnes kam langsam zu sich, spürte das steife, fremde Laken. Es war so glatt, als habe sie sich die ganze Nacht überhaupt nicht gerührt. Wie viele Tage und Nächte hatte sie so gelegen, auf dem Rücken, die Beine ausgestreckt, bis zu den Hüften in Gips, und jedesmal, wenn sie erwachte, kehrte die Unsicherheit in ihr Bewußtsein zurück: Werde ich je wieder gehen können? Vorsichtig zog sie ein Bein an. Es ließ sich bewegen. Immer, wenn sie aufwachte, fürchtete sie, daß sie nur geträumt hätte, wieder gehen zu können.

Im ersten Augenblick wußte sie nicht, wo sie war. Ihr Blick ging automatisch zum Kopfende, dahin, wo sie früher im Krankenhaus den alten Autorückspiegel angebracht hatte, ihre einzige Verbindung zur Außenwelt. Er hatte einen Ausschnitt der Straße gespiegelt, Autodächer, Leute mit kurzen Beinen und großen Köpfen. Ihr Zimmer hatte im ersten Stock gelegen. Später hatte sie nur noch Beine gesehen, die dichtbelaubten Bäume hatten die Körper verdeckt, Beine, die es eilig hatten, besonders, wenn sie das Krankenhaus verließen.

Jetzt blickte sie gegen durchsichtige Blätter, die in rosigem Dämmern schwammen. Träumte sie doch? Mit einem Ruck setzte sie sich gerade auf und schlug sich den Kopf an der Dachschräge an. Richtig, sie war am »Meer«. Die Vorhänge waren durchglüht von einem geheimnisvollen Licht. Irgend jemand mußte sie zugezogen haben, während sie schon schlief. Neben ihr auf dem Nachttisch stand ein Glas mit gelbem Saft.

Entschlossen stieg Agnes aus dem Bett und zog die Vorhänge zurück. Das gleißende Sonnenlicht auf dem Wasser blendete sie. Sonne – Wasser! Vielleicht war doch noch nicht alles verloren. Wenn Engel reisen ... würde Frau Wilkens jetzt sagen.

Agnes wusch sich tapfer mit dem kalten Wasser und konnte gar nicht schnell genug in die langen Hosen kommen. Hinaus in die Sonne! Aber die Stille im Haus machte sie stutzig. Vielleicht war es noch zu früh? Vorsichtig, um keinen Lärm zu machen, öffnete sie die Tür. Vor ihren Füßen lag etwas Helles. Agnes hob den Zettel auf. »Guten Morgen!« stand darauf, ein weiterer Zettel mit einem dicken blauen Pfeil wies die Treppe hinab, und unten lag mitten im Flur der Hinweis »Kaffee«. Der Pfeil zeigte in die Küche, wo eine Ecke des Tisches für sie gedeckt war. »Schade«, stand auf dem Zettel, der an der Thermoskanne lehnte, »daß du so eine Schlafmütze bist.« Und darunter: »Lena.« Agnes schichtete die Papiere neben ihrem Frühstücksteller, der Grundstock ihrer Urlaubserinnerungen. Nun tat es ihr doch leid, daß sie das Mädchen Lena gestern abend verpaßt hatte.

Der Kaffee aus der Thermoskanne schmeckte schal, und auch das Ei, das unter einer Miniaturpudelmütze steckte, war nicht mehr warm. Agnes beeilte sich mit ihrem Frühstück.

