Читать книгу LULUS MISSION - Angelika Schaeuffelen - Страница 4

2

Оглавление

Als Lulu zu sich kommt, findet sie sich in einem riesengroßen, hellen Raum wieder. Sie hat das Gefühl, tagelang geschlafen zu haben, so erholt und energiegeladen fühlt sie sich.

Gebannt schaut sich Lulu um und reißt überrascht die Augen auf: Tausende kleine, spielende Kinder tummeln sich um sie herum.

Nicht weit von ihr, inmitten der Kinder, entdeckt sie einen Mann, der eine enorme Wärme und Freundlichkeit ausstrahlt. Lulu fühlt sich sofort zu ihm hingezogen.

Der Mann bahnt sich einen Weg zwischen den ausgelassenen Kindern hindurch. Dabei wendet er sich jedem Kind, an dem er vorbei kommt, mit einem freundlichen Wort, einem Kuss, einem Streicheln über die Wange und warmherzigen Lächeln liebevoll zu.

Lulu beobachtet ihn dabei genau. Sie schmunzelt, als sich ein kleines Mädchen in seinem vollen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen weißen Haar festkrallt.

Auf diesen Armen kann er bestimmt einen Haufen Kinder auf einmal tragen, denkt Lulu bei sich, als sie den kräftigen Oberkörper betrachtet.

Fast ist der Mann bei Lulu angekommen und da sieht sie auch sein Gesicht genauer. Die unzähligen Falten sprechen für ein beträchtliches Alter, doch die strahlenden, völlig ungetrübten Augen lassen das Gegenteil vermuten. Die Bewegungen des Mannes wirken jugendlich, seine Ausstrahlung gelassen.

Irgendwie zeitlos, sinniert Lulu vor sich hin.

„Hallo Lulu“, wird sie von ihm begrüßt. Die warmherzige Stimme dringt sofort in Lulus offenes Herz und sie schaut in tiefblaue Augen. Wie das Meer, empfindet Lulu, als sie in seinen Blick eintaucht.

„Wer bist du?“, fragt sie gespannt.

„Ich bin Custos, Hüter der verlorenen Kinder“, gibt er Lulu freundlich Auskunft.

Lulu schaut verblüfft über die Kinderschar und Custos erklärt: „Ich wache solange über diese Kinder, bis sie wieder zurück nach Hause geholt werden.“

„Wo ist denn ihr Zuhause?“, fragt Lulu mit verwundertem Blick auf die zahlreichen kleinen Wesen, deren Alter Lulu auf drei bis fünf Jahre schätzt.

„Jedes einzelne Kind hier gehört zu einem ganz bestimmten Menschen. Dort ist eigentlich sein Zuhause. Aber es ist diesem Menschen verloren gegangen und dadurch völlig schutzlos geworden. Ich passe auf jedes Kind auf, bis es von seinem Menschen wieder abgeholt wird. Dazu müssen sich die Menschen allerdings endlich mal auf die Suche nach ihren verlorenen Kindern begeben.“

Lulu ist erschüttert: „Das heißt, wenn die Menschen ihre Kinder nicht suchen, kommen auch die Kinder nie mehr nach Hause zurück?“

„Ja, genau so ist es, Lulu.“

„Und was passiert dann mit diesen Kindern?“, fragt Lulu mit großen Augen. „Wie lange kannst du denn auf sie aufpassen?“

Custos schaut Lulu jetzt ernst an: „Ich passe auf sie auf, bis sie sterben.“

Nach kurzem Nachdenken schlussfolgert Lulu mit unbehaglichem Blick auf die Kinderschar: „Das bedeutet, die Kinder können sterben, ohne je wieder nach Hause gekommen zu sein?“

