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Das schmutzige Mädchen

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Das schmutzige Mädchen

Thriller

„Die Sonne ist nicht nur schön warm, sie verbrennt dich auch“.

Das sagte meine Großmutter bevor sie starb. Sie war nicht mehr ganz bei Sinnen, dennoch waren ihre letzten Worte mehr als nur klar zu verstehen.

Sicherlich hatte sie etwas gefühlt, das schrecklich war.

Es gibt so eine Art Wahrnehmung, die ein Gefühl mit sich bringt, das unerträglich ist. Immer dann, wenn plötzlich etwas passiert, was das Leben extrem verändert, so arg verändert, dass es sein kann, dass danach gar nichts mehr stimmt, dann kommt diese Wahrnehmung.

Ich hatte sie damals als ich von der Leiter fiel, auch bei dem Überfall der Jungs im Wald. Und ich hatte sie als das Flugzeug eine Notlandung machen musste.

Ich hatte sie aber auch als man mir sagte, mein rechter Arm müsse amputiert werden und ich hatte sie als ich meine Großmutter sterben sah.

Aber zum allerersten Mal als ich dieser Wahrnehmung begegnet bin, da war ich noch ein unschuldiges Kind. Ich war gerade mal sieben Jahre alt, als ich mit Einem feststellte, dass ich als Mensch allein bin. Ich hatte ein Leben vor mir, das gerade erst begonnen hat und ein Vielfaches des bisherigen Daseins andauern wird.

Hast du das schon mal gefühlt? Hast du gewusst, dass du im Grunde völlig allein bist, weil es komplett egal ist, was um dich her passiert?! In deiner inneren Armut, in der Qual der Erkenntnis, dass dein Leben etwas völlig Isoliertes und Unvorhersehbares ist, kann dir niemand helfen. All die anderen Menschen um dich her sind nichts weiter als eine Kulisse. Sie sind dein Spielfeld, auf dem du mit aller Kraft auf das Ziel zugehst, Jahre lang, ein Leben lang.

Doch was ist das Ziel?

Es gibt kein Ziel für das eigene Leben außer allein den Tod.

Weshalb fürchtet man eigentlich den Tod? Er ist das Ziel! Wollen wir nicht ans Ziel? Jeder will seine Ziele erreichen, nur das wichtigste Ziel nicht.

Irgendwie weiß ich heute, dass das nicht stimmt. Wir wollen durchaus zum Ziel. Es ist nur so, dass unser fieser Schöpfer, uns reingelegt hat, indem er uns diesen Überlebenswillen in unsere Existenz eingepflanzt hat wie eine Art Haupt-Direktive. Es ist quasi unmöglich, diese Haupt-Direktive zu umgehen, das schaffen wirklich nur einige Wenige.

Auch ich schaffe das nicht, denn immer wenn ich dem Tod näher komme, dann taucht diese Wahrnehmung wieder auf, welche das Gefühl hervorruft, das derart unangenehm ist, dass man alles lieber tut als dieses Gefühl zu fühlen.

Was bleibt dir also, wenn du so Einer bist wie ich, der sich immer und immer wieder, beinahe täglich daran erinnert, dass das eigene Leben etwas ist, das dich zum Dauer-Einzelkämpfer macht?

Antwort: Ablenkung.

Du musst die Kulisse, die dich auf dem Weg zum Ziel umgibt, so gestalten, dass du derart unnachgiebig mit ihr und ohne dich selbst beschäftigt bist, dass keine Zeit zum Fühlen bleibt. Die Kulisse, vor allem die Menschen um dich herum, müssen dazu gebracht werden, dich zu jagen, dich zu quälen, dich unter Druck zu setzen oder auch dich zu lieben, Sex mit dir zu haben, deine Eitelkeit zu befriedigen, deine Wünsche zu erfüllen, deine Zeit zum Abenteuer zu machen.

Das Leben muss etwas sein, das dich völlig ablenkt von dir selbst. Das hat ungefähr diesen Effekt, als dass du das Singen einer Mücke nicht mehr hörst, wenn der Fernseher nur laut genug ist. Deine isolierende Existenz-Wahrnehmung, welche dieses unerträgliche Gefühl mit sich bringt, muss übertönt werden durch das handgreifliche Einwirken der Biomasse um dich herum.

Die Krönung der Ablenkung ist es, die Menschen deiner Ablenkung es nicht merken zu lassen, weswegen sie dir derart nahe treten dürfen.

Sie sollen denken, du tust es aus Liebe, aus reiner Liebe.

Doch das ist es nicht. Nichts ist Liebe. Die gibt es gar nicht. Denn wenn es die gäbe, dann gäbe es diese Existenz-Wahrnehmung nicht, und auch das damit verbundene unerträgliche Gefühl gäbe es dann nicht.

Es ist völlig egal, dass die anderen Menschen an Liebe glauben. Es ist auch völlig egal, dass es für die Anderen die Liebe tatsächlich gibt. Diese Tatsache macht dich nur noch einsamer, noch isolierter als alles, alles andere.

Schon als Teenager verstand ich es gut, eine Kulisse um mich herum aufzubauen, die mir keine Möglichkeit mehr ließ, meine Existenz zu fühlen. Ich spürte nur noch die Umwelt, es blieb mir keine Gelegenheit, mich selbst wahrzunehmen. Ich war jede Nacht unterwegs in den Kneipen, Discos und Bars der schmutzigsten Viertel der Stadt.

Was anfing mit harmlosen Tanz-Veranstaltungen, endete in täglichen Besäufnissen, Drogen-Exzessen und Sex-Orgien. Mein Körper fühlte die Kulisse als etwas derart Dominantes, dass meine eigene Gefühlswelt, das Nicht-Körperliche, völlig auf der Strecke blieb.

