Читать книгу Das schmutzige Mädchen - Anita Egger - Страница 4

Der Täter

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Drei Monate später hatte ich Koffner längst vergessen. Er war ein übereifriger Bulle, der mir ein Geständnis entlocken wollte, das es gar nicht gab, das war alles. Wenn er ein nur halb so schlauer Kriminologe war, wie er von sich glaubte zu sein, dann hätte er sicher gewusst, dass ich keine weiteren Fakten kannte, als jene, die ich gesagt hatte. Durch meine anfängliche Verschwiegenheit bezüglich des Täters hatte ich mich unglaubwürdig gemacht. Vielleicht hätte ich doch von Anfang an die Wahrheit sagen sollen, in diesem Fall wäre es einfacher gewesen.

Meistens ist es aber nicht einfacher. Typen wie ich machen eben immer etwas falsch. Bei allem was ich sage und tue ist mindestens eine Komponente dabei, die polizeilich oder auch nur gesellschaftlich verboten ist.

Gott sei Dank aber hatte Koffner gelogen, als er davon sprach, ich würde überwacht werden. Denn sonst hätten die Bullen wieder jede Menge Gründe gehabt, mir das Leben schwer zu machen. Sie hätten gesehen, wie ich jeden Abend meinen Joint rauche, mein Diebesgut aus den Innenfächern der Jackentasche im Kühlschrank verstaute, wie ich mir am Computer Sex-Filme auf meine Festplatte lud und mit einer Geldwäsche-Firma Geschäfte tätigte. Und dann hätten sie noch Dinge gesehen, die sie überhaupt nichts angehen, meine Masturbationen, die ich bei meinen Ein-Mann-Partys exzessiv durchlebte, meine Schmerzgrenze-Erfahrungen und meine Versuche, junge Mädchen in die Wohnung zu locken, um meine homosexuellen Tendenzen zu testen.

Ja sie hätten viel in der Hand gegen mich, sollten in meiner Wohnung irgendwo Überwachungskameras versteckt sein. Sogar die mangelnde Hygiene nur, wäre schon ein Grund, mir Ärger machen zu können.

Ich bin die Frau mit dem Dreck am Stecken, werde ich auch immer sein. Dass die Polizei mich seit dem Überfall mit Samthandschuhen anfasste, kam mir sehr unwirklich vor. Der Einzige, der auf Angriff ging, war Koffner. Und auch der war noch harmlos. Schließlich wurde ich auch schon geschlagen von Polizisten, als sie mich des Nachts volltrunken in den Straßen der Stadt aufgriffen.

Wenn ich es mir so recht überlege aber, kam ich im Grunde besser zurecht mit den bösen Bullen als mit den guten. Das Schlimme an den guten Bullen ist, dass sie lügen. Sie schleichen um dich herum, versuchen dich zu verstehen, zeigen Mitgefühl, welches sie nicht haben, nur um dir ein paar Worte zu entlocken, die sie dir dann zum Fallstrick machen können. Also mal ehrlich! Ist da eine gesunde Ohrfeige nicht einfach nur besser?

Koffner war ein Bullen-Schwein von der übelsten Sorte, machte auf cool, versuchte sich so zu geben als wäre er mir ähnlich, damit ich ihm etwas anvertraue, das ich seinen Kollegen nicht sagen wollte. Sicherlich haben sie Konkurrenz-Denken untereinander. Der Kriminalist, der dem Verbrecher ein Geständnis entlockt hat, ist der beste.

Die beiden Beamten, die mit dem Bild des Täters aus meiner Wohnung zurück ins Präsidium kamen, hatten sich wohl auch eine Beförderung verdient oder zumindest eine Prämie.

Je länger dass ich darüber nachdachte, desto mehr hätte ich mich ohrfeigen können, dass ich dieses verdammte Bild gezeichnet habe, denn es hat mir nur Ärger eingebracht.