Sie ging noch einmal in ihr Zimmer, um die Badetasche zu packen, Bikini, Handtuch, einen Kamm. Einen Augenblick stand sie vorm Spiegel und zupfte ungeduldig an ihrem Haar. Es ärgerte sie, daß es in den letzten Wochen nicht schneller gewachsen war. Lange Haare waren für sie ein Inbegriff von Romantik und Gesundheit. Monatelang hatte sie einen Stoppelkopf gehabt, von der Mutter regelmäßig nachgeschnitten. Kurzes Haar war ja so praktisch im Krankenbett. Seitdem hielt Agnes kurzes Haar für ein Zeichen von Krankheit. Je länger ihr Haar wurde, desto wohler fühlte sie sich. Jetzt konnte sie es schon über den Ohren mit einem Gummiband zu abstehenden Rattenschwänzen zusammenbinden. Zu Hause hätte sie sich damit nicht auf die Straße getraut, aber im Urlaub ist alles erlaubt. Die Sonnenbrille nicht vergessen! Sie hatte riesige Gläser, die die halbe Stirn bedeckten und ihr ein interessantes Aussehen gaben – fand Agnes.

Die Straße war leer. Auf einem Torpfosten saß eine Katze mit eingeschlagenem Schwanz und blinzelte in die Sonne. Als Agnes sie streicheln wollte, sprang sie in den Garten jenseits des Zaunes.

Agnes hielt auf den Deich zu. Eine hölzerne Treppe führte auf seine Kuppe, aber etwas weiter rechts gab es einen schmalen Durchbruch, den auch Autos passieren konnten. Agnes wählte den bequemeren Weg, und dann lag das »Meer« vor ihr. Kein Rauschen, kein Heulen. Die Straße führte hinab zu einem kleinen Hafenbecken, dessen Kaimauern schief und baufällig aussahen. Das Wasser war weit zurückgetreten. Der bloßgelegte Schlick glänzte in der Sonne. Nur in der Fahrrinne stand noch ein wenig Wasser. Was mochten hier für Schiffe anlegen?

Gleich neben dem »Hafen« war ein Campingplatz. Eingepfercht in einem Drahtzaun standen die Wohnwagenanhänger wie geduldige Schafe.

»Strandbad« verkündete ein abblätterndes Schild an einem Drehkreuz, dahinter ein Häuschen mit verschlossenen Läden. Die Anschläge waren zerrissen und kaum noch zu lesen. »Badeordnung«, »Bitte beachten«, »Badeschuhe verloren!« »Strandkörbe zu vermieten!« Von Strandkörben keine Spur. Ungehindert passierte Agnes die Kasse (Erwachsene zweifünfzig, Kinder eine Mark). Der Spielplatz war leer, die Schaukeln schwangen hin und her, und das Karussell quietschte leise, wenn der Wind ihm einen Schubs gab.

Agnes prüfte den Sand und überlegte, ob sie die Schuhe ausziehen sollte. Zu einem Spaziergang an der See gehörte Barfußgehen. Aber der Sand sah nicht einladend aus, grau, hart, hier und da stach Reit aus der vom Wasser glattgeleckten Oberfläche, und auch sonst lag allerhand herum, das Füßen empfindlich weh tun konnte. Das große Aufräumen nach der Saison hatte offenbar noch nicht stattgefunden.

Der Sandstrand war nur kurz. Dahinter dehnte sich endlos der grüne Deich, in sanftem Bogen umschloß er die Flußmündung, so daß sie aussah wie eine Bucht. Weit draußen glitten Schiffe vorbei, die so klein aussahen, daß Agnes meinte, sie in der hohlen Hand halten zu können. Der Boden am Uferrand war schwarz wie im Hafen, geädert von vielen kleinen Prielen. Agnes hatte einmal gehört, daß Wattlaufen sehr gesund sei. Wenn sie schon nicht baden konnte, wollte sie wenigstens wattlaufen! Sie zog Schuhe und Strümpfe aus und krempelte die Hosenbeine hoch. Schon beim ersten Schritt sank sie bis tief über die Knöchel in den kalten, feuchten Schlick, der ihren Fuß nur widerwillig und mit leisem Schmatzen wieder freigab. Bei jedem Schritt sank sie tiefer. Schon reichte die schwarze Schicht bis unters Knie. Agnes gab auf. Sie kehrte ans Ufer zurück.

