Читать книгу Vermächtnis der Sünder Trilogie - Angelika Merkel - Страница 4
Kapitel 2
Оглавление»Ich sehe an euch dieses verräterische, verträumte Grinsen …«, ertönten die Worte der Frau, die gleich einer drohenden Gewitterwolke in der Tür stand. Ihre schmalen bernsteinfarbenen Augen richteten sich auf die am Tisch sitzende, in einem Folianten lesende Celena. Eine einzelne Kerze, aufgesetzt auf einen wächsernen Turm, erhellte den Raum. Neben dem Folianten lagen halb beschriebene Pergamente auf dem Tisch. Blaue, forschende Augen hefteten sich auf die im Türrahmen stehende Morena. Ihr tief ausgeschnittenes Gewand war mehr als aufreizend. Vermutlich betörte es mit Leichtigkeit jedes männliche Wesen in diesen Ländern - wenn sie denn je dazu in der Lage sein würden. »Offenbar ist er euch noch nicht überdrüssig geworden«, kommentierte Morena das leichte Lächeln des im Bett schlafenden Luteks. Rötliche Haarsträhnen waren ins Gesicht gefallen, während er schlummerte. Ein leises Schnarren ertönte aus seiner Kehle. »Er schnarcht!«, verwunderte sich die junge Hexe. »Er schnurrt!« »Ah! Dann ist er euer Katerchen?« »Was wollt ihr?«, schnappte Celena Morena an. »Oh, warum so feindselig?« Morena schritt anmutig zu der San-Hüterin hinüber. Das tat sie meistens dann, wenn sie wohl wissend ihre perfekte Gestalt auszuspielen suchte. »Ich dachte, wir sind Freundinnen.« Auf dem Stuhl verharrend und alle Muskeln gespannt zum Sprung ansetzend, begegnete Celena mit festen Blick Morenas Augen. »Und dennoch platzt ihr hier ungefragt herein«, unterbrach sie die ungebetene Besucherin. »Ich kann mich daran erinnern, dass ihr darum gebeten hattet, euch nicht zu folgen. Aber … ihr scheint uns nachzustiefeln. Was also ist der Grund des Sinneswandels?« Um den Mund der Hexe spielte ein sinnierendes Lächeln. Den Blick an Celena vorbei, auf den Foliant konzentriert, neigte sie leicht den Kopf zur Seite. »Was, wenn ich weiß, dass ihr Antworten sucht und ich euch zu den Lösungen verhelfen kann.« »Warum kommt mir das allzu bekannt vor?«, zischte Celena von der Seite zu ihr rauf. Morenas Kopf senkte sich ein wenig tiefer, bis ihr Mund nahe an Celenas Ohr zum Stillstand kam. Warmer Atem blies der Kriegerin ins Gehör, als Morena fortfuhr zu reden. »Noch immer seid ihr eine Hüterin der Anderen. Noch immer von deren Blut verderbt und dem Tod näher als dem Leben. Ein Dilemma, das nach einer Lösung schreit. Wenn es nicht euer Überlebenswille ist, der euch zu solch einer Suche antreibt, was könnte es sonst sein?« Die Muskeln schmerzten, so sehr waren sie angespannt. Celena war kurz davor, vom Stuhl aufzuspringen. »Er ist es, nicht wahr?« Morena ließ sich nicht beirren und zeigte hinüber zum Bett. »Ihr wollt ihn nicht verlieren. Denn er würde es nicht ertragen können, eines Tages mitzuerleben, wie es euch auffrisst. Deshalb bin ich zurückgekommen. Ich bin hier, um zu helfen.« Der Zauber ihrer bernsteinfarbenen Augen durchbrach Celenas Augen und drang in ihre Seele vor. »Einmal habt ihr mir ein Geschenk gemacht und keine Gegenleistung erwartet. Nun möchte ich euch ein Geschenk machen.« Nach Luft schnappend schreckte Celena hoch. Orientierungslos, in Gedanken und dem Gesehenen verloren, blickte sie sich um. Ihr Herz schlug schnell. Innerlich befehlend, dass es sich beruhigen sollte, gewahr sie die vertraute Gestalt neben sich im Bett. Sie seufzte. Sie hatte geträumt. Sichtlich ruhiger erhob sich die dunkelhaarige Hüterin und setzte sich auf die Bettkante. Liebevoll strich sie sanft dem schlafenden rothaarigen eine Strähne aus seinem Gesicht. Ihre mühsam erkämpfte innerliche Ruhe wurde augenblicklich zerstört, als sie den Folianten auf dem kleinen Beistelltisch gewahrte. Nur langsam drang die Erkenntnis in ihr Bewusstsein vor. Sie begriff. Es war kein Traum gewesen. Sie starrte auf den abgenutzten, befleckten Einband, dessen Schwärze aus der Dunkelheit selbst zu kommen schien. Es setzte sich aus Pergamentbögen unterschiedlichster Größen zusammen und verlieh dem Ganzen eine wilde Unregelmäßigkeit. Sie hatte es bereits in Händen gehalten – das Zauberbuch der alten Hexe Thiamet. Eines dieser Seiten des Folianten lugte heraus. Es schien sich vorwitzig nach außen zu drängen. Mit zitternder Hand zog Celena an dem Blatt. Es entpuppte sich als ein loses einzelnes Pergament. Mit Tinte geschrieben, stand dort: Die Götter benötigen uns. Was jedoch fordern wir von ihnen? Und unter diesem war mit nur einem Buchstaben unterzeichnet – M wie Morena.