Sogar Schmerz und Gewalt empfand ich als eine gewisse Genugtuung, vor allem dann, wenn meine Freunde eine Pause von mir brauchten, dann mussten eben meine Feinde her, um die Ablenkung aufrecht zu erhalten.

Alles hat seine Grenzen, sogar ich musste eines Tages meine Grenzen erkennen. Damit hatte ich nicht gerechnet, muss ich sagen.

Eines Abends nämlich hatte ich eine derart schmerzhafte Begegnung nachts auf der Straße mit drei Männern, die mich wahrhaftig an meine Grenzen brachte.

Dieser Überfall war so sehr lebensbedrohend, dass ich gezwungen war, mein Leben mit aller Kraft zu schützen.

Angst vor dem Tod, dies war es was ich nun fühlte, ob ich wollte oder nicht. Deshalb lief ich davon, lief und lief durch die kalte Nacht, durch den blutigen Schnee und sprang.

Danach hatte ich immer wieder denselben Traum, in dem ich nackt durch die eiskalte Nacht lief. Ich sprang nicht in den Tod, ich wollte nur weg sein, unerreichbar für meine Verfolger. Was sie mit mir gemacht hatten war schrecklich. Ich war zu allem bereit, um zu verhindern, dass sie mich einfingen. Sie lachten über meine Flucht, genossen es, dass ich lief. Es hatte ihnen Freude bereitet, mich zu jagen, so nackt wie ich war. Erst hatten sie mir die Kleider vom Leib gezogen, dann hatten sie mich laufen lassen. Sie spielten ein Spiel mit mir, das ich gewann. Es war eine Genugtuung zu wissen, wie sehr sie sich darüber grämten, dass ich entkommen war.

Der Traum war jetzt an dem Punkt, da ich von der Brücke sprang. Doch ich sprang nicht. Ich wusste, in diesem eisigen Fluss lauert der Tod auf mich. Vielleicht würde ich ja noch leben, wenn die Kerle fertig wären mit mir. Ich sprang nicht, lief einfach weiter. Meine nackten Füße wurden nicht kalt auf dem Schnee, der Kampf ums Überleben hielt mich warm. Doch dann hatten mich die Männer eingeholt, fielen lachend über mich her, drückten meinen nackten Körper in den Schnee. Ich starrte entsetzt in die Augen des Mannes, der nun meine Hände auf den eisigen Untergrund drückte.

„Nein!“, schrie ich, wünschte, ich wäre gesprungen.

„Es ist ja alles gut, Sie sind in Sicherheit“, sagte eine unbekannte Stimme.

Ich öffnete die Augen, schloss sie wieder. Hier war alles so hell.

„Weniger Licht“, sagte der Doktor, „wir wissen nicht genau was mit ihrem Kopf los ist.“

„Versuchen Sie jetzt nochmal die Augen zu öffnen bitte“, sagte der Arzt zu mir.

Doch ich wollte nicht. Ich ließ sie geschlossen und tat so, als hätte ich ihn nicht gehört.

„Hören Sie mich, Frau Mertens?“, fragte er.

Ich antwortete nicht.

Einige Zeit später erwachte ich wieder, weil es mir nicht gut erging. Mir wurde immerzu übel, ich hatte Schmerzen, Durst und Herzrasen. Also öffnete ich die Augen. Um mich her war es stickig warm. Es waren allerlei unterschiedliche Geräusche zu vernehmen: Schnarchen, Stöhnen, Stimmen.

„Hallo“, rief ich in den Raum und versuchte mich aufzurichten.

Sofort lief jemand auf mich zu.

„Hallo Frau Mertens“, sagte ein Arzt. „Wie fühlen Sie sich?“

Nebenbei gab er der Schwester Anweisungen.

„Schlecht“, sagte ich.

„Na wenigstens haben wir Sie jetzt wieder bei uns. Sie waren beinahe drei Tage ohne Bewusstsein.“

„Drei Tage“, wiederholte ich.

Natürlich war ich bei Bewusstsein gewesen. Ich hatte nur geschwindelt, tat immer so, als würde ich schlafen, ich weiß nicht warum. Ich wollte wohl meine Ruhe haben. Doch dass es drei Tage waren, das glaubte ich diesem Mann schlicht und ergreifend nicht.

„Wissen Sie was passiert ist, Frau Mertens?“, fragte er und beobachtete meinen Herzschlag auf einem Monitor über mir.

Dann aber sah er mir sofort wieder in die Augen. Ich fühlte mich belästigt durch seinen Blick. Jetzt wusste ich wieder, weshalb ich diesen langen Schlaf simuliert hatte: Ich wollte sie nicht sehen. Weder die Ärzte, noch sonst irgendjemanden. Ich wollte niemandem mehr in die Augen blicken müssen.

Deshalb drehte ich nun den Kopf auf die Seite und schloss die Augen.

„Wissen Sie was mit Ihnen passiert ist vor drei Tagen?“, wiederholte er die Frage.

„Wo bin ich?“, fragte ich.

„In der Beobachtungs-Station des Krankenhauses München-Schwabing.

Sie sind vor drei Tagen um zwei Uhr nachts aus der Isar geborgen worden, ohnmächtig und unterkühlt. Sie hatten sehr viel Glück, dass Sie das überlebt haben.“

Ich bewegte meine Finger, Zehen, es war alles noch da. „mir ist also nichts passiert“, stellte ich fest.