Der Wind trocknete den Schlick rasch zu einer harten, grauen Kruste. Agnes hätte sich am liebsten ins Gras gelegt und geheult vor Wut über den verdorbenen Urlaub. Was blieb denn noch? Wasser gab es keines, kalt war es und Wattlaufen geriet zum Schlammbad. Was hatte sie nur erwartet? Es war doch ganz klar, daß Frau Wilkens von all dem nichts wußte. Sie besaß sicher keinen Badeanzug. Ihr Urlaub beschränkte sich vermutlich auf ausgedehnte Deichspaziergänge und abendliches Fernsehen bei Brodersens.

Agnes klaubte ihre Sachen zusammen und humpelte durch den Sand. In der Nähe des Spielplatzes fand sie einige Wasserhähne, man war also eingerichtet auf schmutzige Füße. Wenigstens das.

Was nun? Der Tag war noch lang. Sie bummelte durchs Dorf. Bei der Kirche begegnete sie den ersten Menschen, alte Männer in ausgebeulten Hosen, die das Kopfsteinpflaster mit Strohbesen bearbeiteten. Von irgendwoher kam Kindergeschrei. Die Schule mußte ganz in der Nähe sein. Es war gerade Pause. Agnes ging dem Geschrei nach und spähte durch die Gitterstäbe. Kein Kind war älter als zwölf, dreizehn Jahre.

Während sie noch den tobenden Haufen betrachtete, gewahrte sie Brodersens Jüngste, die sich, ein riesiges Butterbrot in der Hand, dem Zaun näherte. Stumm kauend sah sie Agnes an.

»Guten Morgen«, sagte Agnes betont fröhlich. »Schmeckt’s?« Die Kleine verzog nur den Mund.

»Wo ist denn deine Mutter?«

»Arbeiten.«

»Und wann kommt sie wieder?«

»Spät!« Ulla machte auf dem Absatz kehrt und ließ Agnes stehen. Wohin bin ich geraten, dachte sie, die Kinder sind so komisch wie die Katzen. Niemand will etwas von mir wissen.

Ehe sie sich’s versah, hatte sie die Dorfgrenze erreicht. Die Schilder am Straßenrand wiesen in die Kreisstadt. Eine reizvolle Idee, die Koffer zu packen und heimzufahren. Zu Hause konnte sie sich wenigstens noch im Windschatten der weinumrankten Gartenmauer sonnen. Plötzlich hupte es neben ihr, und gleichzeitig quietschten Reifen. Agnes erschrak und machte einen großen Schritt zur Seite. Der Straßenrand gab unerwartet nach. Sie verlor das Gleichgewicht. Sie schwankte, fiel vornüber und konnte sich im letzten Augenblick im Gras an der jenseitigen Böschung abstützen. Ihre Haltung war sicher nicht sehr elegant. Die Hände gruben sich in den feuchten Boden. Das Auto war in einiger Entfernung zum Stehen gekommen. Jetzt fuhr es rückwärts und hielt neben ihr. Ein Seitenfenster wurde heruntergekurbelt, und ein rotgesichtiger junger Mann mit strähnigem Haar beugte sich heraus. »Entweder willst du einen Autostop oder du willst nicht!«

Agnes rieb sich den Knöchel. »Ich will nicht«, sagte sie unfreundlich. »Kann man nicht einmal ungestört spazierengehen?«

Der junge Mann schnaubte durch die Nase. »Die Landstraße ist doch kein Trampfelpfad!« Er gab Gas und fuhr davon.

Agnes hatte immer noch Herzklopfen. Sie war böse auf sich selbst, weil sie immer noch Angst vor Autos hatte. Vor Schreck in einen Straßengraben zu springen! Sie schielte zum Dorf, ob jemand den beschämenden Vorfall gesehen hatte. Der Schulhof war jetzt leer. Der kleine Zeitschriftenkiosk mit dem dunklen Guckloch zwischen den bunten Zeitschriften sah aus wie ein höhnischer Beobachter.