„So traurig es ist, Lulu, leider ja.“

„Aber du passt doch auf sie auf! Wieso sterben die Kinder trotzdem?“

„Sie sterben“, erklärt Custos, „wenn der zu ihnen gehörende Mensch stirbt. Das kann ich nicht verhindern. Ich kann nur so lange auf sie aufpassen, wie der Mensch selber am Leben ist.“ Und als er den erschrockenen Blick Lulus sieht, fährt er fort: „Ja, Lulu, das ist traurig. Deshalb versuche ich ja auch, die Menschen daran zu erinnern, dass es da noch ein Kind gibt, das sie vergessen haben.“

Lulu kann es nicht so recht fassen: „Heißt das, die Menschen haben ihre Kinder nicht nur verloren, sondern auch noch völlig vergessen? Aber warum?“

„Am Anfang waren die Menschen noch oft unglücklich und haben ihr Kind gesucht und vermisst. Aber dann sind sie immer tiefer in die Fänge von Ego Puppenspieler geraten. Und der hat dafür gesorgt, dass sie ihre Kinder endgültig aus dem Gedächtnis verlieren.“

Lulu schaut Custos etwas verständnislos an: „Und wie gelingt es diesem Ego… - wie?“

„Ego Puppenspieler. Du meinst, wie es ihm gelingt, dass die Menschen ihre Kinder vergessen? Er lenkt sie ab. Du hast ja auch schon gemerkt, dass die Menschen manchmal wie von Sinnen herumeilen und gar nicht zur Ruhe kommen.“

„Ja!“, ruft Lulu aus. „Das konnte ich noch nie verstehen! Da steckt also dieser Ego Puppenspieler dahinter?“

Custos nickt. „Ganz genau, er ist es, der die Menschen antreibt, immer noch mehr zu arbeiten, um noch mehr Erfolg und Geld einzuheimsen. Es gefällt ihm ganz und gar nicht, wenn sich die Menschen von Musik, Kunst und Theater inspirieren lassen. Und so treibt er ihnen dies mit allen Mitteln aus.“

„Aber wie schafft er das?“ Lulu schaut jetzt äußerst gebannt zu Custos, auf dessen Stirn zum ersten Mal Sorgenfalten aufgetaucht sind.

„Ego Puppenspieler zieht die Menschen immer öfter in SEIN Theater, in welchem ER seine Puppen tanzen lässt. In diesen Theaterstücken werden jene Puppen zu Helden, die erfolgreich sind und denen es durch viel harte Arbeit gelingt, Macht und Geld zu erringen. Ruhm, Macht und Geld machen die Puppenhelden glücklich, jedenfalls in den Geschichten des Puppenspielers. Seine Theaterstücke haben immer das gleiche Happy End: Stets stehen die fleißigen, gehorsamen Puppen besser da als die faulen oder herumträumenden, die in seinen Geschichten als wertlose Nichtsnutze die Welt nur belasten und gefährden.“

„Ach so!“, ruft Lulu aus. „Und die Menschen eifern dann den Helden nach und stürzen sich wieder in die Arbeit?“

„Genau, so ist es, Lulu. Doch das ist längst nicht alles. Ego Puppenspieler arbeitet noch mit viel perfideren Tricks. In seinem Theater fängt er seine Zuschauer quasi als lebende Puppen ein. Während er diese in den Bann seiner Geschichten zieht, wirft er gleichzeitig seine Fäden aus, die wie unmerkliche Tentakel seine nichtsahnenden Zuschauer einfangen. Die klebrigen Fäden docken direkt an den Menschen an und bleiben an ihnen hängen, auch wenn diese nach Hause gehen.“

„Ach, daher kommt der Name Ego Puppenspieler?“

Custos nickt anerkennend: „Ja, Lulu. Weil er die Menschen wie Puppen tanzen lässt. Sie sind zu seinen Marionetten geworden. Wenn sich zum Beispiel einer von ihnen, einer uralten Sehnsucht folgend, endlich mal entspannt und ein bisschen Ruhe gönnt, zupft Ego Puppenspieler kurz am Faden und sein Marionettchen schreckt auf und macht sich wieder an die Arbeit.“