„Nun ja, 'nichts' ist wohl nicht ganz passend, wir sind froh, dass Sie jetzt wieder bei Bewusstsein sind.“

„Werde ich irgendwelche Schäden davon tragen?“, wollte ich wissen.

„Sie werden ganz sicher wieder völlig gesund werden“, sagte er und griff nach meiner Hand.

Augenblicklich entriss ich sie ihm.

Drei Wochen später durfte ich endlich raus aus dem Krankenhaus. Zu Hause sollte ich noch sechs Wochen lang das Bett hüten. Ich hatte eine Gehirnerschütterung und eine Platzwunde am Hinterkopf, welche zugenäht wurde und durch einen Verband geschützt war. Meine Haare waren rund um die Wunde abrasiert. Was sonst noch übrig blieb an Kopfhaaren sah schrecklich dünn aus.

Mein Erscheinungsbild war abscheulich. Das Gesicht im Spiegel war weiß und aufgedunsen. Die Ärzte hatten mich mit Psychopharmaka und Kortison vollgepumpt, deshalb sammelte sich Wasser im Gewebe an. Außerdem hatten sie mich gemästet in dieser Klinik. Drei Mahlzeiten täglich, soviel nahm ich sonst niemals zu mir. Meine Kleidung war mir zu eng. Ich trug früher Größe 34/36, jetzt war es 38/40. Ich war nicht fett geworden, aber schlank war ich auch nicht mehr. Ich hasste mein Spiegelbild, meinen Körper, mich selbst. Seit dieser Sache war ich vollkommen aus dem Leben geworfen. Aus welchem Leben?

Mein Leben vor dem Überfall war nicht gerade solide. Oft begann ich den Tag mit einem Glas Wodka, den Abend schloss ich sehr spät mit vielen Drogen und Bier. Nun bekam ich die Drogen kostenlos vom Arzt verschrieben. Ja, dies war der Grund, weshalb ich überhaupt mitspielte bei diesen ganzen Therapien, die sie mir verordnet hatten, diese neurologischen Untersuchungen, überall stimmte ich widerspruchslos zu. Auch jetzt nach der Klinik hatte ich zwei verschiedene Therapien am Hals: Eine beim Neurologen, eine beim Psychotherapeuten. Ich wollte immer noch diese Pillen, deshalb ließ ich mich darauf ein. Ich bin eben verrückt nach Drogen, war ich immer schon.

Als ich nach der Klinik den ersten Tag daheim war, warf ich gleich mal das Valium ein, welches ich nur abends nehmen sollte. Ich liebe dieses Gefühl von Leichtigkeit.

Im Briefkasten war schon wieder ein Brief von der Polizei. Sie wollten mich seit Tagen dazu bringen, eine Aussage über die Täter zu machen. Sie waren sich sehr sicher, dass ich die Wahrheit sprach. Weshalb verdammt, kam eigentlich keiner auf die Idee, der Überfall wäre erfunden und ich hätte mich absichtlich, in Selbstmordabsicht, die Brücke hinuntergestürzt? Es glaubten mir die Psychiater meine Geschichte, sie wussten irgendwie, dass es die Wahrheit war.

Auf jeden Fall wollte die Polizei Phantom-Bilder der Täter bekommen. Bisher aber haben die Ärzte einen Besuch der Polizei bei mir verhindert. Jetzt war ich draußen, doch immer noch bettlägerig. Es kam sogar eine Haushaltshilfe, um mich zu versorgen.

Wahrscheinlich würde die Polizei vorbeikommen, jetzt kamen sie an mich heran.

Ich werde ihnen aber nichts sagen. Ich werde behaupten, die Kerle hätten Masken getragen oder es war zu dunkel, um sie zu sehen. Dabei wusste ich ganz genau wie der Kerl aussah, der mich geschlagen hat. Die anderen beiden, die mich festhielten, die habe ich mir nicht gemerkt. Doch der Kerl, der mir an den Kragen ging, den sehe ich immer noch vor mir. Dessen Gesicht könnte ich wahrscheinlich so genau nachzeichnen, als hätte ich ein Passbild von ihm. Ich werde den Beamten dennoch nicht helfen, nicht ich!

Ich hasse Polizei! Sie hatten mich in der Vergangenheit nicht nur einmal mitgenommen, eingesperrt, verhört, bestraft. Ja, normalerweise bin ich der Täter. Ich habe in meinem Leben schon so oft das Gesetz gebrochen und wurde immer überführt. Wenn dich des Nachts die Polizei aufgreift, dann wirst du nicht gerade nett behandelt. Du wirst gefesselt, geschlagen, unter Druck gesetzt, gedemütigt und wie Dreck behandelt. Jeder, der mal in deren Gewalt war, der würde vielleicht bestenfalls jemanden an sie verraten, um sich selbst wieder freizukaufen, aber er wird ihnen ganz bestimmt keinen Dienst erweisen.

Gut, sie hatten immer Recht, wenn sie mich erwischt hatten, die grünen Männer. Ich habe geklaut, Drogen genommen, Sachen beschädigt, Bullen beleidigt. Aber ich bin ein kleiner Fisch, oder? Ich bin eben so, dass ich nicht in den Rahmen passe, so bin ich nun mal, werde mich nicht ändern. Ich bin eine Klein-Kriminelle, die ganz sicher nicht mit der Polizei zusammenarbeitet. Deshalb muss man mich noch lange nicht wie Abschaum behandeln, denn das tun sie immer, die Staatsdiener. Ich bin nicht schlechter als die, denn ich zerstöre wenigstens nicht das Leben anderer Menschen, so wie die Polizei das tut, ständig. Nein, ich zerstöre nicht mal das Leben derer, die fast meinen Tod verschuldet hätten.