* * *
»Jetzt! Spring!«, donnerte die tiefe Bassstimme. Mit klopfenden Herzen fuhr Lutek aus seinem Schlaf empor. Der Traum! Er war wieder erschienen. Diesmal hatte er alles deutlicher vernommen und er war nicht gefallen. Er war tatsächlich gesprungen. Das Echo des sonoren Basses klang in seinem Bewusstsein nach. Diese Vision – sie klang nicht bedrohlich. Es war ihm, als ob es ihn antrieb. Zu was? Und wohin? Es beunruhigte ihn. Er blickte zu der Frau neben sich, welche sich murmelnd hin und her rollte. Offenbar konnte sich auch seine Gefährtin nicht in einen ruhigen Schlaf ergeben. Vielleicht hatten ihre Träume ihn angesteckt. Ergeben beobachtete er sie. Er wollte sie nicht wecken. Doch als ob sie seine Gedanken gespürt hatte, blinzelten ihre Augen. Die Lider, deren geschwungenen Wimpern die Seele wie Gitterstäbe verschlossen, öffneten sich zögernd. Schließlich aber sahen die klaren, blauen Augen Lutek an. »Stimmt etwas nicht! Ist alles in Ordnung?«, wollte die dunkelhaarige Frau an seiner Seite wissen. »Sicher! Ja!« Die Frage verwirrte ihn. Spiegelte sich sein Traum in seinen Augen wider? Erblickte Celena seine Unsicherheit in seinem Gesicht? Sofort versuchte er, diese zu verbannen. Vergeblich. Sie bohrte nach. »Dein Gesicht sagt mir etwas anderes. Schlecht geträumt?« Er schüttelte sein rothaariges Haupt. »Ich? Nein, nicht schlecht! Und du?« versuchte er vom Thema abzulenken. »Wie man es nimmt und darunter verstehen mag«, orakelte Celena. »Dich beunruhigt was?«, flüsterte sie weiter. Anstatt darauf zu antworten, schälte sich Lutek aus der Decke heraus, entstieg dem Lager und präsentierte seinen durchtrainierten, schlanken und von Muskeln perfektioniert geformten Körper. Narben auf seinem Rücken schimmerten im Licht und erinnerten Celena schmerzhaft an die begangenen Untaten an Lutek. Er hatte nie über die Details darüber mit ihr gesprochen. Stets hatte er abgeblockt, wenn sie versuchte, darüber zu reden. Sie wollte lediglich mehr erfahren, um die Verantwortlichen dieser schrecklichen Tat zur Strecke zu bringen. Er ließ es nicht zu. »Es ist nichts! Ich …« »War es wieder dieser Traum?« Lutek wirbelte zu ihr herum. In seinen Augen glänzte Melancholie und die erweiterten Pupillen zeugten von Furcht. Er fürchtete nicht den Traum. Viel eher fürchtete er das, was er tun musste. Celenas forschender Blick blieb auf ihn haften. Stumm nickte er. Sein Brustkorb hob sich, als er die Luft tief in sich hinein sog. »Ich habe ihn seit unserer ersten Begegnung damals in Giret nicht mehr geträumt. Bis heute. Er ist deutlicher geworden. Ich habe das Gefühl, das er mir etwas sagen möchte.« »Der göttliche Schöpfer?« »Du hast nie wirklich daran geglaubt, richtig?« Dieses nachdenkliche Grübeln, das Stirnrunzeln, welches Celena kleine Furchen ins braun gebrannte Gesicht trieb, hatte er in der Vergangenheit öfter gesehen. Meist dann, wenn sie glaubte, unbeobachtet zu sein. »Die Schöpferhäuser sagen, er sei von uns gegangen und käme erst wieder …«, sprach sie nach einer Weile des Schweigens. »… wenn wir glauben und die Melodie des Lichts aus allen vier Ecken der Welt erklingen wird«, vollendete Lutek. »Ich weiß. Doch ich kann … ich kann …« »Was, Lutek? Was kannst du?« »Ich höre ihn! Ich kann deutlich seine Stimme vernehmen.« In der Stirn Celenas gruben sich erneut Furchen. Unverhofft schwang sie die Decke zur Seite, entstieg ebenso unverhüllt der Schlafstatt und trat zu ihrem Geliebten. Unergründlich blickten ihre Augen Lutek an, dann nahm sie ihn in ihre Arme. »Ich glaube! Erst durch dich fing ich an zu glauben«, hörte er das verlockende Wispern Celenas an seinem Ohr. Er spürte ihre warme, weiche Haut auf der seinen. Er spürte das Heben und Senken ihrer Brust bei jedem Atemzug, während sie sich an ihm schmiegte. Lutek ergab sich dem Frieden im Herzen und gemeinsam sanken sie zurück auf das Lager.
* * *
Sanft strich Celena über den muskulösen Schenkel neben sich. Ihr Blick suchte im Gesicht des Geliebten nach Antworten, während in ihr die letzten Augenblicke ihrer zärtlichen Umarmungen der Wonne nachhallten.
»Ich muss dich verlassen!«
Die hauchenden Worte Celenas ertönten wie ein Schrei in seinen Ohren. Er blinzelte sie an.
»Es ist unausweichlich!«
Er hatte es befürchtet. Tief in seinem Inneren hatte er es gewusst, das es eines Tages soweit kommen musste.
»Ich weiß!«
»Du … du bist nicht erstaunt, nicht traurig?«
»Ich weiß, dass du nach Antworten suchst.«
Sie presste die Lippen aufeinander. »Ja«, flüsterte sie.
Lutek betrachtete die Holzdecke über sich. Sein Herz klopfte, aber auch er musste etwas gestehen. Er drehte seinen Kopf zur Seite, stemmte sich auf und blickte in das Gesicht Celenas.
»Es gibt da etwas, was du nicht weißt. Ich will nicht, dass dies zwischen uns steht«, gab er zu. »Auch ich suche nach Antworten.«
»Was ist es?«
Celena sah ihn mit nassglänzenden Augen an.
»Es ist … nein, ich kann es nicht.« Lutek stockte.
Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Seine Stimme versagte. Nein, es ging nicht. Das wäre ein Fehler!
»Dann … finde deine Antworten und ich suche die Meinigen«, meinte sie tieftraurig.
Das Gefühl, welches in ihr in diesem Augenblick aufbrodelte, war überwältigend. Unsichtbar bäumte sich ihre Seele auf.
Celena suchte krampfhaft nach der inneren Stärke. Jene Stärke, die sie in all der Zeit als San-Hüterin der "Anderen" nur in einem gefunden hatte. Hier und jetzt galt alles oder nichts.
»Ich finde dich, Lutek. Egal wo du bist. Das verspreche ich. Ich komme zurück zu dir!«
Ein Lächeln stahl sich in sein Gesicht.
»Du bist süß. Aber du sagtest einmal selbst: Alles ändert sich.«
Celena nickte. Ihre Worte klangen zaghaft, widerspenstig und trotzig zugleich.
»Das sagte ich einmal. Doch ich hatte mich geirrt. Zumindest in dieser Sache. Und ich weiß, ich glaube an dich. Genau das habe ich durch dich gelernt. Ich habe nicht vor, das zu vergessen. Wir werden uns wiedersehen und nichts wird uns dann jemals trennen können. Glaube kann nicht irren. Es hat nichts mit Logik zu tun. Kannst du dich erinnern?«
Leise und halb erstickt entrang sich ein Lachen aus Luteks Kehle.
»Es stimmt – du bist schrecklich romantisch.«
»Versprich es mir.«
»Versprechen können gebrochen werden!«
»Versprich es vor dem göttlichen Schöpfer.«
Schrecken flackerte für einen winzigen Moment in Luteks Augen auf. Unsicherheit und Zweifel dieses Versprechen nicht einhalten zu können, breitete sich in ihm aus. Dann aber drängten Zuversicht und Gewissheit die Ängste zurück, als er an den ersten Tag seiner Begegnung mit Celena zurückdachte. Er war sich damals, wie heute sicher, das der Schöpfergott ihn in dieses Land gesendet hatte, um Celena zu finden. Er hatte daran geglaubt, so wie jetzt auch.
Celena strich ihm in diesem Augenblick durch sein fuchsrotes Haar. »Der Glaube ist das, was wir haben«, hauchte sie ihm zu.
»Glauben an uns! Oder waren all die Worte über die große Liebe nur leeres, nichtssagendes Getratsche? Lutek, ich glaube an dich und frag mich nicht warum. Ich fühle es!«
Zartes Lächeln zauberte sich auf die Lippen des Rotschopfs.
»Dann soll es so sein! Versprochen!«
Mit einem sanften aber wahrhaft innigen Kuss besiegelten sie ihr Versprechen zueinander. Denn alles, was sie hatten, so träumerisch und naiv es in manchen Augen sein mochte, war Glaube. Nicht an den Schöpfer und nicht an die Götter.