Lulu runzelt die Stirn: „Aber die Menschen könnten sich doch auch wehren. Warum gehorchen sie immer gleich, wenn Ego-Puppenspieler an ihrem Faden zieht?“

„Tja, Lulu, da hat der Puppenspieler mehrere Methoden auf Lager, aber eine davon ist besonders tückisch: Er lässt über seine Fäden Schuldgefühle in die Menschen krabbeln. Sie sehen aus wie kleine schwarze Nagetiere und besetzen zunächst die Gedanken der Menschen. Dann denken die Menschen zum Beispiel: Was sitze ich hier so faul herum. Ich habe doch noch so viel zu tun! Oder: Wie das Rosenbeet schon wieder aussieht. Ich muss unbedingt das Unkraut herausrupfen! Und wenn sie diese Gedanken ignorieren – was schon nicht einfach ist – krabbeln die Nagetierchen in die Eingeweide der Menschen und fressen sich Stück für Stück immer tiefer hinein, werden dabei immer dicker, verursachen erhebliche Magenschmerzen und nehmen ihnen manchmal sogar die Luft zum Atmen. Wer dies öfter durchgemacht hat, hört schon bald auf den ersten Gedanken und springt lieber mal schnell auf, um das Unkraut zu rupfen.“

„Das ist ja gruselig!“ Lulu schaudert es bei der Vorstellung.

„Das ist es wirklich, Lulu“, stimmt ihr Custos bei. „Von oben betrachtet sieht das Ganze wie ein riesengroßes Spinnennetz aus, in dem die Menschen hilflos zappeln. Und sie haben fast keine Chance, Ego Puppenspieler zu entkommen. Denn sobald sie anfangen, mal wieder ihrer Intuition zu folgen oder womöglich ihr Herz ein bisschen zu öffnen, zieht Ego Puppenspieler sie an seinen Fäden in sein Theater und treibt ihnen ihre Intuition oder Gefühlsduseleien, wie er es nennt, gründlich wieder aus.“

Bei diesen Worten fällt Lulu der ganze Schrecken der Nacht nach dem Konzert auf dem Parkplatz wieder ein.

Custos, der sieht, was in Lulu vorgeht, bestätigt: „Ja, Lulu. Dies genau ist die Erklärung für dein Erlebnis nach dem Konzert.“

„Aber warum macht dieser Ego Puppenspieler das denn alles?“, ruft Lulu aus. „Warum lenkt er die Menschen so ab, dass sie nicht mehr an ihre Kinder denken?“

„Ego Puppenspieler liebt es einfach, Macht über die Menschen zu haben. Er genießt es, die Menschen nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Und genau diese Macht würde er verlieren, wenn die Menschen ihre Kinder wieder zu sich zurückholten.“

Lulu schaut Custos etwas verständnislos an und so fährt dieser fort: „Weißt du Lulu, jedes Kind hier ist das ganz ursprüngliche, wilde und intuitive Wesen des Menschen, zu dem sie gehören. Ohne dieses Wesen sind die Menschen gar nicht komplett. Ihnen fehlt ein ganz wesentlicher Teil. Und wenn sich die Menschen endlich wieder mit ihrem hier gehütetem Kind, also ihrem ursprünglichen Wesen verbinden, gewinnen sie auch wieder ihre Lebendigkeit, Intuition und Kreativität zurück. Dann wissen sie selbst wieder, was sie wollen und haben keine Lust mehr, nach der Pfeife eines anderen zu tanzen. Und aus und vorbei ist es dann mit der Macht des Ego Puppenspieler.“

„Und warum sind diese Wesen hier alle so klein? Warum sind es alles Kinder?“

„Weil die Menschen ihr wildes, ursprüngliches Wesen meist schon im Alter zwischen drei und fünf Jahren verlieren.“

Lulu lässt ihre Augen über die vielen Kinder schweifen. Ein kleiner Rotschopf bahnt sich den Weg in ihre Richtung.