Christian war anderer Ansicht. Egal wo das Bild nun war, es hatte seinen Sinn erfüllt, meinte er. Ich hatte meinem Feind ins Gesicht gesehen und ihm somit die Macht über mich genommen. Vielleicht sollte ich anfangen, Bullen zu malen. Doch vor denen hatte ich ja keine Angst, ich hasste sie nur.

Ich ging um zehn Uhr abends von der Kneipe nach Hause, es war der 16. April 2010. Dieser Abend war lau wie im Hochsommer. Viel zu warm, ich war kühle Nächte gewohnt. Doch nun wusste ich ja, dass Winter und Kälte auch nicht schützten vor den sexuellen Belästigungen der Männer in der Nacht. Ich war oft unterwegs in der Nacht in den Kneipen. Betrunkene Männer pöbelten mich laufend an. In der Regel aber wusste ich mich zu wehren, in der Regel aber kennen die Männer ihre Grenzen. Wenn sie abblitzen, dann gehen sie.

In der Nacht des 16. April war nichts Dergleichen vorgefallen. Ich war ganz allein auf meinem Weg nach Hause. Diese Straßen waren wie ausgestorben. Das fahle Mondlicht zeigte eine Welt, die zu schlafen schien. Es war Sonntagabend, morgen muss jeder in die Arbeit, wahrscheinlich deshalb. Wer ist schon gleich am Montag gerne unausgeschlafen? So auch ich wollte heute früh ins Bett. Ich hatte einen neuen Job in einer Gärtnerei. Auch wenn es nicht gerade mein Traum-Beruf war, so wollte ich ihn aber nicht gleich wieder loshaben. Ich wollte mich ausnahmsweise mal zusammenreißen, etwas auf die Reihe bringen, keine Lebensmittel mehr klauen müssen, sondern funktionieren wie all die anderen Leute auch. Ich wurde älter und hatte meinen Eltern bei meinem Besuch zu Weihnachten versprochen, mich zu bemühen.

Ich liebe sie, es tat mir immer schon weh, dass ich sie nur enttäuschte, mein Leben lang.

Vier Wochen nach diesem Weihnachts-Versprechen passierte der Überfall. Hätte ich gleich wahr gemacht, was ich versprochen hatte, dann wäre ich gar nicht erst so spät unterwegs gewesen in der Stadt, dann wäre auch der Überfall nicht passiert. Ich hatte es mir also mal wieder selbst zuzuschreiben und machte meinen Eltern nur noch mehr Kummer.

Ich hasste mich, von Zeit zu Zeit.

Was seltsam war am 16. April 2010: Die Wohnung war so dunkel. Ich lasse immer Licht im Gang an, den ganzen Tag, egal zu welcher Zeit, immer. So sieht es aus als wäre jemand daheim und keiner meiner Freunde kommt auf die Idee, man könnte einbrechen. Schließlich wusste jeder, der mich näher kennt, dass ich Drogen daheim aufbewahre, illegale Filme und manchmal auch das Geldwäsche-Geld, wenn es zu gefährlich war, es gleich wieder weiterzuschicken. Das Licht sollte meine Freunde und Bekannte davon abhalten, sich während meiner Abwesenheit in meiner Bude einmal umzusehen.

Doch am 16.4. war es ausgeschaltet als ich kam. Ich machte es an, das Leuchtmittel war in Ordnung. Hatte ich es tatsächlich aus Versehen ausgemacht?

Etwas verwirrt, aber wenig besorgt, ging ich in Richtung Küche. Als ich die Wohnung heute Abend verließ, war ich ein wenig neben der Spur, ich hatte das Licht wohl ausgemacht ohne es zu merken.

Doch auch in der Küche kam mir etwas seltsam vor: Hier stand eine leere Bierdose herum.

Ich nahm die Dose in die Hand. Die war aus meinem Kühlschrank, doch ich hatte sie nicht getrunken, das war sicher. Ich hatte noch kein Bier getrunken, am Sonntag gab es keinen Alkohol für mich, das hatte ich mir auferlegt. Die Dose war nicht von mir, so daneben konnte ich gar nicht sein, um mich hier zu täuschen.