* * *
Die Gassen der Ortschaft, welche kaum ein Dutzend Gebäude zählten, waren leer. Kurz prüfte Celena den Riemen ihrer Rüstung, schulterte ihren Rucksack und folgte daraufhin den vor sich liegenden Weg. Wie ein Trampelpfad schlängelte er sich zwischen die Gebäude hindurch.
Lutek würde sicherlich am Morgen aufbrechen, sobald er ihre Seite des Lagers leer vorfand. Ihr Versprechen zueinander hatte ausgereicht.
Sie wollte keine Worte des Abschieds. Diese hätten sie womöglich nur ins Wanken gebracht.
Vor ihr lag die Hauptstraße. Sie wusste immerhin, wohin sie sich wenden musste. Thelerm. Das war ihr Ziel.
»Ihr wollt tatsächlich den Weg nach Thelerm zu Fuß zurücklegen?«, raunte eine rauchige akzentträchtige Stimme zwischen den letzten beiden Häusern hervor.
Celena hielt inne und sah zum Himmel hoch. Sie beachtete den Mann nicht, dessen Stimme ihr wohlbekannt war.
»Ich dachte«, begann sie ruhig und betrachtete dabei die Sterne dieser selten klaren Nacht. »Die Sache zwischen mir und eurer Gilde wäre erledigt.«
»Ganz und gar nicht.« Der Sprecher trat aus dem Schatten heraus.
»Ich habe euch einen Gefallen anzubieten.«
Der bekannte forschende Blick setzte sich in Celenas Augen, als sie ihren Kopf zu dem Mann wandte. Seine fein bestickte Kleidung, die in diese Gegend nicht hineinpasste, lugte unter dem Mantel hervor.
»Einen Gefallen?«
»Richtig! Damals habt ihr uns einen Gefallen erwiesen und nun biete ich euch solchen an.«
»Dafür wurde ich von euch bezahlt.«
»Das waren Kleinigkeiten und kaum der Rede wert im Gegensatz zu dem, was wir euch tatsächlich schuldig sind.«
Tacio, dessen kahl geschorenes Haupt aufschimmerte wie ein blank geputzter Helm, trat einen weiteren Schritt auf Celena zu.
»Es verwundert mich, dass ihr euch persönlich aufmacht, um mich aufzusuchen.«
Der Gildenmeister grinste verhalten.
»Eine Investition lässt man nicht aus den Augen.«
»Ihr seht mich als eine Investition?«
»Also gut! Euch kann man nichts vormachen. Es geht nicht nur um gegenseitige Gefälligkeiten. Das, was ich euch biete, ist mehr als nur in unserem Interesse. Hadaiman ist in Gefahr und somit auch mein Heimatland Arvelis. Womöglich ganz Panera.«
»Was hat das mit mir zu tun, Tacio?«
Der fahlgesichtige Assassinenmeister klopfte mit der flachen Hand wie zufällig neben sich auf eine Satteltasche, die über dem Rücken eines Pferdes hing. Celena hatte das Tier nicht bemerkt, das ruhig neben Tacio stand. Sein Fell war so schwarz, das es mit der Dunkelheit der Nacht verschmolz.
»Hier sind Dokumente mit großem wissenden Inhalt. Ihr benötigt sie, um jemanden aufzuhalten, der euch, eurem Geliebten und uns allen gefährlich werden kann. Deshalb bieten wir an, ein Auge auf euren Gefährten zu haben. Ihn gewissermaßen bei jedem seiner Schritte zu überwachen. Und darüber hinaus habe ich eine kleine Bitte.«
»Welche?«
»Falls ihr einen von uns begegnen solltet, zögert nicht das Schwert einzusetzen.«
Celena runzelte misstrauisch die Stirn.
»Redet ihr von Kelthran?«
»Nein, nein!« Tacio lachte heiser auf. »Ich rede von einem Schwert, welches uns abspenstig ging. Vermutlich von demjenigen an sich genommen, den wir alle zu fürchten haben.«
»Es wäre hilfreich, wenn ihr euch klarer ausdrücken würdet.«
Celena knirschte entnervt mit den Zähnen.
»Da gibt es nichts weiter zu erklären. Ich vermute, dass ihr ihn sehr bald kennenlernen werdet. Fragt ihn nach dem verlorenen Schwert der flüsternden Bruderschaft, sofern es euch gelingt.«
Tacio hielt ihr die Zügel hin, die er in der Hand hielt.
»Es heißt "Feuerwind".«
Zögernd trat Celena an das Tier heran. Sie blickte in die dunklen, großen Augen des Rappen, dann zu dem Meisterassassinen aus Arvelis.
Ein leichtes Nicken bevor sie die Zügel übernahm.
Sie führte das kraftvoll wirkende Tier auf die nachtdunkle Straße und schwang sich in den Sattel. Misstrauisch schmälerten sich ihre Augen zu Schlitzen, als sie zu dem Arveliser hinunterblickte.
»Und ihr habt ein Auge auf ihn«, vergewisserte sie sich, forschend auf das kleinste Anzeichen eines lauernden Hinterhalts achtend.
Sie bemerkte nichts. Tacios Miene blieb so kalt wie die eines Fisches.
»Ihr habt mein Wort. Wir werden euch benachrichtigen, sollte es hässlich werden.«
»Euer Wort?« Der Rappe tänzelte leicht hin und her. »Das Wort eines Meuchelmörders?«
»Glaubt mir! Wenn ich euch nicht vertraue und ihr nicht mir, dann sind wir womöglich dem Untergang geweiht.«
Was blieb der Hüterin anderes übrig, als ihm zu vertrauen.
»Also gut. Aber sollte ihm was zustoßen, werde ich euch finden. Egal wo ihr euch herumtreibt.«
»Vergesst nicht, sein Name ist Feuerwind«, sagte Tacio ihre Worte ignorierend und klatschte dem Tier auf die Flanke.
Es schnaubte auf und setzte sich augenblicklich in Trab. Geradewegs hinein in die Nacht, auf den Weg nach Thelerm, den Antworten entgegen und fort von Lutek.
* * *
Feuerwinds Schritte wurden langsamer. Er schien am Ende seiner Kräfte. Ebenso spürte Celena ihre Müdigkeit in ihren Knochen. Leicht zog sie an den Zügeln, sodass das Pferd bereitwillig anhielt.
Inzwischen war die zweite Folgenacht ihrer Abreise angebrochen.
Ihr Blick schweifte durch die ins abendliche Dämmerlicht gehüllte Wildnis, während sie den Rappen beruhigend tätschelte.
»Ja Junge! Du hast recht. Eine Rast wird uns beiden gut tun«, brummte sie und stieg ab. Mit den Zügeln in der Hand lief sie langsam den Weg weiter, auf der Suche nach einer geeigneten Stelle für ihr Lager.
Unweit des Wegesrandes, ein Stück in die Wildnis hinein, erhaschten ihre Augen etwas, was ihr bekannt vorkam. Weiß mit rötlichem Farbtupfer in der Mitte schimmerten die Blütenblätter einer kleinen Blume selbst noch im fahlen Licht des Mondes. Sie weckte Erinnerungen in ihr.