Custos läuft der Kleinen entgegen, nimmt sie liebevoll auf den Arm und flüstert ihr etwas ins Ohr. Das Kind legt seine Händchen rechts und links auf Custos` Wangen und gibt ihm einen lauten Schmatz auf die Nasenspitze.

Bei Lulu angekommen, stellt Custos sie dem kleinen Rotschopf vor: „Das ist Lulu. Sie ist gerade bei uns zu Besuch.“

Das Kind strahlt eine ungeheure Kraft und Lebendigkeit aus. Lulu begrüßt die Kleine mit einem fröhlichen „Hallo“ und schaut dabei in zwei große grüne Katzenaugen, die vor Vergnügen nur so glitzern. Das Mädchen sieht Lulu ebenfalls direkt in die Augen und Lulu kann sich nicht mehr aus diesem Blick lösen.

„Das ist Veronika“, hört sie Custos sagen, als sie gleichzeitig das Gefühl hat, in die Augen der Kleinen hineingezogen zu werden. Wieder wird sie von einem gewaltigen Sog erfasst und in derselben rasenden Geschwindigkeit, in der Lulu zu Custos befördert worden war, landet sie nun auf einem Felsen am Rande eines Gartenlokals.

Etwas benommen schaut sie sich um. Die Umgebung ist idyllisch: sanfte Hügellandschaft, dahinter die Berge.

„So geht das einfach nicht, Veronika!“, hört Lulu plötzlich eine Frau mit strenger Stimme rufen. Sie wendet ihren Blick und reibt sich erstaunt die Augen, als sie den kleinen Rotschopf Veronika fröhlich um einen Tisch hüpfen sieht.

„Setz dich jetzt sofort hin!“, befiehlt die junge Frau energisch. Doch das Kind ist so mit sich und seinem Spiel beschäftigt, dass es die Worte scheinbar gar nicht wahrnimmt.

Gebannt folgt Lulu dem Geschehen.

Neben der Frau sitzt eine ältere Dame, deren Stirn sich in strenge Falten legt. Sie schaut die jüngere Frau missbilligend an. „Das kannst du dir nicht bieten lassen. Von mir hättest du schon längst eine gefangen, hättest du dich in diesem Alter so aufgeführt wie Veronika. Sie muss endlich mal Grenzen gesetzt bekommen! Noch keine fünf Minuten hat sie bisher still gesessen und schau nur ihren Teller an. Einmal im Kuchen rumgestochert und das war´s!“

Die ältere Dame wendet sich mit ärgerlicher Stimme direkt an das Kind: „Schluss jetzt Veronika, setz dich an den Tisch!“.

Doch diese hat einen kleinen Hund entdeckt, und rennt freudestrahlend auf ihn zu.

Erzürnt steht die ältere Dame auf und zerrt Veronika unsanft zum Tisch zurück.

Die jüngere Frau fühlt sich sichtlich unbehaglich. Lulu hat das Gefühl, dass sie von der Situation überfordert ist.

Veronika hat inzwischen angefangen, wütend zu schreien. Sie reißt sich von ihrer Oma los und tritt ihr dabei gegen das Schienbein.

Die Unsicherheit von Veronikas Mama entlädt sich jetzt in Wut. Sie steht auf, packt Veronika und marschiert mit ihr in das Lokal direkt in die Toilettenräume.

Lulu läuft unbemerkt hinter den beiden her und beobachtet entsetzt, wie die junge Mutter wutentbrannt auf Veronika einschlägt. Sie würde so gerne einschreiten und der Kleinen helfen, aber intuitiv weiß sie, dass sie hier nur als Zuschauerin geduldet ist.

Die Mutter hat sich wieder etwas beruhigt. „Haben wir uns jetzt verstanden, Veronika? Wirst du jetzt brav sein?“ Ihr Tonfall ist versöhnlicher, aber nach wie vor streng.