Das ist das Eine. Nur, dass meine Angreifer sich neue Opfer suchen können, oder gar mich selbst nochmal, das machte mir etwas zu schaffen. Wie wehrt man sich gegen solche Kerle ohne die Polizei? Keine Ahnung!

Als die Beamten zu mir in die Wohnung kamen, war Jessi, die Haushaltshilfe, auch da. Ich mochte Jessi, sie war jung und arbeitslos, ein Draufgänger also, so wie ich. Und ich brauchte sie. Den Fleiß hatte sie zwar nicht erfunden, aber sie versorgte mich mit Einkäufen, fuhr mich zu Doktor, tat all die Dinge, für die ich wirklich noch zu schwächlich war. Mehr wollte ich nicht, mehr brauchte ich nicht. Ich schrieb ihr immer alle acht Stunden auf, obwohl sie kaum zwei Stunden hier war, außer sie schlief vor dem Fernseher ein. Wir passten wirklich gut zusammen.

Sie hörte mit, als die Beamten mit mir sprachen. Ich belächelte es, wie sie plötzlich ganz fleißig anfing, Staub zu wischen.

„Wir brauchen unbedingt eine Täterbeschreibung von Ihnen, Frau Mertens“, sagte die Beamtin in Zivil.

„Eine Täterbeschreibung von mir“, entgegnete ich, „nun, ich bin 1,68m groß, schlank, braune Haare, einundzwanzig Jahre alt...“

„Frau Mertens! Möchten Sie denn nicht, dass die Täter gefasst werden? Wenn die sich neue Opfer suchen, und das werden sie...“.

„Ich sagte Ihnen schon, dass ich sie nicht gesehen habe!“, fuhr ich ihr ins Wort.

„Ich denke eher, Sie wollen uns nicht helfen“, meinte der Mann.

„Richtig“, sagte ich, „ich will der Polizei nicht helfen. Haben Sie mir je geholfen? Da ist es ja gut, dass ich Ihnen nicht helfen kann, so mache ich mich wenigstens nicht strafbar, wenn ich Ihnen nichts sage.“

Jessi lachte im Hintergrund, da schickten sie die Beamten aus dem Zimmer.

„Ich denke, dass Sie mehr wissen als Sie sagen.“, meinte der Mann.

„So, was denn?“, fragte ich.

„Sie kennen die Täter, nicht wahr?“

Nun starrte ich ihm überrascht ins Gesicht. Damit hatte ich nicht gerechnet. Das wollte ich keinesfalls auf mir sitzen lassen.

„Nein!“, rief ich aus, „Oder denken sie etwa, ich hätte diese Männer dazu aufgefordert, mich mitten im Winter auf der Straße auszuziehen? Weshalb denken Sie denn, bin ich von der Brücke gesprungen?“

Der Mann sah mich interessiert an. Endlich hatte er mich so weit: Nun sah ich den Kerl wieder vor mir, das Gesicht, das mich gewaltbereit und überlegen ansah, ein lüsterner Blick. Die schwarzen Augen wollten etwas sehen, etwas fühlen, Grenzen überschreiten, sie wollten töten...

„Frau Mertens?“, die Frau hatte nach meiner Hand gegriffen, ich hatte es nicht bemerkt.

Ich sah sie verzweifelt an, Tränen in den Augen. „Bitte!“, wimmerte ich diese Beamtin an, „Sie müssen mir glauben! Ich kannte diese Männer nicht, ganz und gar nicht! Sie haben mich mit einem Pfosten von hinten niedergeschlagen, mir die Kleider vom Leib gerissen, mir ins Gesicht geschlagen, begrabscht von allen Seiten. Sie haben mich hin und her geschubst, mir war schwindelig von dem Schlag auf dem Kopf, ich fiel zu Boden. Blut war im Schnee.“

Ich sah das Blut vor mir, den Schnee. Ich blickte auf, ins Gesicht des Mannes mit den schwarzen Augen. Sie nannten ihn Bast. Er grinste. „Nicht mehr ganz standfest heute?“, sagte er mit fieser hoher Stimme. Er hatte Freude an meinem Anblick, an meinem Schmerz und meiner Angst.

„Dann lief ich weg, fiel hin, stand wieder auf, sie folgten mir nicht“, fuhr ich fort zu berichten, „ich hoffte das wäre alles, es würde ihnen ausreichen, mich ausgezogen zu haben, doch sie ließen mir nur einen Vorsprung. Als ich bemerkte, dass sie mir alle Drei wieder folgten, da sprang ich in den Tod. Ich hätte es nicht ertragen, nochmal in ihre Gewalt zu kommen!“

„Doch das werden Sie, wenn wir die Täter nicht vorher finden. Zu Ihrer eigenen Sicherheit: Bitte arbeiten Sie mit uns zusammen! Geben Sie eine Täterbeschreibung ab! Wir können mit ganz wenigen Hinweisen ein Phantom-Bild erstellen und hätten die Täter in wenigen Tagen dingfest. Wer weiß wie viele Mädchen in der Zwischenzeit etwas Ähnliches durchleben mussten! Sie dürfen hier nicht schweigen, verstehen Sie?“

Ich blickte in die Augen dieses Beamten und wusste sofort wieder wo ich war, was geschehen war mit mir. Dann stützte ich den Kopf ab. „Aber ich habe doch gar nichts gesehen! Es war dunkle Nacht, sie trugen Masken, ich konnte ihre Gesichter nicht sehen!“, ich legte den Kopf in die Arme.

„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte die Beamtin.