Der Wald um diese Pflanze herum wurde von einer kleinen halbrunden Lichtung unterbrochen.
»Ein guter Ort«, sprach sie zu dem Pferd.
Sie band das Tier an einem der Bäume, die fest und ewig dort standen.
Die Handgriffe, ein Stangengeflecht aus den umliegenden Hölzern zu basteln, welches kurz danach als Zeltskelett fest im Boden stand, waren ihr längst ins Blut übergegangen. Eine Stoffplane darüber sollte Schutz genug vor dem Ungemach des Wetters dienen. Zufrieden blickte Celena ihr Werk an, bevor sie sich daran machte ein Feuer zu entfachen.
Die wunderschön, blühende Pflanze fiel ihr ein, als die ersten Flammen emporloderten. Sie wandte sich nochmals dem Wegrand zu. Es musste drohend auf das winzige Pflänzchen wirken, so dicht, wie sie wenig später vor diesem stand. Sie bückte sich hinunter, um die Blüte näher zu betrachten. Einen Moment später hielt Celena die Blume in ihrer Hand.
Vor dem Lagerfeuer sitzend, die wundersame Pflanze haltend, grübelte sie über deren Namen. Verträumt schaute sie auf die weiß-rote Blüte. Schließlich sah sie auf und schaute in die Richtung, in die sie die fernen Gipfel mit der Festung der Hüter vermutete.
Ein schwerer Seufzer entrann sich ihrer Kehle. Gleichzeitig weiteten sich entsetzt ihre Augen, als sie unmittelbar neben sich aus dem Gebüsch heraus eine Stimme hörte.
»Sind die San-Hüter zwischenzeitlich unter die Blumensammler gegangen?»
Bereit um ihr Leben zu kämpfen, sprang sie auf und packte das Heft des Schwertes, welches noch an ihrem Gürtel hing.
»Das … ist kein netter Empfang für einen Bruder.«
Der Sprechende trat in das Licht des Feuers. Unberührt des Schwertes, was auf ihn gerichtet war, hielt er sich die Hände über die Flammen, um sie zu wärmen. Sein wettergegerbtes, bärtiges Gesicht war leicht eingefallen. Die Wangenknochen traten stark hervor. Stechende Augen, die unmittelbar auf das Feuer gerichtet waren, regten sich nicht, schienen wie tot. In seinem rötlich braunem Haar entdeckte man hier und da ein paar graue Strähnen. Er trug keine Rüstung, lediglich Kleidung, die leicht grünlich schimmerte. Ein unansehnliches Schwert, in welches Scharten von unzähligen Schlachten gezeichnet waren, hing in einem lockeren Gehänge an seiner Rechten.
Celena schätzte das Alter des Mannes auf etwa fünfzig Winter. Was sie verwirrte und ihr recht seltsam schien, sie spürte die Anwesenheit eines Hüters neben sich.
»Wer seid ihr?«
»Ein Freund und …!«
Der Fremde blickte sie mit den stechenden Augen direkt an. »Und … ein San-Hüter, so wie ihr es seid … Vielleicht nicht mehr lang!«
Auf Celenas Stirn entfalteten sich Furchen.
»Ich verstehe nicht! Wieso sagt ihr das?«
Ihr war der nächtliche Besucher unheimlich. War das Einzige was sich an ihm bewegte, seine sich gegeneinanderreibenden Hände über dem Feuer.
»Wenn mich nicht alles täuscht, sucht ihr einen Ausweg, diesen Fluch von euch zu nehmen. Nur wenige unseres Ordens dachten darüber nach und allzu oft scheiterten sie kläglich – vornehmlich an den Schwertern ihrer Brüder und Schwestern. Man quittiert nicht einfach den Dienst bei den San-Hütern.«
Während er sprach, wandte er sich endgültig Celena zu.
Seine dunklen, undurchdringlichen Augen bohrten sich förmlich in die junge Kriegerin hinein.
»Nennt mich Terzios, Hüter aus …«, er winkte ab. »Ich bin überall und nirgends.«
»Und ich bin …«
»Celena aus dem Hause Tousard. Ich weiß. Celena – der Heimat geweiht. Ein überaus bedeutungsvoller Name.« Terzios lächelte. »Wie sind eure Träume?«
Ihre Furchen auf der Stirn wurden dichter.
»Ich glaube, das geht euch nichts an«, fauchte sie leise.
»Widerspenstig wie ein kleines Kätzchen. Genauso wurde es mir berichtet«, grinste er und deutete dabei gleichzeitig auf die Reste eines umgefallenen Baumes, den Celena zuvor als Sitzgelegenheit genutzt hatte.
»Ihr habt doch nichts dagegen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ sich der Alte Hüter darauf nieder.
»Ich sprach von den Träumen. Nun, meine sind im Moment noch zurückhaltend. Wie ist es mit euren?«
Celena betrachtete ihre zweite Waffe, welche nur wenige Schritte von ihr entfernt gegen einen Stamm lehnte. Sich die Worte des Assassinenmeisters in ihr Bewusstsein holend, stützte sie sich misstrauisch auf ihr zweites Schwert.
»Ihr seht nicht aus, wie ein Weißer Hüter, der gute Träume hat?«
»Ah, ihr spielt auf mein Alter an.«
Terzios wusste sofort, worauf Celena hinaus wollte. »Ihr meint, meine Zeit wäre schon längst abgelaufen? Ich bin nicht der erste Hüter in dieser Hinsicht. Nichtsdestotrotz läuft sie unweigerlich ab. Wenn ich mich nicht irre, und das kommt selten vor, habt ihr eine Idee wie man es verlangsamen oder stoppen kann. Stimmt doch, oder?«
Der Alte sah die Blicke Celenas, die zwischen ihm und dem Schwert am Stamm hin und her wechselten.
»Eine gute Klinge, die ihr da habt. Der göttliche Schöpfer beschenkt seine Favoriten gut.«
Terzios gestattete sich ein grimmiges Lächeln.
»Auf die Lebenserwartung zurückzukommen. Wie gedenkt ihr, dagegen, etwas zu unternehmen? Etwa mit Blümchen, wie dieses in eurer Hand?» Er lachte grölend auf. »Wer weiß, vielleicht kann man daraus ein Mittelchen herstellen, um das Blut zu entgiften.«
Wieder entrann sich seiner Kehle ein heiseres Lachen.
»Aber das eigentliche Gift, welches wir zu uns nehmen, ist das konzentrierte Böse. Eine nette Hinterlassenschaft des göttlichen Schöpfers, findet ihr nicht? Erinnert ihr euch an die Worte eures Kommandanten Nacuds: Ihr werdet aufgefordert, euch der Verderbtheit für ein höheres Ziel auszuliefern?« Abermals lachte er.
»Der alte Schelm!«
Celena blieb hingegen ruhig und unbeweglich, wie zuvor der Hüter selbst.
»Für ein höheres Ziel! Was für starke Worte!«
Sein Ton wirkte verächtlich.