Der kleine Rotschopf nickt schluchzend und in diesem Moment passiert etwas Seltsames. Aus Veronika löst sich ein Gebilde heraus. Es gleicht zunächst einem Schatten, doch schnell nimmt es konkretere Form an und sieht aus wie ein Abbild des Kindes. Wie eine Zwillingsschwester steht dieses kleine Geschöpf hinter Veronika. Fast gleichzeitig taucht plötzlich Custos auf und nimmt das Wesen sanft und behutsam in seine Arme.

Lulu ist zunächst froh über das Erscheinen von Custos. Doch dann beobachtet sie verzweifelt, wie dieser sich mit der kleinen Gestalt auf dem Arm entfernt. Ihr Blick wandert zu Veronika und es zerschneidet ihr fast das Herz, mit anzusehen, wie traurig und verloren sie da steht. Mit dem Verschwinden dieses Wesens, das eben noch Teil von ihr war, scheint sie gleichzeitig völlig ihrer Vitalität beraubt zu sein. Es kommt Lulu so vor, als wäre Veronika nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Die Mutter scheint eine Veränderung an ihrem Kind wahrgenommen zu haben und - plötzlich liebevoll - nimmt sie die Kleine hoch auf ihren Arm. „Jetzt sei noch ein bisschen lieb“, flüstert sie zärtlich und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. „Wir gehen ja bald nach Hause und dann darfst du toben.“

Veronika nickt folgsam. Kein Ton kommt mehr über ihre Lippen, als die Mutter sie wieder auf den Boden stellt, sie an der Hand nimmt und mit ihr zurück an den Tisch zur Großmutter eilt.

Zutiefst betroffen beobachtet Lulu, wie die kleine Veronika eine halbe Stunde lang brav auf ihrem Stuhl sitzt, ohne einen Muckser von sich zu geben.

Die Großmutter scheint zufrieden damit. Die Mutter wirft immer mal wieder einen verstohlenen Seitenblick auf ihre Tochter. In diesem Blick erkennt Lulu einerseits eine Genugtuung über den Erfolg ihrer Erziehungsmaßnahme, andererseits aber auch eine leichte Beunruhigung, eine unbestimmte Sorge.

„Vielleicht habe ich Veronika eben ein bisschen zu hart angepackt“, flüstert sie ihrer Mutter zu.

Doch diese schüttelt energisch den Kopf: „Ach was, dem kleinen Dickkopf musst du einfach ab und zu den Willen brechen. Sie tanzt dir sonst ein Leben lang auf der Nase herum.“ Und zu Veronika gewandt: „Jetzt schau sie dir an, wie lieb unser Schatz sein kann. Wir gehen jetzt gleich. Magst du unterwegs noch ein Eis, meine Kleine?“

Veronika nickt, ohne aufzuschauen. Folgsam folgt sie ihrer Mama und Oma zum Auto.

Nur Lulu weiß, dass soeben etwas Folgenschweres in Veronikas Leben passiert ist. Sie fühlt sich so elend, als hätte sie selbst einen Teil von sich verloren.

Erschöpft legt Lulu sich auf die Wiese und schließt die Augen. Doch dann fühlt sie sich sanft hochgehoben und spürt die wärmende und wohltuende Nähe von Custos.

Als Lulu die Augen wieder aufschlägt, sieht sie sein Gesicht über sich. Sie ist zurück in dem Raum mit den vielen Kindern. Neben Custos erkennt sie die kleine Veronika und schlagartig taucht die Erinnerung an das eben Erlebte wieder in ihr auf.

„Arme Veronika“, seufzt Lulu leise und fügt dann bekümmert hinzu: „Die armen Menschen!“ Über ihr Gesicht hat sich ein Schatten tiefer Traurigkeit gelegt. Sie schaut Custos direkt in die Augen und dieser sieht, dass Lulu auf ihrer kurzen Reise in die Vergangenheit Veronikas nicht nur verstanden hat, wodurch die Menschen ihre Kinder verloren haben, sondern auch, was ein solch schrecklicher Verlust für die Menschen bedeutet.