Ich rief nach Jessi. Sie kam angelaufen. „Wir lassen den Doktor kommen“, sagte sie zu mir und half mir ins Bett. Dann brachte sie die Beamten zu Tür.

Sie nahm gerade das Telefon in die Hand, da sprang ich wieder auf. „Bitte nicht! Ich brauche keinen Doktor, ich wollte nur die Bullen loswerden!“

Jessi lachte. Dann setzte sie sich zu mir ans Bett: „Weshalb willst du eigentlich nicht, dass diese Gewalttäter gefasst werden? Kennst du sie wirklich?“

„Nein!“, rief ich aus, fuhr hoch aus meinem Bett.

„Schon gut!“, sagte sie, „ich meine nur, du wärst doch selbst auch sicherer, wenn sie gefasst wären.“

„Sie hatten Masken auf“, log ich Jessi an.

Bei der nächsten Sitzung wusste der Psychiater von meinem Zusammenbruch vor den Beamten.

„Es lebe der Informationsfluss“, bemerkte ich abfällig.

„Ich glaube einesteils, dass Sie mit den Beamten einfach nichts zu tun haben wollten. Bisher waren es immer Verhöre, wenn Sie von der Polizei befragt wurden. Sie möchten dem Feind keinen Trumpf zuspielen. Andererseits bin ich mir sicher, dass mehr Wahrheit in so einem Zusammenbruch steckt, als Sie sich selbst zugestehen. In meiner Praxis hatten Sie auch schon Zustände, bei denen die Bilder jener Nacht wiederkehren. Es gibt ein Bild, vor dem Sie erschrecken. Wenn die Erinnerung an diese beinahe tödliche Nacht zurückkehrt, dann kehrt dieses Bild zurück. Es ist das Gesicht des Mannes, der Sie töten wollte. Ist es so?“

Weshalb verdammt, kam das auf? Normalerweise bin ich ein guter Lügner. Mir glaubt man den größten Quatsch, warum nur dies nicht? Es wäre doch nicht unwahrscheinlich gewesen, dass die Täter Masken trugen, oder dass ich ihre Gesichter im Dunkel nicht erkennen konnte. Die anderen beiden Kerle habe ich auch gesehen und habe keine Ahnung wie sie aussehen.

Jessi hatte mir ebenfalls nicht geglaubt, sie wusste, dass ich weiß wie der Kerl aussieht.

Dennoch, ich verriet nichts, niemandem, ich blieb bei meiner Geschichte.

Zwei Wochen später hatte die Polizei ihr Phantom-Bild.

Nicht der Psychiater, der so gut über mich Bescheid wusste, sondern der dumme junge Psychologe war es schließlich, dem ich die Wahrheit sagte. Er riet mir, nur für mich selbst, das Gesicht des Mannes zu zeichnen. Er würde seinen Schrecken dadurch verlieren, sagte er. Und tatsächlich: Es half mir irgendwie, sein Gesicht als etwas zu sehen, das morgens wie abends da war. Man gewöhnte sich an den eigenen Wahnsinn im Gehirn.

Als aber die Polizei wieder da war, nahmen sie das Bild mit. Sie hatten es sofort als das erkannt was es war. Grund dafür war einesteils ich selbst, wie ich immer wieder einen Blick darauf warf, wenn ich von meinen traumatischen Ereignissen berichten musste. Zum anderen verriet der Hintergrund des Bildes den Tatort. Es war alles zu sehen was es damals dort gab: Das Blut im Schnee, die Brücke, der Mond mit dem Hof, sogar die Pflastersteine am Bürgersteig zeigten jedes Detail. Mein Gehirn schien eine Fotografie von Ort, Zeit, Menschen, Gefühlen angefertigt zu haben, die ich jederzeit 1:1 wiedergeben konnte.

Erst stritt ich noch alles ab. Doch dann durchstreiften die damaligen Ereignisse erneut meinen Kopf, ich konnte es nicht mehr leugnen.

„Na gut!“, habe ich dann gesagt, „er ist es! Vielleicht wird es ja wirklich besser, wenn er nicht mehr jeden Augenblick hinter mir auftauchen könnte.“

„Wenn er das täte, dann wäre er schon gekommen. Ich denke nicht, dass er es auf jemand Bestimmten abgesehen hat“, meinte die Beamtin beruhigend.

„Hoffen ist ewig.“, entgegnete ich und starrte auf das Bild in ihrer Hand.

Es war gut, dass es nun nicht mehr hier an meiner Wand hing, über meinem Bett thronte wie eine mächtige Bedrohung. Immer wenn ich das Gesicht sah, kamen diese Bilder wieder. Es war eine unlogische Idee dieses dummen Psychologen, mich mit dem Gesicht meines Peinigers täglich zu konfrontieren. Vielleicht ging es ja gar nicht um mich, vielleicht ging es ihm genau darum, dass die Polizei endlich ihr Bild bekommt. Möglich ist alles. Ich habe in meinem Leben gelernt, niemandem, absolut niemandem, zu trauen. Was er wirklich vorhat, das weiß man nicht. Vielmehr muss man an das Unwahrscheinlichste, Wahnwitzigste glauben, dann übersieht man zumindest nichts.

Natürlich wurde ich befragt, weshalb ich den Täter so massiv schützen wollte, man unterstellte mir noch immer, dass ich ihn kannte. Ein Schreiben meines Psychologen, der mich dazu gebracht hatte, das Bild anzufertigen, half mir schließlich aus der Patsche.