Entschlossen ging sie auf den Kiosk zu. Niemand sollte denken, daß sie sich genierte. Sie rückte die verrutschte Sonnenbrille zurecht und betrachtete die Titelbilder. Zwischen all dem nackten Fleisch auf dem Papier, angeklebten Wimpern und gelackten Lippen entdeckte sie ein lebendiges Gesicht. Hinter den dunklen Gläsern fühlte sie sich wie unter einer Tarnkappe und musterte den Zeitungsverkäufer neugierig. Es war ein hübscher junger Mann mit dunklen Locken und hellen Augen. Nur die zusammengewachsenen Augenbrauen gaben ihm ein etwas düstres Aussehen. Er mußte ihren Blick doch bemerkt haben, denn er lächelte plötzlich und sagte: »Werfen Sie sich immer in den Straßengraben, wenn ein Auto kommt?«

Agnes versuchte, auf den Ton einzugehen. »Man weiß ja nie, ob der Fahrer nicht gerade schläft.«

»Sie brauchen keine Angst zu haben! Sogar auf dem Lande haben alle Fahrer einen Führerschein!«

Der ironische Ton gefiel ihr nicht. Ausgerechnet der einzige junge Mann des Dorfes schien ein Fiesling zu sein. Wie er sie ansah! Spöttisch, hochmütig, als sei nicht er ein Dorfbewohner sondern sie. Zur Strafe dürfte sie jetzt eigentlich nichts bei ihm kaufen. Sie suchte nach etwas Ausgefallenem, etwas, das er bestimmt nicht zu bieten hatte. Aber die Zeiten waren vorbei, daß ein Großstädter sich etwas auf seine Zeitung einbilden konnte, die es in keinem Dorf zu kaufen gab.

Der junge Mann beobachtete sie amüsiert. Um ihr die Wahl zu erleichtern, blätterte er ihr eine Reihe Heftchen vor, Comics, Krimis und Liebesromane. »Heute neu gekommen«, versicherte er, als habe er frischen Fisch zu verkaufen.

Agnes wurde wütend. Für was hielt er sie eigentlich? »Geben Sie mir eine Lokalzeitung«, sagte sie und legte alle Verachtung in das Wort »Lokalzeitung«.

»Die können Sie sich ersparen! Hier ist wirklich nichts los!«

»Eine Lokalzeitung«, wiederholte Agnes kühl. Sie wich seinem Blick aus. Wenigstens seine Hände waren hübsch, lang und schmal, fast ein bißchen zu zart. Aber die Hände söhnten sie nicht mit seiner spitzen Zunge aus. Außerdem strich er die Geldstücke ein, als seien sie schmutzig. Beleidigt ging Agnes davon.

»Auf Wiedersehen«, sagte er leise.

Agnes war ganz erschöpft, als sie bei Brodersens ankam. Sie setzte sich an den Küchentisch und trank den letzten Rest Kaffee, der jetzt bitter und scheußlich schmeckte. Nach einer Weile kam Ulla nach Hause. Sie riß die Küchentür auf, schleuderte ihre Schultasche in die Ecke neben dem Kühlschrank und starrte Agnes wortlos an.

Unter ihrem Blick fühlte Agnes sich wie ein Eindringling. Unsicher stand sie auf. »Hast du viele Schularbeiten zu machen?«

»Ja.«

»Ich könnte dir helfen!«

»Die mach’ ich jeden Tag allein!«

»Und – was tust du sonst so?« fragte Agnes weiter.

Ulla kniff die Augen zusammen und schwieg.

»Du«, sagte Agnes, »ich glaube, du magst Pensionsgäste nicht, oder?«

»Sie fragen so viel!« Die Antwort kam heftig. »Gehst du gern zur Schule? Wie alt bist du denn? Was willst du denn mal werden?« ahmte sie mit schriller Stimme die lästigen Fragen nach.