»Jahrhunderte geht dieses Ritual schon und es wird viele weitere Jahrhunderte fortbestehen. Immer und immer wieder werden die "Anderen" sich neue Anführer suchen, wenn wir ihren alten töteten. So geht es weitere Tausende von Jahren und es wird kein Ende nehmen.«
Der Alte redete sich in Rage.
»Wirken die "Anderen" wirklich wie dumme Tiere? Also ich kenne keines, welches Schwerter, Rüstungen und Schilde schmiedet. Ich kenne kein Tier, das taktisch denkt und dessen Führer Magie nutzt. Ihr vielleicht?«
Sein Finger deutete einem Lehrer gleich auf Celena, welcher seinem Schüler eine wichtige Lektion vermittelte.
»Eines muss man ihnen zugute gestehen – sie folgen mehr ihren Instinkten als wir.« Er schüttelte missmutig den Kopf. »Und wir? Im Vollbesitz unseres Verstandes nutzen wir Selbiges, was der göttliche Schöpfer uns als Strafe auferlegte. In der Hoffnung genau das zu bekämpfen. Welch eine Ironie. Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Oder ist es ein überaus schlechter Witz? Was sind wir doch allesamt für Narren. Mich würde es nicht verwundern, wenn die Götter über uns lachen«, beendete er seine schulmeisterliche Rede.
»Und … was in Karmastes Namen wollt ihr von mir?«, fragte Celena unwirsch.
Terzios antwortete ihr nicht. Sein Blick war starr ins Feuer gerichtet, welches sich langsam aber stetig in Glut verwandelte.»Euer Feuer droht auszugehen«, sagte der alte Hüter knapp.
Ein leichtes Schnippen ertönte, das von seinen Fingern herrührte.
Augenblicklich züngelten kleine Flammen empor.
Unwillkürlich hob Celena eine Braue. »Ihr seid ein Magier?«
»Magier, Krieger, Schurke! Was ihr wollt. Sucht es euch aus!« brummte er.
Langsam aber sicher kam Celena ein Verdacht. Ein leises Begreifen schlich sich in ihre Gedanken. Mit leicht geneigtem Kopf, aus den Augenwinkeln heraus, sah sie ihren Besucher an. »Ein Deserteur?«
»Wie auch immer …«, knurrte Terzios, »… ich suche seit Langem nach jemandem wie euch. Eigentlich war ich der Meinung, es wäre ein Mann. Was denkt ihr, wie überrascht ich war, als man mir erzählte, dass eine Frau den Erzalten erschlug. Und noch überraschter war ich, das sie überlebte, im Gegensatz zu denen, die in früheren Jahrhunderten die Bestien töteten.« Um seine Mundwinkel zuckte ein warmes Lächeln. »Es gibt nicht viele weibliche Hüter in unserem Orden. Vermutlich sind sie klüger in Beheben von Problemen und schlagen nicht sofort mit dem Schwert zu. Apropos Schwert – ihr könnt eures getrost wegstecken. Ich bin nicht derjenige, für den ihr mich haltet. Der Mann, von dem euch Tacio warnte, ist mein Bruder.«
Ein säuerliches Lächeln stahl sich auf die Lippen Terzios.
In Celenas Gesicht zuckte nicht der geringste Muskel, der ihre Überraschung darüber verriet, woher dieser Mann von Tacios und ihrer Unterhaltung wusste. Offensichtlich wusste er mehr als er vorgab.
Sie wagte einen Vorstoß.
»Werdet ihr mir helfen oder warum seid ihr hier?«
Der in sich zusammengesunkene Körper des Mannes straffte sich. Kurzerhand erhob er sich und trat einen Schritt auf Celena zu.
Ihre forschenden, blauen Augen ins Visier nehmend, stand er vor ihr.
»Mir bleibt wahrscheinlich nicht mehr viel Zeit. Ja. Ich habe sehr lange auf jemanden wie euch gewartet.« Er lachte leise auf.
»Eine vom Hause Tousard, die eine Rebellion anführt und das erfolgreich, hoffe ich. Eurem Ahn fehlte damals die nötige Stärke, oder sollte ich Eier sagen, um solches durchzuführen. Kein Wunder, dass sein Kopf auf einem silbernen Tablett landete.«
Celena konnte ihrerseits ein Lachen nicht unterdrücken. Die Geschichten ihrer Vorfahren waren ihr nicht unbekannt.
»Ihr denkt also, ich wäre geeigneter und hätte besagte Eier?«
»Bei dem dicken Hinterteil eines Zwerges. Habt ihr die?«
Mit einem donnernden Lachen schlug der Alte Hüter seine Hand Celena auf die Schulter, um nachfolgend urplötzlich zu verstummen.
»Morco«, zischte er.
»Wer?«
»Ich spüre die Nähe von Horsocks.«
Kaum hatte Terzios das Wort ausgesprochen, fühlte auch Celena die Anwesenheit des Feindes. Wie spitze Nadeln bohrte sich das abgrundtief Böse, das ebenfalls ihr Blut durchfloss, in ihren Kopf hinein.
Aus dem Unterholz brachen zeitgleich grobschlächtig gepanzerte Wesen. Die glühenden Augen waren auf ihre Opfer gerichtet, während am Rand der Lichtung, ungesehen im Schatten der Bäume, eine Gestalt stand. Es war nicht einer jener angreifenden Wesen. Es war ein Mensch, der auf die beiden Kämpfer deutete. Der Befehl an die Kreaturen war eindeutig.
»Rücken an Rücken«, bellte Terzios, der sein Schwert derart blitzschnell in der Hand hielt, das Celena nicht nachvollziehen konnte, wie er es gezogen hatte.
Mit einer flinken Bewegung riss sie ihre zweite Waffe an sich. Ihre Schneide war aus einem Metall geschmiedet, das nicht von dieser Welt stammte. Himmelsschneide nannte sie die Klinge.
In beiden Händen die Schwerter schwingend, sprang sie zurück zu Terzios, um sich wie vorgegeben zu formieren.
Celena duckte sich unter den ersten Schwertstreichen der Angreifer hinweg, indes sie ihre Klingen in deren Körper rammte. Mit gurgelndem Laut brachen sie zusammen. Ein anderer büßte seinen Kopf ein, als Terzios seine Klinge schwang.
»Sollten die sich nicht in die Dunkelheit der Tiefe zurückgezogen haben?«, keuchte die Tochter der Tousards.
»Nur dann, wenn sie niemanden haben, der sie kommandiert.«
»Ich verstehe nicht! Wie?«
Sie kam nicht dazu, weiterzureden. Um ein Haar hätte einer dieser Missgeburten sie getroffen, wenn sie nicht reaktionsschnell zur Seite gewichen wäre. Wütend wirbelte sie beide Waffen gleichzeitig.
Dem nächststehenden Monster spaltete sie den Kopf, während der Schlag ihrer linken Waffe die Brust eines anderen aufschlitzte.
»Das … sind die kleinen Geheimnisse, die wir Alten gerne für uns behalten« hörte Celena seine Worte hinter sich.