Warum das alles? Weshalb habe ich nicht gleich ausgepackt? Dann hätte ich schon längst meine Ruhe jetzt! Ich hasste die Polizei mehr denn je. Sie wurden lästig, mehr noch als wenn, wie schon so oft, ich selbst der Täter war. Langsam wurde ich unruhig. Den Vorwurf, ich sei mit schuld, wenn der Täter nicht gefasst wurde bevor er sich das nächste Opfer sucht, musste ich mir wohl gefallen lassen. Ich kam zu dem Schluss, dass die Lösung des Problems nicht die gewesen wäre, gleich auszupacken, sondern dieses verdammte Bild nicht zu zeichnen.

Doch ich Idiot fertigte ein weiteres Bild dieses Gesichtes an. Das Bild war anders als das erste. Die Erinnerung daran verblasste nicht, doch das zweite Bild zeigte weniger Realismus, dafür mehr Gefühl. Ich hatte meinem Angreifer Augen gegeben, die sich erbauen am Leid des Betrachters, welche dich lüstern und gewaltvoll anstarren. Das hatte ich gut hinbekommen. Genau so sah ich seine Augen in der Nacht.

Christian, mein Psychologe, sah sich das Bild sehr lange an. Ich beobachtete ihn dabei. Er war ein Fuchs von Psychologe. Dabei hatte ich ihn anfangs überhaupt nicht ernst genommen. Dieser Kerl wusste viel zu viel von mir. Niemand sonst wusste was ich liebe, was ich fürchte, worunter ich leide und woran ich mich erbaue. Er verstand mich ganz und gar. Weshalb tat er dies? Wie war es dazu gekommen? Er machte seine Arbeit an mir, ohne dass ich es bemerkt hatte.

Diese Tatsache machte mich ein wenig wütend auf ihn, doch er hatte ja Verschwiegenheit geschworen. Er würde mich nicht verraten oder etwas gegen meinen Willen tun, soweit kannte ich ihn schon.

Das Schlimme an ihm aber war der Grund weshalb er so viel über mich wusste: Es war sein Beruf. Ich hasste nicht ihn, aber ich hasste mich dafür, dass es ihm gelungen war, mich zu öffnen.

Nach einiger Zeit gewöhnte ich mich daran, das Bild meines Peinigers nicht mehr über meinem Bett, wohl aber in allen möglichen Nachrichten-Medien zu sehen. Die Polizei hatte eine Groß-Fahndung aus dieser Sache gemacht, aus meiner Sache! Ohne mich zu fragen! Sie ließen mir keine Wahl: Vorbei war es mit meiner Schonfrist, nun waren die Beamten auf Verbrecherjagd, egal ob dies dem Opfer nun passt oder nicht.

„Ich zeige ihn doch gar nicht an!“, schrie ich ins Telefon als ich mich darüber beschwerte, dass auch mein Passbild neben dem seinen überall zu sehen war. Das Opfer und sein Täter, welch ein schönes Paar!

„Hier geht es nicht um Zivilrecht, sondern um Strafrecht. Der Mann ist gefährlich und wird sich neue Opfer suchen, wenn er nicht aufgehalten wird!“, erklärte man mir.

Doch dann kamen sie wieder auf mich zu. Dass ich mich so wehrte gegen die Verfolgung des Täters, machte sie immer wieder stutzig. Auch wenn der Psychiater in seinem Gutachten etwas anderes sagte, die Kriminalbeamten zweifelten immer noch daran, ob ich wirklich nur das Opfer bin. Klar, natürlich hatte ich mir das nicht ausgesucht, dass ich mitten im Winter von drei Männern geschlagen, ausgezogen, gequält wurde. Doch es könnte ja sein, dass ich die Männer tatsächlich kenne, sie vielleicht irgendwie provoziert hatte und mich deshalb schuldig fühle. Es könnte sein, so etwas kannten die Kriminalbeamten schon, dass sich das Opfer als Täter fühlt, weil es der Ansicht ist, es hätte sich den Überfall selbst zuzuschreiben. Dies wiederum hätte die Kriminalisten viel schneller zu den Tätern geführt als es jetzt der Fall war.

Denn der Mann auf dem Bild war niemandem bekannt. Keiner wusste, wer er war, nirgendwo war dieses Gesicht zu finden. Man vermutete, er käme aus dem Ausland. Ich hatte zwar gesagt, er hatte keinen Dialekt, sprach völlig klares Deutsch, doch ich könnte ja auch lügen. Sagte ich nicht auch, ich hätte sein Gesicht nicht gesehen?

Trotz des Misstrauens orientierte sich die Polizei doch völlig an mir. Dass ich immer nur von dem einen Mann sprach, obwohl es drei waren, brachte die Beamten dazu, auch nur nach diesem einen zu suchen. Der Rest war nahezu nebensächlich. Weshalb nur? Wer ist schlimmer, der zuschlägt oder der festhält? Die anderen beiden Täter hatten mindestens dieselbe Schuld an der Sache als der Kerl, der mir ins Gesicht schlug. Doch die hatte ich nicht gesehen, nicht gehört, nicht gefühlt. Ich hatte keine Erinnerung an sie, immer nur sah ich den Mann auf dem Bild vor mir. Grund war wohl, dass nur er mit mir sprach. Die anderen beiden waren seine Handlanger.

„Haltet sie fest!“, hatte er gesagt, sie taten es.

„Jetzt zieh 'n wir sie aus“, sprach er, sie taten es.

„Werft sie zu Boden...“

Ich lief davon. „Gebt ihr Vorsprung, wir wollen die Sache noch etwas auskosten“, sprach er, sie taten es und es rettete mich vor ihnen.