»So was habe ich doch noch gar nicht gefragt!«

»Aber du guckst so, als ob du das fragen wolltest.«

Die Abfuhr war deutlich. Agnes nahm ihre Zeitung und ging lächelnd hinaus. Ihr Lächeln war nicht echt. Ulla mußte ihre Unsicherheit spüren, ihre Herablassung, wenn sie mit ihr redete. Wie sehr mußte das kleine Mädchen die Fremden hassen, die sich in ihrem Haus breitmachten, in der Küche saßen, wenn man nach Hause kam, einem beim Schularbeitenmachen zusahen und auch noch dumme Fragen stellten.

Agnes drehte an dem Heizungsknopf in ihrem Zimmer. Die Heizung blieb kalt, und aus dem Wasserhahn kam auch nur kaltes Wasser. Wenn sie warm werden wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als unter die Bettdecke zu kriechen. Sie legte ein Paket Käsegebäck, das noch von der Reise übriggeblieben war, neben sich in Griffnähe und schlug die Zeitung auf. Der Junge hatte recht gehabt, hier war nichts los, wenn man von einer Versteigerung und einem Scheunenbrand absah. In der großen Kurve vor dem Ortseingang war ein Auto in den Straßengraben gefahren, und ein Paar feierte seine Diamantene Hochzeit.

Agnes schleuderte die Zeitung von sich. Wie langweilig alles war! In ihrer Enttäuschung wollte sie den Eltern schreiben. Die sollten ruhig wissen, was sie ihr da ausgesucht hatten! Sie legte sich den Briefblock auf die Knie und ließ den Kugelschreiber auf- und zuschnappen. Es war gar nicht so einfach, der Wut Ausdruck zu geben. Auf dem Papier sah alles anders aus. Konnte sie den Eltern das überhaupt antun? Schließlich hatten sie ihr die Reise geschenkt und das großzügige Taschengeld dazu. Aus dem Alter, in dem man Briefe schreibt wie: »Mir geht es gut, wie geht es Euch? Es grüßt Euch Eure ...«, war sie heraus. Wütend warf Agnes den Briefblock aus dem Bett.

Nach einer Weile erwachte das Haus zum Leben. Türen wurden aufgeschlossen, fröhliche Stimmen mischten sich mit lauter Musik, und es dauerte gar nicht lang, da drang Essensgeruch zu ihr herauf, und sie merkte, wie hungrig sie war. Aber als es endlich an die Tür klopfte, überlegte sie trotzig, ob sie hinuntergehen sollte. Warum luden sie überhaupt Pensionsgäste ein, wenn sie ihnen zur Last wurden?

Der Hunger trieb sie dann doch aus dem Bett und hinunter. Durch die angelehnte Küchentür sah sie als erstes Lena, die auf der Eckbank saß und gelangweilt in einer Zeitschrift blätterte. Ulla fuhrwerkte mit ihrem Besteck auf dem leeren Teller herum. Frau Brodersen stand noch am Herd und wendete Koteletts in der Pfanne.

Lena legte die Zeitschrift beiseite und entdeckte Agnes. »Warum stehst du draußen herum? Komm ’rein. Ich dachte schon, ich würde dich während deines ganzen Urlaubs nicht zu Gesicht kriegen!« Sie war ein ausgesprochen hübsches Mädchen, so, wie man sich immer wünscht auszusehen, wenn man dreizehn ist. Viel älter schien Lena noch nicht zu sein. Darüber täuschten auch ihre hüftlangen Haare nicht hinweg. Wenn sie ihr ins Gesicht fielen, verdeckten sie die runden Babywangen.

»Ich heiße Marlene«, sagte sie, »aber alle nennen mich Lena.«

»Das möchte sie bloß«, brummte Ulla.