Noch immer die folgsame, ihres ursprünglichen Wesens beraubte Veronika vor Augen murmelt Lulu traurig vor sich hin: „Kein Wunder, dass Ego Puppenspieler so ein leichtes Spiel mit den Menschen hat.“

Custos nimmt Lulu zärtlich in den Arm. Nachdem er sie einige Zeit tröstend gehalten hat, sieht er sie eindringlich an. Lulu hat das Gefühl, dass er bis auf den Grund ihrer Seele schaut.

„Ich brauche deine Hilfe, Lulu.“

Als diese ihn erstaunt und fragend ansieht, fährt Custos fort: „Ich möchte dich zurück zu den Menschen schicken, damit du ihnen bestimmte Fragen stellst. Fragen, die sie wieder zu ihrem verlorenen Kind zurückführen. Und es ist außerdem deine Aufgabe, die Menschen so oft wie möglich dazu zu bringen, sich zu entspannen und Zeit zu nehmen, über ihr Dasein nachzudenken.“

Lulu wird es mulmig zumute. Das scheint ihr alles andere als einfach. Ihre Stimme klingt etwas kleinlaut. „Das heißt, ich soll die Menschen dazu bringen, nicht mehr diesem Ego Puppenspieler zu folgen?“

Custos Mund umspielt ein Lächeln. „So ist es, Lulu. Es geht allerdings nicht darum, die Menschen gegen ihr Ego aufzubringen, denn sie brauchen ihr Ego. Doch durch die zunehmende Macht des Puppenspielers ist das Ego einfach zu groß geworden. Seine ständig wachsende Gier nach Macht und Anerkennung hat die Intuition der Menschen nahezu völlig verdrängt. Ihr Herz, ihre Gefühle der Freude und der Liebe kommen viel zu kurz. Wie sollen die Menschen in diesem Zustand zu ihren verlorenen Kindern zurückfinden, die sich hier bei mir befinden. Sie verspüren ja nicht einmal mehr Sehnsucht nach ihrem ursprünglichen intuitiven Wesen. Es ist deine Aufgabe, Lulu, in den Menschen diese Sehnsucht wieder zu entfachen. Erinnere sie an ihre Träume, bringe sie zum Lachen oder auch zum Weinen, berühre ihr Herz!“

Lulu nickt nachdenklich und Custos sieht in ihren Augen, dass sie verstanden hat, worum es ihm geht.

So spricht er weiter: „Doch wenn du meine Welt verlässt, Lulu, und dich ganz in die Welt der Menschen begibst, verlierst du den direkten Kontakt zu mir. Deshalb wird uns Artemis als Mittlerin zwischen unseren Welten helfen. Du wirst sie gleich kennen lernen.“

„Artemis“, ruft Custos und Lulus Herz macht vor Freude einen Sprung, als sie eine Eule mit weit ausgebreiteten Flügeln über die Köpfe der Kinder herbeisegeln sieht.

„Oh, ich liebe Eulen!“, ruft Lulu begeistert, während sich Artemis auf ihrer Schulter niederlässt und liebevoll an ihrem Ohr knabbert.

Custos lächelt: „Eulen sind ja auch Grenzgänger zwischen den Welten, genau wie du, Lulu.“ Und als er die orangefarbenen Augen der Eule zusammen mit dem orangenen Mantel von Lulu betrachtet, lacht er: „Ihr zwei gebt ein hübsches Bild ab.“

„Artemis“, murmelt Lulu und streicht ihr sanft über das gelblichbraune, mit einer dunklen Marmorierung durchzogene Gefieder. Artemis hat ihre Federohren aufgerichtet, ein Zeichen ihrer freudigen Erregung. Lulu sieht direkt in ihre Augen und ist völlig eingenommen von dem tiefgründigen Blick der Eule. Wie Lulu selbst, scheint auch Artemis hinter die Kulissen zu schauen. Kein Wunder, dass sich Lulu und die Eule auf Anhieb auf tiefer Ebene verstehen.