Die anderen beiden Kerle sprachen nicht, taten nur was man ihnen sagte. Sie waren keine Täter, denn sie vollbrachten keine Taten. Doch sie waren Menschen, die funktionierten wie Marionetten, ohne Wenn und Aber, auf Leben und Tod. Der Täter auf dem Bild lebte seine gewaltgierigen Gefühle aus. Seine Helfer aber hatten keine Gefühle, sie waren gefühllose Maschinen, die handelten nach Anweisung ohne selbst zu denken, gerade so wie Polizisten.

„Ich glaube nicht, dass Sie die Täter schützen wollen, Sie möchten uns nur nicht helfen, nicht wahr? Sie hatten bisher keine positiven Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Vielmehr verhielt sich die Polizei Ihnen gegenüber immer so, wie Ihre Gewalttäter: Sie jagten sie, fingen Sie ein und nahmen Sie mit. Weshalb sollten Sie uns Polizisten als etwas sehen, das Ihnen helfen will?“, sagte der bullige Beamte, der eben erst den Raum betreten hatte. Die Beamtin und ihr Kollege sahen sich etwas verwundert nach ihm um.

Seine braunen Augen blickten provokant in die meinen, er schmunzelte ein wenig.

„Ach, jetzt kommt der gute Bulle. Wie ungewöhnlich, in der Regel ist es eine Frau.“, entgegnete ich.

Die drei Kriminalbeamten sagten nichts dazu, sahen mich nur an. Ich fühlte mich belagert, in die Enge getrieben und fing zu schwitzen an. Dies roch man ein wenig, es war mir unangenehm. Drei waren mindestens einer zu viel.

Nun kam der Neue auch noch näher, der gute Bulle, setzte sich vor meine Nase auf die Tischkante.

„Oh, Verzeihung! Was kostet es denn, wenn man Bulle sagt? Los sehen Sie im Computer nach! Aber ich muss Ihnen gleich sagen, ich werde das Bußgeld nicht auf einmal zahlen können.“, plapperte ich, um meine Unsicherheit zu verbergen.

Die Beamtin war aufgestanden, machte Platz für den Mann, der auf dem Tisch saß. Der andere Polizist im Hintergrund nahm sie am Arm und verließ gemeinsam mit ihr den Raum. Das war noch bedrohlicher als wenn alle drei geblieben wären. Was verdammt wollte dieser Kerl? Für einen Polizeipsychologen war er zu provokant, für einen Oberinspektor zu jung.

Er rückte den Stuhl nach vor, setzte sich direkt vor mich, sodass sich unsere Knie berührten, ich wich zurück.

„Nur keine Angst“, sagte er und wollte mich am Arm anfassen, auch hier wich ich aus.

„Für unsere Kronzeugen haben wir einen ganz speziellen Rabatt in Sachen Beamtenbeleidigung. Außerdem kann man für den Ausdruck 'Bulle' allein noch gar nichts verlangen. Da müssten Sie schon 'Scheiß-Bulle' oder 'Bullen-Schwein' verlauten lassen.“

„Ach, wie lustig“, meinte ich lässig.

„Außerdem dürfen wir Sie gar nicht festhalten. Ein traumatisiertes Opfer dürften wir im Grunde gar nicht hierher einladen. Sie hätten nicht kommen müssen, wussten Sie das?“, fragte er.

„Nein!“, sprach ich verwundert, „ich wurde zu dieser Befragung offiziell vorgeladen.“

„Was Sie offiziell ablehnen hätten können“, sprach er.

„Dann darf ich jetzt wohl gehen!“, entgegnete ich und stand auf.

„Dürften Sie, wenn Sie wollten.“, sagte er, schmunzelte.

Er trug keine Uniform. Im Gegenteil: Er hatte Jeans an, einen Nieten-Gürtel, schwarzes T-Shirt und Lederjacke. Er ermittelte wohl verdeckt, wahrscheinlich hatte er normalerweise in der Szene zu tun. „Sie vermuten jetzt, es ging um einen Drogendeal; die Kriminalpolizei denkt, deshalb wollte ich, dass die Täter unerkannt bleiben“, schoss es mir durch den Kopf.

Ich stand auf, ging auf die Tür zu, doch der Bulle stand auch auf, eilte zur Tür, versperrte mir den Weg.

„Hey!“, beschwerte ich mich, griff ihn an.

Doch plötzlich ließ ich wieder ab von ihm. Ich hatte vergessen wo ich war, wer er war. Es war mir, als wäre ich in gewohntem Umfeld, früher, vor dem Unfall. Ja, da war es noch spannend, mich mit den Männern anzulegen, die sich in den Weg stellten, wenn ich weg wollte, sie aber nicht wollten, dass ich gehe.

„Bevor du gehst:“, sagte er ernst, griff nach meinen Händen, „ich denke, dass das nächste Opfer deines Gewalttäters niemand anderer bist als du!“, rief er aus.

„Lassen Sie mich gehen!“, schrie ich ihn an.

An die Tür, welche er mit seinem Rücken versperrte, wurde von hinten geklopft. Seine Kollegen riefen ihn, sie waren nicht einverstanden mit seinem Verhalten.

„Er hat nicht bekommen was er wollte und du hast ihn an die Polizei verraten. Er wird sich rächen.“, erklärte der Mann eindringlich.

„Lass' mich los!“, rief ich verzweifelt und versuchte mich von seinem Griff zu befreien.

Das Trommeln hinter seinem Rücken wurde immer heftiger.

Er ließ mich los, ich wich nach hinten zurück.

„Bevor du jetzt durch diese Tür gehst, wollte ich nur, dass du es weißt. Sie wissen es alle!“, er deutete mit seinem Blick auf die Menschen hinter der Tür.

