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Wieso eigentlich der Wunsch nach einem Kind?

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Mit jedem Kind beginnt die Welt ganz neu. Hier wird ein Anfang gemacht, der all die Hoffnung und den Zauber in sich birgt, die Anfänge immer begleiten. Die Philosophin Hannah Arendt hat dies mit dem Begriff der „Natalität“ (= Geburtlichkeit) ausgedrückt, der die Fähigkeit jedes Neuankömmlings auf dieser Welt zum Ausdruck bringt, auf unüberbietbare Weise seinen persönlichen Lebensfaden in die großen Netze des Lebens einzufädeln4. Ein neugeborenes Kind steht symbolisch für diese Möglichkeit des absoluten Neubeginns und so ist es kein Wunder, dass der Kinderwunsch Hand in Hand mit Phantasien und Sehnsüchten geht, die sich – wie alle Wünsche und Sehnsüchte – wenig an der Realität orientieren. So manches an diesem Wunsch würden Psychotherapeuten wohl als Projektion bezeichnen. Nichtsdestoweniger ist der Kinderwunsch vermutlich einer der bedeutendsten und tiefsten Wünsche, die Menschen haben können. Er ist in gewissem Sinne die Sehnsucht nach dem Neuanfang der Welt im eigenen Leben. Natürlich gibt es weitere Gründe für den Kinderwunsch, und die folgende Liste beansprucht sicher keine Vollständigkeit und kann individuell fortgeführt werden: Da ist der Wunsch, Verantwortung zu übernehmen und etwas von dem weiterzugeben, was man selbst als wertvoll erlebt; da ist die Lust auf Zukunft, auf Neues, auf Entdeckungen aller Art und auf Abenteuer, die Lust auf Spiel und zweckfreie Freude. Wo in einer durchgestylten und durchgetakteten, oft zermürbenden westlichen Arbeitswelt lässt sich diese zweckfreie Freude noch erfahren? Kinder bringen Chaos und Anarchie ins Leben, aber eben auch neue Ideen, neue Entdeckungen und neue Ansichten. Sie kosten ihren Eltern den letzten Nerv, aber lehren sie viel über das Leben und über sich selbst. Gestresste Manager mögen teure Outdoor-Aktivitäten und Selbsterfahrungskurse buchen – Eltern bekommen dasselbe normalerweise gratis auf dem Spielplatz.

Insbesondere für Frauen spielt auch der Wunsch eine Rolle, sich selbst als „schwanger“ und damit als kreativ in einem nie gekannten Ausmaß zu erfahren. Ein verändertes Körpergefühl und die „Erdenschwere“ einer Schwangerschaft sowie das einmalige Gefühl, zumindest für einige Monate „Zwei-in-Einer“ zu sein, ist eine Erfahrung, die viele Frauen gerne machen möchten, vorausgesetzt, dass es ihnen gut geht und sie die Zeit der Schwangerschaft wirklich genießen können. Immer wieder berichten Frauen leider auch, dass sie als Schwangere zum ersten Mal wirklich explizit Beachtung und Zuwendung bzw. Respekt erfahren haben. Tatsächlich ist die Rolle der Mutter traditionell eine hochgeachtete Rolle, die manche Frau auf wohltuende Weise vergessen lässt, wie wenig geachtet und beachtet sie als Nicht-Mutter in Familie und Arbeitsplatz war. Kinderlose Frauen gelten zumindest in der deutschsprachigen Welt nach wie vor häufig als „karrieregeil“ und machtbesessen und diese Beurteilung ändert sich leider nur langsam.

Angesichts der vielen Facetten des Kinderwunsches wird klar: Die Sehnsucht nach einem Kind ist nie ausschließlich nur der Wunsch nach einem Kind um des Kindes willen – sozusagen zu seinem eigenen Wohl –, sondern selbstverständlich immer auch ein Wunsch der Eltern, der sich mit vielen anderen Wünschen verknüpft. Die Vorstellung, Kinder dürften ausschließlich nur um ihrer selbst willen gewollt werden, war und ist eine fromme Illusion. Früher wünschten sich auch in unseren Breitengraden Bauernfamilien viele Kinder, um für den anstrengenden Arbeitsalltag viele Helfer und im Alter eine Absicherung zu haben und der Wunsch nach Beistand im Alter spielt auch heute noch für viele Menschen eine Rolle, wenn sie sich Kinder wünschen.