»Sei still, sonst sag’ ich Uschi zu dir! Denk an unsere Abmachung! Komm, Agnes, setz dich zu mir. Wie hast du den Tag verbracht?«

Agnes schob sich in die Bank, und Ulla rückte nur widerwillig zur Seite. »Im Bett«, sagte sie anklagend, »mir blieb nichts anderes übrig. Da oben war es eiskalt.«

Frau Brodersen legte ihnen die Koteletts vor. »Ach ja«, seufzte sie, »daran haben wir nicht gedacht. Wir hatten ja noch nie Pensionsgäste im Herbst. Bei uns wird immer erst abends die Heizung angestellt.«

»Agnes ist nicht unser Pensionsgast«, protestierte Lena. »Sie soll sich wie zu Hause fühlen. Du hast es selbst gesagt!«

»Natürlich, natürlich. Aber jetzt wollen wir essen!« Frau Brodersen redete sehr förmlich. Die Mütterlichkeit von gestern war ihr an einem langen Arbeitstag abhanden gekommen. Sie stöhnte, daß es ein schlimmer Tag gewesen sei, und ob man nicht wenigstens während des Essens das Radio abstellen könne. Es gab nur Salat in einer Fertigsauce, die künstlich schmeckte, dazu Weißbrot anstelle von Kartoffeln. Weil es schneller geht. Frau Brodersen entschuldigte sich, und Agnes mußte ihr versichern, daß es trotzdem gut schmecke. Agnes gegenüber war sie sehr zuvorkommend, als sei sie eine Erwachsene, die Verständnis für ihre Probleme hatte, die Probleme einer alleinstehenden Frau mit zwei Kindern und einem anstrengenden Job. Sie war Kassiererin in einem Supermarkt, das hatte sie sich in ihrer Jugend weiß Gott nicht träumen lassen. Aber was soll man machen? Nichts gelernt, außer einen Mann und später die Kinder zu bemuttern, geschieden, plötzlich ist alles anders, ein Haus ist da, aber das Geld reicht nicht hin und nicht her, schließlich soll aus den Kindern mal was Ordentliches werden. Da nimmt man jeden Job, der sich bietet.

Agnes hörte schweigend zu und hatte den Eindruck, daß Frau Brodersen trotzdem nicht gar so unzufrieden war. Es war immerhin eine verantwortungsvolle Sache, so eine Kasse, und dann zu Hause die beiden Mädchen. Das waren Aufgaben! Was war sie denn? Sie lebte in den Tag hinein, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was nach dem Urlaub kam. Irgendwann mußte sie sich entscheiden. Zu Hause hatten sie das Thema ängstlich gemieden. So, wie sie nie wieder ein Auto besteigen wollte, konnte sie sich nicht vorstellen, jemals wieder ins Büro zurückzukehren zu denselben Leuten, die auch Herrn Döpke gekannt hatten.

»Können wir nicht von was anderem reden?« maulte Lena. »Immer dieselbe Leier! Das Geschäft, das Haus, die Kinder ...«

»Du könntest mir das Dorf zeigen«, schlug Agnes vor. »Ich hab’ heute morgen wenig davon gesehen.«

»Müßt ihr gleich am ersten Tag weglaufen? Ich dachte, wir machen uns einen schönen Abend«, sagte Frau Brodersen weinerlich.

»Solche Abende kenne ich«, flüsterte Lena und klapperte kräftig mit dem Besteck, damit es nicht bis zur Mutter drang.

»Was macht man abends? Gibt es denn kein Nachtleben für Kurgäste?« fragte Agnes ironisch. Jetzt hatte sie sogar Lena gegen sich.

»Willst du uns auf den Arm nehmen? Wir leben auf einem Dorf, am Ende der Welt, sage ich immer! Wenn du dich amüsieren willst, mußt du in die Stadt fahren.«

»Aber nur sonnabends!« sagte Frau Brodersen streng. »Und um zehn seid ihr zu Hause! Ich trage die Verantwortung!«

»Heute ist doch erst Freitag! Du brauchst dich erst morgen aufzuregen«, brummte Lena.