Nun wurde ich ruhiger, ich hatte die Befürchtung, es könnte die Wahrheit sein, was er sagt.

„Sie wollen dich nur nicht belasten damit, aber so ist es. Jeder, der nur einen Funken von Kriminologie versteht, weiß, dass der Täter sich mit seiner Niederlage bei dir nicht zufrieden geben wird. Wir reden jeden Tag darüber, dass ein weiterer Übergriff auf dich sehr wahrscheinlich ist. Deshalb wirst du auch überwacht.“

Nun glaubte ich ihm wieder nicht ein einziges Wort. Er wollte mich nur einschüchtern, denkt ich weiß mehr über den Täter als ich zugebe, es ist eine List. Wie dumm und primitiv diese Ermittler doch vorgehen!

„Ich kann aber nicht mehr über den Täter sagen als Sie schon wissen. Ich habe verdammt nochmal wirklich schon alles gesagt, was ich weiß. Selbst wenn ich es wollte, ich könnte Ihnen nichts über den Täter sagen, was Sie nicht schon wissen! Ich kenne ihn nicht! Verstehen Sie das doch endlich!“, rief ich nun lautstark und verzweifelt aus.

„Was denkst du, ist er für ein Typ von Mensch?“, fragte er weiter.

„Wie bitte?! Soll das ein Witz sein? Sehr komisch! Außerdem wüsste ich nicht, seit wann wir per Du sind! Lassen Sie mich jetzt endlich gehen!“, schrie ich ihn lautstark an.

„Ich meine Folgendes: Nehmen wir mal an, er hätte Ihnen etwas weniger Schlimmes angetan. Nehmen wir mal an, Sie hätten einen Rechtsstreit mit ihm. Er hat Sie mit dem Auto angefahren, behauptet aber, Sie wären ihm vors Auto gelaufen. Nun müssten Sie sich vor Gericht verteidigen gegen seine Behauptungen. Wie würden Sie vorgehen?“

„Lassen Sie mich gehen jetzt!“, rief ich aus.

Er hatte nach meinen Armen gegriffen, drückte meine Oberarme schmerzhaft zu.

„Aua!“, beschwerte ich mich, „Sie tun mir weh!“

„Das scheinst du doch zu mögen, wenn dir jemand Schmerz zufügt oder warum riskierst du freiwillig erneut den Tod?“, fragte er und riss an mir.

Plötzlich fühlte ich Schmerzen und Angst. Dieser Mann wollte mir Angst machen, warum nur? Mein Blick war verzweifelt, er ließ mich los. Erschrocken wich ich zurück.

„Du musst dich schützen lassen, verstehe das endlich! Warum kapierst du das nicht?“, sagte er, lässig an der Tür lehnend.

Ich überlegte einen Moment lang was hier passierte. Es war höchst ungewöhnlich, wie sich dieser Polizist verhielt. Vielleicht sollte ich mich auch so verhalten.

Dann lief ich auf ihn zu, wollte ihn von der Tür wegschieben oder gegen die Tür schlagen, damit seine Kollegen ihn zur Vernunft bringen. Da wich er auf die Seite, ließ mich vorbei. Er wollte mir seine Karte geben, doch ich schlug sie ihm aus der Hand.

„Scheiß-Bulle“, sagte ich und lief nach draußen.

„Deinen Mut möchte ich haben“, rief er mir abfällig nach.

Die Beamtin von vorhin fragte mich besorgt nach meinem Wohlbefinden, wollte mich unbedingt nach Hause bringen, doch ich wollte nur noch weg von allem was mit Polizei zu tun hat.

Ich erzählte Christian von dem Vorfall bei der Polizei.

„Ich glaube auch, dass das nur ein Trick war. Ich verstehe nur nicht, dass der Beamte etwas Derartiges einfach mit dir machen kann. Also legal war das nicht.

Du könntest ihm eine Dienstaufsichtsbeschwerde aufhalsen wenn du willst und würdest gewinnen.“, erklärte er.

Es schien ihn selbst zu verärgern, dass der Polizist mir derart Angst machen wollte.

Ich versuchte die Sache einfach zu vergessen.

Ein Gutes hatte es wenigstens: Die Polizei konnte mir gar nichts mehr. Dank dieses Mannes, dessen Namen ich nicht mal kannte, wies ich die Beamten fortan strikt ab.

„Sie dürfen mich nicht zwingen zu diesem Gespräch, ich kenne meine Rechte“, sagte ich immer, wenn sie vor meiner Tür standen. Auf einen weiteren Brief mit einer Vorladung zur Befragung antwortete ich per Einschreiben mit demselben Satz. Es funktionierte, sie gaben immer nach.

Als die Beamtin von damals am Telefon sagte, so etwas würde nicht mehr vorkommen wie damals in der Inspektion mit dem Kollegen Koffner, wurde ich hellhörig.

„Der Polizist, der mich gegen meinen Willen festgehalten hat?“, fragte ich nach.

Ich wollte seinen Namen wissen. Vielleicht hätte ich doch die Karte nehmen sollen. Es ist immer gut, wenn man weiß mit wem man es zu tun hat.

„Nun ja, Herr Koffner wollte Sie nicht gegen Ihren Willen festhalten, er wollte Ihnen nur etwas begreiflich machen, bei dem Sie immer gerne weg hören.“

Er war es also, Koffner hieß er. Ich googelte ihn, fand ihn aber nicht. Er tauchte nirgendwo auf, kein Koffner in ganz Deutschland wohnte in der Nähe, war so alt wie er oder sah auch nur annähernd so aus. Er war dasselbe Phantom wie mein Attentäter.

Das schmutzige Mädchen

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