Es gibt auch Motive für den Kinderwunsch, über die man durchaus nachdenken und diskutieren sollte: der Wunsch, eine kaputte Beziehung durch ein Kind zu kitten; der Wunsch, wenigstens einen Menschen zum Kuscheln zu haben; der Wunsch nach Macht und Kontrolle über jemanden, der zumindest zeitweise abhängig von den Erwachsenen ist; der Wunsch, ein kaputtes Selbstwertgefühl mithilfe der Selbstbestätigung durch ein Kind zu reparieren. Sich selbst solch fragwürdige Motive einzugestehen und die psychische Ursache für solche Impulse verstehen zu lernen, ist außerordentlich schwierig und ohne therapeutische Hilfe von außen fast unmöglich. Eine Klärung ist jedoch deshalb notwendig, weil ein kleiner Mensch weder Spielball noch Kuscheltier ist und – frei nach Kants Definition von Menschenwürde – nicht ausschließlich Mittel zum Zweck werden darf.

Mit solchen Gedanken verbunden ist eine wichtige Erkenntnis: Der Wunsch nach einem Kind ist nicht einfach vergleichbar mit anderen Wünschen. Es geht hier neben dem berechtigten Wunsch nach einem eigenen glücklichen Leben um eine weitere Person, die das eigene Leben zwar nachhaltig verändern wird, aber grundsätzlich auch ihrerseits und völlig berechtigt Ansprüche stellt und stellen darf. Diese Erkenntnis ist letztlich der Grund, weshalb man ethisch aus dem noch so großen Wunsch nach einem Kind noch kein Recht auf ein Kind ableiten kann.

Bevor diesem Gedanken aber nachgegangen werden soll, sei fürs Erste das Wohl von Paaren in den Blick genommen, die sich ein Kind wünschen. Wie zu Beginn dieses Kapitels gesagt: Der Wunsch nach einem Kind ist ein tiefer und ernster Wunsch. Es gibt gute Gründe, ihm Priorität einzuräumen und die Ethik spricht nicht umsonst vom Kinderwunsch als einem „primordialen Wunsch“, also einem Wunsch allererster Ordnung. „Sich Kinder wünschen“ ist etwas anderes als „sich gut kleiden wollen“ oder „immer etwas Gutes zu essen haben“. Der Kinderwunsch verweist auf tiefe Bedürfnisse, die vermutlich allen Menschen unabhängig von ihrer Kultur oder Herkunft eigen sind: Ein Kind verleiht einer Liebesbeziehung buchstäblich Ausdruck, lässt sie gewissermaßen Fleisch und Blut werden. Es bestätigt eine Liebesbeziehung und übersteigt sie gleichzeitig auf eine weitere Person hin; ein Kind verbindet die Reihe der Generationen und lässt seine Eltern zum Glied in der langen Kette des Lebens werden, die sich vom Gestern nach Morgen spannt; in einem Kind bleibt auf der Welt etwas von seinen Eltern zurück, auch wenn diese schon lange nicht mehr da sind. Es schenkt dem eigenen vergänglichen Leben daher einen tiefen Sinn, der in den Mühen des Alltags oft selten aufblitzt, aber nichtsdestotrotz vorhanden ist und von jedem, der sich Kinder wünscht, erahnt wird. So gesehen ist der Kinderwunsch in gewissem Sinne Ausdruck des Wunsches nach Unsterblichkeit.

Angesichts des bisher Gesagten ist es kein Wunder, dass Paare, die sich aus ganzem Herzen ein Kind wünschen und keines bekommen, in eine schwere und umfassende Krise geraten können, die an den Tiefen der Existenz rütteln kann. Sie betrifft die eigene psychische und möglicherweise auch physische Gesundheit und hat Auswirkungen sozialer und letztlich sogar spiritueller Art.