»Jetzt werd nur nicht frech! Sonst kommst du morgen gar nicht weg! Merk dir das!« Frau Brodersens Stimme verstieg sich schnell zu riskanten Höhen. »Du vergißt immer, daß du hier nicht eine deiner Freundinnen vor dir hast!« Gespräche dieser Art hatte es bei Agnes zu Hause schon lange nicht mehr gegeben, obwohl sie ihr nicht vollkommen neu waren. Lag das auch an ihrer Krankheit?

»Also machen wir uns einen schönen Abend zu Hause«, sagte Lena einlenkend. »Aber den Plattenspieler drehen wir so laut, wie wir wollen!«

Frau Brodersen seufzte, aber sie erhob keinen Einspruch. Später brachte sie ihnen sogar ein Tablett mit Saft und Gebäck und sorgte dafür, daß Ulla draußen blieb.

Der Plattenspieler röhrte. Lena saß auf dem Bett, das gleichzeitig als Couch diente, und ruckte rhythmisch mit dem Oberkörper. Wie jung sie noch ist, dachte Agnes beim Zusehen. Frau Wilkens scheint nicht zu wissen, wieviel drei Jahre Altersunterschied ausmachen, als sie mir vorschwärmte, wie gut wir zusammenpassen werden. Was soll ich mit ihr anfangen? Und sie mit mir?

Was sollte sie mit Lena reden? Agnes mußte nicht nur Selbständigkeit lernen, wie der Arzt meinte. Sie mußte auch lernen, mit anderen zu reden, auf sie einzugehen. Im Krankenhaus hatte sie in einem Dreibettzimmer gelegen mit lauter schwierigen Fällen, die nicht von heute auf morgen entlassen wurden. Als sie einander noch nicht so gut kannten, hatten sie sich dieses und jenes von ihrem Leben »draußen« und »vorher« erzählt. Aber bald war alles gesagt. Was vorher gewesen war, wurde schnell unwichtig. In der weißen, sterilen Atmosphäre des Krankenhauses, die nicht nur Infektionen von ihnen fernhielt, lösten sich die Probleme nicht auf, aber sie wurden verdrängt und überlagert vom täglichen Einerlei.

»Kannst du das Ding nicht leiser drehen?« bat sie Lena schließlich. Lärm, laute Musik waren ihr auch zuwider seit der Krankenhausstille.

»Magst du keine Musik?« Lena war enttäuscht.

»Wir wollen uns lieber was erzählen!«

Das wirkte. Lena drehte die Musik leiser. Sie beugte sich vor. »Ich wollte dich sowieso was fragen. Aber ich dachte, gleich am ersten Tag ...!«

»Frag ruhig!« Agnes lächelte mütterlich.

»Meine Mutter tat so geheimnisvoll, als hättest du wunders was hinter dir. Wir sollten bloß nett zu dir sein, hat sie uns eingeschärft, Rücksicht nehmen. Manchmal behandelt sie mich wirklich wie ein Baby, anstatt mir gleich alles zu sagen! Hast du eine unglückliche Liebesgeschichte hinter dir oder was?«

»Ich muß dich enttäuschen«, sagte Agnes ironisch, »es war nur ein Autounfall, wenn sie das meinte.«

»Ach das!« Lena sah wirklich enttäuscht aus. »Autounfälle ereignen sich alle Tage.«

»Unglückliche Liebesgeschichten auch!«

Lena zuckte mit den Schultern. »Das hat sie uns übrigens erzählt mit dem Unfall. Sag mal, hast du schon einen Freund?«

»Ich war lange im Krankenhaus. Und du?«

»Wie soll ich einen finden? Mutter läßt mich ja nicht aus den Augen! Sonnabends um zehn zu Hause! Der Bus braucht eine halbe Stunde. Da hat man ja kaum Zeit, jemanden kennenzulernen, und wenn man einen findet, hält es nie lange. Wenn die erst hören, daß ich hier draußen wohne, springen sie ab. Eine vom Land will keiner haben. Bei denen mit Auto habe ich sowieso keine Chance. Ich lerne bloß immer welche mit Fahrrad kennen.«