Ein glühendes Holzscheit, von Terzios mit dem Fuß in die Luft katapultiert, flammte von dem Luftzug auf und flog in Richtung eines der Angreifer. Sofort verwandelte sich dieser in eine grunzende, herumspringende Fackel.
»Wunderbar. Ich habe gerade die tanzende Beleuchtung erfunden«, feixte Terzios.
Diese Art von Witzen erinnerte Celena stark an ihren zwergischen Kampfgefährten, der sie jahrelang begleitet hatte. Sie musste unwillkürlich lächeln. Schnell erstarb ihr Lächeln wieder. Mehr und mehr dieser unseligen Geschöpfe stürmten auf sie zu.
»Es sind zu viele. Ich würde meinen rechten Arm für ein Dutzend Zwerge geben«, knurrte Celena zu Terzios.
»Ich muss euch zustimmen«, bellte er zurück.
Ein gellender Pfiff ertönte augenblicklich von seinen Lippen.
»Ihr solltet in Deckung gehen. Sie ist etwas ungestüm.«
Er deutet mit seinem Kopf über sich. Kaum ausgesprochen krachte eine riesige Kreatur zwischen die angreifenden Monstren. Ihr Kampfschrei glich dem Kreischen eines überdimensionalen Adlers. Wie eine Harpje wütete das große Flugtier zwischen der Horde, die angstvoll zu flüchten suchte. Entweder war es das oder ihnen fehlte ihr Kommandant, der plötzlich untertauchte. Vereinzelte, die zu langsam waren, wurden von den messerscharfen Klauen des Vogels regelrecht zerrissen.
Nicht lange nach dem Auftauchen des fliegenden Tieres waren alle Angreifer verschwunden.
* * *
Aus dem Federgestöber löste sich zum Erstaunen Celenas eine junge Frau.
»Ein Formwandler« zischte sie leise in sich hinein, während diese in ihrer Nacktheit auf Terzios zu schritt. Offensichtlich schämte sie sich nicht im geringsten darüber, nackt in der Wildnis herumzulaufen.
Die blondhaarige Frau richtete ruckartig ihre graugrünen Seelenfenster zu Celena und nickte ihr grüßend zu.
»Kann ich davon ausgehen, dass ihr passende Kleidung für mich habt? Oder wollt ihr mich die ganze Nacht anstarren, während mich nur das Feuer wärmt.«
Celena schüttelte die anfängliche Starre ab.
»Wo denkt ihr hin? Und … es gibt schon jemanden.«
Ihr blondes Gegenüber grinste schelmisch mit einer aufreizenden Bewegung. »Das sagt nichts aus!«
Ungläubig darüber blickte Celena sie an. Sie gab sich einen Ruck, nicht wütend aufzufahren, drehte sich um und marschierte zu dem Zelt.
In dem Rucksack fand sie ein geeignetes Kleid.
Es war von bürgerlicher Aufmachung, entsprach aber nach ihrer Einschätzung der passenden Größe dieser vorwitzigen jungen Frau.
Zurück am Feuer warf sie es der Fremden zu.
»Als ob ich nicht schon genug sarkastische Zicken um mich herum hatte. Nein. Da muss diese hier auftauchen. Ist die immer so?« zischte Celena dem alten Ordensbruder zu.
»Sebyll? Die war nie anders!« antwortete ihr Terzios herzhaft lachend, fast die Worte verschluckend.
Verwirrt darüber blickte sie den Alten an. Wollte er sie auf den Arm nehmen?
»Hab ich irgendetwas Witziges verpasst oder was gibt es sonst zu lachen?« murrte sie.
»Nicht! Es ist nichts!« grinste er vor sich hin.
Celenas Anspannung, die der Kampf mit sich brachte, verflog. Dafür stellte sich der Hunger ein und ihre Müdigkeit kehrte flugs zurück.
Die halbe Nacht war vergangen und es war keine Zeit geblieben den Magen zu füllen, geschweige Schlaf zu finden. Möglicherweise befand sich in den Satteltaschen, die ebenfalls in dem Zelt lagen, Nahrhaftes.
Seit Tacio ihr das Pferd samt den Taschen überlassen hatte, hatte sie nicht einen Blick hineingeworfen. Sie hoffte innig, darin Essbares zu finden, denn ihr Proviant im Rucksack reichte nicht für drei.
Im Zelt zurück, kramte sie daher in den Taschen. Dabei fiel ihr das versiegelte Dokument in die Hände, welches der Meisterassassine hineingelegt hatte. Es trug das Wappen von Osgosai. Kurz starrte sie darauf.
Lutek, ihr Geliebter stammte von dort. Sie schüttelte den Kopf, um die aufkommenden Gedanken an ihn abzuwehren. Schnell steckte sie das Dokument zurück.
»Hat jemand Hunger?«, brüllte sie aus ihrem Zelt hinaus.
Sie durchforstete weiter die Taschen nach Essbarem und fand, was sie suchte. Mit gedörrtem Fleisch, Brot und sogar einer Flasche Met trat sie wieder hinaus.
»Keine schlechte Idee. Wir sollten zuvor die Sauerei vernichten, sonst würgen wir das Essen sofort wieder aus.« Terzios deutete über den Platz, als er die junge Hüterin mit ihrer Beute in der Hand im Zelteingang stehen sah.
»Ich hasse diese Arbeit«, knurrte Celena und blickte dabei finster auf die zerstreuten Leichenteile.
* * *
Die uralte Bergfestung der San-Hüter erhob sich imposant vor ihnen. Ihre Türme reckten sich wie drohende Wächter in den Himmel und glitzerten von dem Schnee, der auf ihnen lag. Ein wahrhaft stolzer Anblick, nicht jedoch für die Reisenden, die auf dem Weg dorthin waren.
Celena rutschte zum wiederholten Male in der Glätte der weißen Pracht aus. Fluchend darüber wünschte sie sich, ihre Stiefel wären mit besseren Sohlen versehen worden. Es war allerdings nicht das schlecht besohlte Fußwerk allein. Die gewichtige Rüstung tat ihr Übriges, die Schlitterpartie zu begünstigen.
Nach tagelangem Aufstieg gelangten sie endlich in den Hof der Wacht. Einige Männer eilten geschäftig hin und her, arbeiteten an der Schmiede oder sortierten Ware. Die Mehrzahl der hiesigen waren Nachfahren des einstigen Kommandanten dieser Festung. Händler und Schmiede. Sie hielten tapfer die Stellung in diesen abgelegenen aber standfesten Mauern und versorgten den im Innern arbeitenden Magier des Ordens mit Material.
Sein faltiges Gesicht mit der Hand vor dem beginnenden Schneefall schützend, blickte Terzios die kaum verwitterten Mauern hinauf.
»Als ob sich nichts geändert hätte«, murmelte er wie beiläufig und betrat die ersten Stufen zum Haupttor hinauf.
Wenig später huschte seine Begleiterin leichtfüßig an Celena vorbei. Sie war wesentlich leichter bekleidet als Terzios und fror seltsamerweise nicht. Auf der Treppe, die ins Innere des steinernen Riesen führte, hielt Sebyll kurz inne.