Eine besondere Schwierigkeit stellt dabei die Tatsache dar, dass sich die Erinnerung an den unerfüllten Kinderwunsch zumindest bei Frauen sozusagen körperlich im Takt einstellt. Die allmonatlichen Schmerzen der Menstruation erinnern in sehr eindrücklicher Weise an die nach wie vor existierende Leere im Bauch. Viele Ratgeber und Websites berichten von der Verzweiflung von Frauen, sich immer wieder aufs Neue bei der monatlichen Blutung dem Entrinnen des Lebens stellen zu müssen. Tatsächlich: Die Erfahrung ungewollter Kinderlosigkeit ist vergleichbar mit einer immer wiederkehrenden Erfahrung des Todes, ist die Erfahrung des „Nichts“, dem die meisten Menschen in ihrem Leben normalerweise und mit gutem Grunde sehr gerne aus dem Weg gehen. Wo „etwas“ sein sollte, ist „nichts“. Wo neues Leben wachsen sollte, wächst nichts.5 Die Pläne für ein schönes Leben mit einer Familie platzen alle vier Wochen erneut wie eine Seifenblase. Übrig bleiben Ohnmacht, Frustration, manchmal auch Zorn auf sich selbst und auf den Partner: Warum funktioniert nicht, was doch angeblich die natürlichste Sache der Welt ist? Wer ist schuld, er oder sie oder beide? Soll man oder frau „es“ einmal mit einem anderen Partner/einer anderen Partnerin ausprobieren? Und: Warum bekommen Leute Kinder, die offensichtlich dazu völlig ungeeignet sind? Leute, die ihre Kinder quälen und missbrauchen? Warum man selbst nicht? Gibt es irgendwelche verborgenen Ursachen – einen Gendefekt in der Familie, einen Defekt in der eigenen Psyche? Die Suche nach der Ursache kann qualvolle und selbstzerstörerische Züge annehmen.

Vor allem Frauen berichten von zunehmendem Zorn und sogar Hass auf den eigenen Körper: Wieso kann dieser Körper, in dem man sich bisher durchaus zuhause gefühlt hat, einem anderen kleinen Körper keinen Schutz und Geborgenheit bieten? Man bereitet sich doch auf die Möglichkeit einer Schwangerschaft vor, ernährt sich gesund, treibt Sport usw.? Wieso verweigert er eine Schwangerschaft und spült Monat für Monat nutzlose Keimzellen aus? Stimmt etwas nicht mit ihm? Liegt es etwa an der Beziehung, die zu Unfruchtbarkeit verdammt scheint?

Partnerschaften werden durch den unerfüllten Kinderwunsch in erheblichem Maße belastet und auf die Probe gestellt. Dies betrifft auch das Sexualleben von Paaren. Wo früher Intimität, Zärtlichkeit und Lust herrschten, regieren jetzt diverse Methoden und Instrumente der Fruchtbarkeitsmessung. Genauestens wird die Zeit des Eisprungs bestimmt, und selbstverständlich ist „Sex nach Plan“ nun an der Tagesordnung. Spontaneität ist hier ebenso wenig möglich wie die Erlaubnis zu Lustlosigkeit. Alles wird dem Diktat des Eisprungs untergeordnet. Sollte es „wieder nicht geklappt haben“, regieren Selbstbeschimpfung oder Zorn auf den anderen.

Meist errät die nähere Umgebung kaum, welches Drama sich hier abspielt, denn Paare mit unerfülltem Kinderwunsch reden nur selten über ihre Probleme und ziehen sich oft zunehmend zurück. Sie meiden Familienfeste, Kindergeburtstage anderer Kinder, manchmal sogar Schulen, Kindergärten, Spielplätze und Schwimmbäder. In der Psychologie wird heute diskutiert, inwiefern solche Reaktionen auf einen unerfüllten Kinderwunsch noch im Bereich einer erheblichen, aber doch nachvollziehbaren Trauerreaktion liegen oder ob sie als wirklich pathologisch und damit als medizinisch behandlungsbedürftig bewertet werden sollen. So existieren in der Literatur Versuche, ein „Child-at-all-cost-Syndrom“ anhand bestimmter Kriterien zu beschreiben, doch stellt sich die Frage, ob depressive Verstimmungen, sexuelle Unlust und sozialer Rückzug nicht einfach Formen der tiefen Trauer sind, die angesichts der oben beschriebenen Erfahrungen leicht nachvollziehbar sind. In der Hightechwelt Mitteleuropas und Amerikas fällt es vielen Menschen zunehmend schwer, mit Nichtgelingendem umzugehen.