Nachdem Custos die beiden eine Zeitlang beobachtet hat, ergreift er wieder das Wort: „Ich bin froh, dass du Artemis an deiner Seite hast, Lulu, denn deine Aufgabe ist nicht einfach. Vor allem musst du aufpassen, dass du Ego Puppenspieler nicht selbst in die Fänge gerätst. Früher oder später wird er auf dich aufmerksam werden und versuchen, dich einzuwickeln. Er ist sehr schlau und weiß genau, wo er seinen Faden ansetzt. Und du weißt ja, wenn er erst mal bei dir angedockt hat, wirst auch du zu einer seiner Marionetten werden. Also hüte dich davor, dass dir Ego Puppenspieler zu nahe kommt!“

Lulu wird es bei diesem Gedanken etwas bange: „Woran erkenne ich das denn, ich meine, dass mir Ego Puppenspieler zu nahe rückt?“

Custos Stimme wird jetzt eindringlich: „Es gibt zwei besonders wichtige Warnzeichen, Lulu: Wenn du anfängst, deiner Intuition nicht mehr zu trauen und wenn dir die Freude des Augenblicks verloren geht. Und achte auf Artemis. Wenn sie nicht mehr bei dir bleiben kann, obwohl du sie gerufen hast, ist dir Ego Puppenspieler bereits gefährlich nah. Also hüte dich, mein Kind. Wenn Artemis deinen Ruf nicht mehr vernimmt, ist es womöglich schon zu spät.“

Lulu bekommt eine Gänsehaut bei dieser Vorstellung, aber Artemis rückt etwas dichter an ihr Ohr und das macht ihr wieder Mut, sich ihrer Mission zu stellen.

„Du hast vorhin gesagt, Custos, dass ich den Menschen bestimmte Fragen stellen soll, um sie zu ihrem verlorenen Kind zurückzuführen. Was sind das für Fragen?“

Custos ist erfreut darüber, wie aufmerksam Lulu ihm zugehört hat: „Ein paar gebe ich dir mit. Aber dir fallen im passenden Augenblick bestimmt auch noch andere Fragen ein, welche die Menschen in ihrem Herzen berühren und den Weg zu ihrem verlorenen Kind öffnen. Ich vertraue da ganz auf deine Intuition. Also, du kannst zum Beispiel fragen:

Was würdest du verändern, wenn du wüsstest, dass du in einem Jahr stirbst?

Erfreust du dich an den kleinen Dingen des Lebens?

In was steckst du die meiste Energie?

Wie oft am Tag empfindest du Freude? Wann genau passiert das?“

Lulu geht die Fragen im Geiste noch mal durch, um sich möglichst alle zu behalten. Custos beobachtet sie dabei lächelnd. „Keine Sorge, Artemis wird dich unterstützen. Du musst dir jetzt nicht alle Fragen merken.

Ich werde dich nun wieder zu den Menschen zurückbringen, meine mutige Lulu. Hast du noch etwas auf dem Herzen?“

Lulu spricht aus, was ihr schon die ganze Zeit im Kopf herumspukt: „Wie soll ich denn an all die Menschen herankommen? Es sind so viele!“

Custos streicht Lulu zärtlich über die Wange: „Versuche einfach, so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Die Menschen, welche du im Herzen berührt hast, werden sich verändern, denn sie werden mit meiner Hilfe ihre verlorenen Kinder zurückholen. Und diese Menschen wiederum werden Einfluss auf die ihnen nahestehenden Personen nehmen und diese wieder auf ihre Familie und Freunde. Und auf diese Weise wird hoffentlich die Bedeutung des Puppenspielers so weit zurückgedrängt, dass er seine verheerende Macht über die Menschen verliert. Natürlich wirst du von Artemis und mir mit all unseren Kräften unterstützt.“

Dies ist der letzte Satz, den Lulu hört, bevor sie wieder zurück zu den Menschen befördert wird.


LULUS MISSION

Подняться наверх