»Hoffentlich ist das hier keine Zeitverschwendung. Es ist ein wenig frisch hier oben.«
Beide Brauen auf Celenas Stirn bildeten einen zusammengefügten Bogen. Sagte diese Formwandlerin gerade "Frisch"? Das war wohl kaum der richtige Ausdruck für die Kälte, die gierig durch die Rüstung bis zu ihrer Haut durchdrang. Scheinbar machte es der blonden Erscheinung weniger aus als ihr. Ungewollt schüttelte es ihr.
Außer Atem kam ihnen der Quartiermeister Darius Leven, ebenfalls ein Nachfahre, entgegen. Er war es, der Celena mit der Nase auf die geschichtsträchtige Festung gestoßen hatte, in der Hoffnung seinen Namen reinwaschen zu können. Was ihm nur zur Hälfte gelang, nachdem sie erfahren mussten, was sich hier vor langer Zeit wirklich zugetragen hatte. Mit einem grüßenden Nicken trat die junge Hüterin auf den entgegenkommenden Mann zu.
»Und? Hat sich unser Magier zwischenzeitlich gerührt?«
»Ja, hat er.«
Darius gönnte sich eine kleine Verschnaufpause, bevor er weitersprach. »Allerdings dachte ich zeitweise, er wäre still verstorben. Bis ich vor einigen Tagen einen Brief von ihm erhielt. Ich muss mich entschuldigen, denn ich war nicht in der Lage ihn an euch weiterzugeben. Zudem hatte ich keine Ahnung, wo ihr euch zurzeit befindet.«
Celena nahm den Brief entgegen, welcher nicht mehr als ein gefaltetes Stück Pergament war. Ihre Augen sahen Darius fest an.
»Habt ihr ihn gelesen?«
»Es … es war ein Versehen«, stotterte er irritiert über ihren Blick.
Sie unterbrach den Händler mit einer Handbewegung, der daraufhin sofort schwieg. Celena blickte überrascht auf das aufgefaltete Pergament, auf dem mit handschriftlichen Buchstaben nur ein Wort verfasst war.
»Hat der Begriff "Schnell" irgendeine Bedeutung für euch?« richtete sie die Frage an ihre Begleiter.
Terzios schnaufte missfallend auf. Er beugte sich leicht über Celenas Schulter. Was ihm nicht schwerfiel, war er doch einen Kopf größer als die junge Frau vor ihm.
»Schnell bedeutet, wir sollten keine Zeit verlieren.«
Die vierköpfige Gruppe hasteten die restlichen Treppen zum Hauptportal der Festung hinauf und betraten nacheinander die Eingangshalle. Auf dem Weg zum Magierturm trat Celena an die Seite Terzios.
»Darf ich euch eine Frage stellen?«, erkundigte sie sich bei ihm.
»Ihr dürft mir gerne auch eine zweite Frage stellen. Nun denn fragt!«
»Ihr hattet dort draußen in der Wildnis erwähnt, dass es Geheimnisse unter den älteren Hütern gibt. Wie war das gemeint?«
Man merkte Terzios an, das ihm das Thema nicht unbedingt genehm war. Er holte tief Luft, bevor er zu reden begann.
»Die Tatsache, das Blut des Erzalten zu trinken ist solch ein Geheimnis. Aber um eure eigentliche Frage zu beantworten: ja! Es gibt wesentlich dunklere Geheimnisse. So wie jenes, welches ihr erst kurz vor eurem Kampf mit dem Erzfeind erfahren hattet. Das da hieß, das euer Leben zum Nutzen eines radikalen Sieges verkürzt wird. Oder, dass ihr unwiederbringlich vom Bösen verderbt seid und ihr euren Geliebten verlassen müsst, wenn die Zeit gekommen ist.«
Celena hielt unmittelbar in dem Raum an, welchen sie gerade durchquerten. Es wirkte aufgeräumter als vor zwei Jahren. Noch immer standen hier wurmstichige Regale, samt zerfallene Folianten herum.
Das graublaue Licht, welches durch die Riefen der Mauern kroch, bewirkten eine unausgesprochene Düsternis herauf. Sie legte sich in diesem Moment wie ein Mantel um Celena, denn Terzios hatte ihren wunden Punkt getroffen. Ihre Zähne mahlten knirschend aufeinander.
Er sah sie kurz an, bevor er weitersprach.
»Wenige unserer Brüder und Schwestern entdeckten das ganze Potenzial, welches in ihnen steckte. Doch die Ausschöpfung dieser Kraft brachte dummerweise mit sich, dass man schneller dem Bösen erliegt. Die so hochgepriesene "Rettet die Welt" Mission der Hüter ist nur ein theatralischer Nebeneffekt. Vielmehr geht es um Machtgehabe.«
Terzios lehnte sich mit grau-fahlem Gesicht an einem hölzernen Stützbalken. Er wirkte müde und die Stimme wurde eine Oktave leiser.
»Der Grund, warum wir uns in das dunkle Innere der Welt zurückziehen, wenn die Zeit gekommen ist, ist der, dass wir die eigene Boshaftigkeit in uns fürchten. Eher enden wir als Futter der "Anderen" als das wir uns noch tiefer in das Böse reißen lassen. Und doch gibt es einige, die auch dieses Potenzial voll ausnutzen.«
»Ich war der Meinung, dass die San-Hüter nicht zu einem der "Anderen" werden.«
»Nicht in ihrer Form. Ihr dürft eines nicht vergessen, wir haben das Blut des Erzgottes in uns. Sein Blut des abgrundtiefen Bösen. Nein, sie selbst sind noch gefährlicher als ein einzelner Horsock. Das Schlimme daran ist, sie wollen es nicht zugeben.«
Unwirsch schüttelte Celena ihr Haupt, sodass ihre langen schwarzen Haare durcheinanderflogen.
»Und wenn es so sein soll. Ich kann es nicht ganz nachvollziehen. Welchen Grund gibt es, dieses Potenzial erlangen zu wollen und vor allem wer würde …?«
Der Alte seufzte traurig auf.
»Ich kenne zwei. Mein Bruder Morco. Er hat einen Weg gefunden. Und der andere ist jener, zu dem wir gerade gehen wollen.«
Unruhiges Trommeln durchdrang die folgenschwere Stille. Sebylls Finger klopften auf das Holz eines Tisches.
»Ich denke, ihr könnt das später näher vertiefen. Erinnert ihr euch? Schnell? Das hat die Bedeutung, das wir uns sputen sollen.«
Terzios nickte. Sofort erwachte in dem alten Hüter neue Kraft. Er stieß sich von dem Balken ab und durchmaß den kleinen Raum mit wenigen großen Schritten bis zum Treppenaufgang. Ehe er die metallbeschlagene Tür aufstoßen konnte, hielt ihn Celena zurück. Ihr war eine für sie wichtige Frage eingefallen.
»Ihr habt vorhin meinen Geliebten erwähnt. Woher wisst ihr von ihm?«
»Haufenweise Fragen. Sie enden wohl nie.«
Überraschenderweise stellte sich Sebyll auf die Seite der jungen Hüterin. »Sie ist nicht gänzlich unberechtigt, alter Freund.«
Ein winziges Lächeln breitete sich über die Mundwinkel des Alten. Er wandte sich Celena zu.