Agnes unterdrückte ein Lachen. »So in zwei, drei Jahren wird’s schon klappen!«

Lena wurde wütend. »Jetzt redest du wie meine Mutter! Sag mal, bist du denn nicht auf meiner Seite?«

Agnes versuchte sie zu beruhigen und wußte doch nicht, auf welcher Seite sie eigentlich stand. Nicht Fisch, nicht Fleisch, hatte Frau Wilkens einmal gesagt und sie gemeint, als sie in einem schwierigen Alter war. Aber das war doch jetzt vorbei? Ihre früheren Klassenkameradinnen hatten den Sprung geschafft, sie standen auf der anderen Seite, flotte Mädchen mit wallenden Haarfluten, die abends von ihren Freunden mit Auto vom Büro abgeholt wurden. Von ihnen würde sich niemand mehr mit diesem Küken da abgeben. An allem war der Unfall schuld. Er hatte sie zurückgeworfen. Aber sie wollte Lena ihre Überlegenheit nicht spüren lassen. Lena war schließlich die einzige, mit der sie etwas unternehmen konnte in diesem Kaff.

»Such dir doch einen Schwarm hier im Dorf«, schlug sie ihr vor, »dann wäre das Problem mit dem Fahrrad gelöst. Hier kann man alle Wege zu Fuß machen und braucht auf keine Busse zu warten.«

»Im Sommer habe ich immer einen Schwarm. Da kommen viele tolle Typen, sage ich dir, Segler, weißt du, braungebrannt und mit weißen Hosen. Aber im Winter ist es langweilig. Die von den Kuttern kenne ich. Das sind blöde Kerle. Kaum sind sie an Land, schon sind sie betrunken. Und die anderen, die sind einfach nicht spannend. Die kennt man eben zu gut.«

»Was ist mit dem Jungen, der die Zeitungen verkauft?«

»Achim?«

»Was weiß ich, wie er heißt. Er sieht doch ganz nett aus, oder?«

»Na ja.«

»Was hast du gegen ihn? Er hat schöne Augen!«

»Wenn’s nur darauf ankäme«, brummte Lena.

»Worauf kommt es denn an? Ich schaue immer zuerst auf die Augen.«

»Er muß einem schon im ganzen gefallen, so von oben bis unten! Für so einen schwärmt man eben nicht.«

Das leuchtete Agnes ein. Sie hatte auch nie für Jungen geschwärmt, die sie von klein auf kannte, das waren Rotznasen, freche Bengel, bestenfalls gute Spielkameraden. Aber wenn eine neue Familie einzog in der Straße, das war ein Ereignis, und wenn sie einen Sohn hatten, wurde er leicht zum Traumprinzen, bis er eines Tages mit der anderen Meute im Abenddämmern auf der Straße tobte, einen anrempelte und genauso dumme Redensarten nachrief wie die anderen.

»He«, sagte Lena, »du hörst mir ja gar nicht zu!« Sie tippte Agnes auf die Schulter.

»Was hast du gesagt?«

»Morgen ist was los bei uns! Wir sparen uns die Fahrt in die Stadt und gehen zum Herbstfest der Camper!«

»Zu was für einem Fest?«

»Na, die Leute, die ihre Wohnwagen am Strand haben, feiern Abschied.«

»Abschied wovon?«

»Himmel, du kannst Fragen stellen! Vom Sommer, voneinander, oder was weiß ich! Ist uns doch egal, Hauptsache, es wird ein Spaß!« Lena beugte sich vor und drehte die Musik wieder lauter.

Agnes nickte zögernd. Hauptsache, es wird ein Spaß.

Eine Brücke für Joachim

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