Auch wenn man derartigen Debatten also skeptisch gegenübersteht, macht diese Diskussion doch deutlich, dass viele Paare mit dem unerfüllten Wunsch nach einem Kind kämpfen und Unterstützung bräuchten – nicht unbedingt in jedem Fall von einem Therapeuten, aber zumindest von guten Freunden, Bekannten und Verwandten. Die meisten Paare, die irgendwann über ihr Problem sprechen lernen, machen die Entdeckung, dass viele Menschen in ihrer Umgebung durchaus verständnisvoll und diskret reagieren. Allerdings gibt es auch die Spezies der „wohlmeinenden“ Ratgeber und Ratgeberinnen, die mit Artikeln aus Frauenillustrierten, ungebetenen Einschätzungen der Situation und zweifelhaften erotischen Unterwäsche-Geschenken die Lage eher verschlimmern als verbessern. Es bleibt also immer ein gewisses Risiko, wenn Paare sich als „unfreiwillig kinderlos“ outen, so wie letztlich jeder Mitteilung über sich selbst immer ein gewisses Risiko anhaftet, vor allem, wenn es eine Mitteilung über die eigenen Schmerzen und Verwundungen ist. Wem man seine Situation anvertraut, dafür gibt es letztlich kein Patentrezept.

In einer besonderen Situation befinden sich Paare, für die ihre Religion eine große Rolle spielt. Alle Religionen der Welt betonen die Bedeutung von Kindern, so auch das Christentum. Zumindest bei einer katholischen Trauung ist dezidiert in der Liturgie die Rede von den „Kindern, die Gott euch schenken will“. Was aber, wenn Gott offensichtlich keine Kinder schenken will? Die theologische schöne und sinnvolle Rede vom Geschenkcharakter des Lebens, die implizit und zu Recht Kritik an menschlichem Machbarkeitswahn enthält, kann hier unter Umständen vollkommen unbeabsichtigt eine destruktive Wirkung entfalten und zu einer tiefen spirituellen Krise führen. Die zumindest in den christlichen Kirchen häufig vorhandene pastorale Fixierung auf das Ideal der Familie und Elternschaft kann diese Krise unter Umständen noch verstärken. Mutter-Kind-Kreise, Krabbelgruppen, Familiengottesdienste und Mutter- bzw. Vatertagszeremonien machen unfreiwillig (und übrigens auch freiwillig) kinderlose Paare sehr schnell zu Außenseitern und Außenseiterinnen in der christlichen Gemeindewelt und tragen damit ungewollt zu ihrer sozialen Isolation bei. Mehr Sensibilität in Liturgie und Pastoral wäre gefragt.

Allerdings betrifft das Problem nicht nur das Christentum. Alle großen etablierten Religionen sind mit der Tatsache konfrontiert, dass es eine wachsende Anzahl von Menschen gibt, die – unfreiwillig oder auch ganz freiwillig – ein Leben ohne Kinder führen oder auch nach neuen Formen des familiären Miteinanders suchen, sich aber nach wie vor als Mitglieder ihrer Kirche oder ihrer religiösen Gemeinschaft begreifen. Hier sind derzeit gesellschaftliche Transformationsprozesse im Gange, die in ihrer Wirkung auf etablierte Religionen noch gar nicht absehbar sind. Die individuelle Vielfalt von Lebensformen wächst und angesichts des neuen Kunterbunts an Lebensentwürfen und Familienkonstellationen sind Religionen gefordert, auch in ihren jeweiligen ethischen Systemen Antworten zu finden, die jenseits fundamentalistischer Verengungen liegen.

Ein Kind um jeden Preis?

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