»Schicksal ist - was man für ein Geschenk bereit ist zu geben.«
»Natürlich!« Celena zuckte verständnislos mit den Schultern.
»Was meint er damit?«, fragte sie daher Sebyll.
Die blondhaarige Frau blinzelte lächelnd.
»Alles was wir zuwege bringen, geschieht aus einem vorgegebenen Grund. Auch wenn wir darin im ersten Moment das völlige Chaos sehen, folgt es strickten Gesetzen.«
* * *
In seinen Studien vertieft, sah der uralte Magier der San-Hüter nicht auf, als Celena mit ihren neuen Begleitern den Turm betrat.
Seine hagere Gestalt, Körper und Geist nur noch von seiner Magie zusammengehalten, stand über dem hölzernen Tisch gebeugt. Die Robe befand sich in einem ähnlich jämmerlichen Zustand.
Alles in allem - ein Schatten seiner selbst.
»Das wurde auch Zeit«, schnarrte seine Stimme schrill und ungehalten herüber.
»Ich grüße euch, Adelus!« gab Terzios zur Antwort.
»Diese Stimme kenne ich doch!«
Der Greis wandte sich von seinen Studien ab und drehte sich zu seinen Besuchern um. Die Wiedersehensfreude im Ansatz erstickend, trat Celena einige Schritte auf den widernatürlichen Greis zu.
»Eure Nachricht deutet daraufhin, dass ihr etwas gefunden habt?«, fragte sie umgehend.
»Oh ja! Ganz und gar. Es ist ein Mittel um die Verworfenheit in uns einzukapseln. Mir fehlt nur eine kleine Winzigkeit. Eine einzige Ingredienz um es zu vollenden.«
Die schnarrende Stimme des Magiers überschlug sich regelrecht vor freudiger Aufregung.
»Einkapseln? Soll das heißen, es wird einen San-Hüter nicht heilen.« Celena verschränkte die Arme vor der Brust.
»Wieso sollte es das?« erstaunte sich der Greis.
Seine Arme nun ebenso verschränkt, deutete Terzios mit einem Nicken zu Adelus hin. »Genau das ist es, was ich meinte. Es geht nur um Macht und dem Erhalt desselbigen. Was als noble Idee begann, wurde in sich verderbt«, schnaubte er abwertend.
»Ich habe euch in all euren Ansichten stets unterstützt, werter Freund. Doch wir sind nun mal vergiftet. Nennt mir einen guten Grund, etwas ändern zu wollen, was nicht zu ändern ist.«
Der Ton des Greises erklang schriller, welcher sich mit der schon schnarrenden Stimme zu etwas Absonderlichen mischte.
Terzios Augen wurden zu gefährlich aussehenden Schlitzen.
»Die Wahrheit! Sie wäre Grund genug.«
»Ha«, stieß Adelus hervor. Er ergriff das am nächstliegende Buch und knallte es erregt zurück auf den Tisch. Staub wirbelte unverrichteter Dinge auf. »Wahrheit? Ist das alles?«
Celena mischte sich in das Gezänk ein.
»Die Lüge ist viel besser, nicht wahr? Sie ist wie eine weiche, warme Decke.«
Mit einer entschiedenen Handbewegung brachte sie jedwedes Widerwort, das sich zu erheben drohte, zum Verstummen.
»Wisst ihr, wer mir das einst gesagt hat? Thiamet selbst. Und sie hat recht. Die Lüge ist angenehmer und bequemer. Wahrlich, ich bin es leid! Ich bin es so leid bequem und warm unter einer Decke zu liegen und nicht mehr aufstehen zu wollen.«
Erleichtert über Celenas Ansicht, nickte Terzios bestätigend.
Adelus hingegen brachte einen leicht verächtlichen Ausdruck über seine Lippen. Er verstummte kurz, um dann mit nickendem Kopf hinzuzufügen: »Ihr habt eine würdige Schülerin gefunden, Terzios.«
Celena achtete nicht weiter auf den greisen Magier.
Neugierig besah sie sich den Arbeitsplatz, der mit einer Vielzahl von Fläschchen, Notizen und einer nicht zählbaren Menge an Tontöpfchen zugestellt war.
»Ihr erwähntet, dass euch eine Zutat fehlt. Welche ist es?«
Wieder auf seine wahre Begabung aufmerksam gemacht, drehte sich Adelus zu ihr um. Sein Gesichtsausdruck nahm eine mildere Form an.
»Die Tränke um primäre Vergiftungen zu heilen, werden aus einer gewissen Pflanze gewonnen. Sie ist sehr selten. Ich vermute, dass es genau diese Pflanze ist, die ich in Kombination mit meiner bisherigen Forschung benötige.«
Celena holte die Blume hervor, die sie bis eben unter ihrer Rüstung verborgen hatte. »Ist es solch eine?«
Sie hielt Adelus die Blüte mit den weißen Blättern und dem rötlichen Tupfer vor die Nase. In diesem Augenblick fiel ihr der Name dieser Pflanze wieder ein. Ihre blauen Augen leuchteten auf.
»Karmastes Gabe«, murmelte sie.
»Das ist es! Genau«, schnarrte er freudig.
Adelus nahm die Pflanze in seine spindeldürren Finger.
»Das ein so kleines, zartes Ding so viel Macht besitzen kann. Sie wächst vornehmlich auf toten Bäumen und auf Stein. Unbeachtet von allem! Unglaublich, oder?«
Die alten, trüben Augen des Greises wurden so groß wie die eines kleinen Kindes, welches sich über ein Geschenk freute.
»Richtig! Unbeachtet von allen, weil die Menschen die Macht stets nur im Großen sehen. Sie wollen nicht die Schönheit in den kleinen, unauffälligen Dingen erkennen, die der göttliche Schöpfer schuf«, kommentierte Sebyll vom Eingang her. Sie lehnte an einem Türbalken, offensichtlich nicht gewillt näherzukommen.
»Ignorante Narren«, knurrte sie verächtlich, bevor sie den Turm verließ.
Celena blickte überrascht von der schwindenden Gestalt der blondhaarigen Frau zu Terzios, der ein entschuldigendes Lächeln aufsetzte. Dann wandte sie sich wieder Adelus zu.
»Wie lange benötigt ihr für die Fertigstellung?«
»Mit Sicherheit kann ich es nicht sagen. Einige Tage werden es bestimmt. Nur, ich muss euch nochmals darauf hinweisen. Ich kann nicht versprechen, dass es die ersehnte Heilung bringt. Möglicherweise kann ich euch damit einen Aufschub verschaffen. Es ist zumindest eine bessere Methode als meine damalige.« Während er zu Celena sprach, betrachtete er fasziniert die Pflanze in seiner Hand.
Im Hinausgehen wandte sich Celena nochmals halb zu Adelus um. Sehnsüchtig sah sie an Terzios vorbei, direkt auf die Blume, die der alte Magier hielt. »Es ist Luteks Lieblingsblume«, flüsterte sie leise.
»Hm«, brummte der alte Hüter. »Seine Mutter liebte ihren Duft.«
In seinen Augen trat ein gewisser Ausdruck von Traurigkeit.