Dennoch dachte ich noch immer nicht an große Gefahr, mir kam Michael in den Sinn, er hatte einen Wohnungsschlüssel. Er war nach Hamburg gezogen, doch er hatte den Schlüssel nicht mehr gefunden. Jetzt hat er ihn wohl doch gefunden, das war mein erster Gedanke.

Etwas verunsichert ging ich ins Schlafzimmer, um zu sehen, ob der unerwartete Besucher vielleicht im Bett lag. Nichts! Ich rief seinen Namen, ging vorsichtig ins nächste Zimmer, das Bad, machte Licht, nichts!

Plötzlich wurde ich von hinten gepackt, mir wurde mit dem Unterarm die Luft am Hals abgedrückt und der Mund zugehalten.

Eine unbekannte Männerstimme sprach: „Ganz ruhig, dann geschieht dir nichts!“

Ich aber versuchte mich zu wehren, mich loszureißen, dadurch wurde der Griff um meinen Hals immer enger, ich bekam keine Luft mehr.

„Ich muss dich töten, wenn du nicht augenblicklich still hältst!“, sagte der Mann.

Also gab ich meine Gegenwehr auf.

„Was soll das!“, rief ich aus.

Dann drückte der Arm wieder auf meine Gurgel. „Keinen Mucks, verstanden!“

„Okay“, hauchte ich kraftlos.

Der Kerl stand noch immer hinter mir, ich sah ihn nicht, wusste nicht wer er war.

„Jetzt hör gut zu, wenn du weiterleben willst!“, sprach er während er mich wieder atmen ließ.

Dann drehte er mich zu sich um, stieß mich ein wenig ab von sich, hatte ein langes, spitzes Messer in der Hand, mit dem er mich bedrohte. Ich sah zuerst dieses Messer aufblitzen, dann blickte ich in sein Gesicht und erstarrte: Er war es: Der Kerl auf dem Phantom-Bild.

Meine Knie fingen zu zittern an, ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, fürchtete um mein Leben. Ein Albtraum wurde wahr.

„Kennst du mich? Siehst du dieses Gesicht?“, fragte er.

Ich nickte.

„Nein, tust du nicht! Wegen dir kann ich mich nirgendwo mehr blicken lassen, überall sucht man nach mir! Ich will, dass das aufhört. Du wirst morgen zur Polizei gehen und denen verdeutlichen, dass ich dir nichts getan habe, klar!“, er hielt mir die Klinge seines Messers an den Hals, die Spitze verletzte meine Haut, es lief Blut daran herab. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Das Messer war extrem scharf geschliffen, es bedrohte mein Leben.

Ich stimmte zaghaft zu.

„Du wirst sagen, dass der Mann auf dem Bild mit dem Überfall nichts zu tun hatte, klar!“

„Ja“, wimmerte ich, denn ich konnte nicht mehr nicken, wenn ich verhindern wollte, dass der Kerl mich weiter verletzt mit dem Messer.

„Du hast mein ganzes Leben ruiniert durch dieses verdammte Bild. Seither bin ich auf der Flucht. Ich hasse dich dafür! Ich sollte dich umbringen dafür!“

Ich blickte erstarrt in seine blau-grauen Augen. Er sah genauso aus wie auf dem Bild. Doch langsam legte sich meine Angst ein wenig. Er würde mich jetzt nicht töten, denn er wollte, dass ich seine Weste reinwasche. Was er sich nur davon versprach? Wie sollte die Polizei mir dies jetzt glauben? Welchen Grund hätte ich, ihnen nicht von dieser Erpressung zu erzählen?

Plötzlich klingelte es an der Tür.

Wir erschraken beide. Ich hatte keine Ahnung wer das sein konnte, denn ich erwartete keinen Besuch.

„Wer ist das?“, fragte der Kerl.

„Mein Freund“, log ich.

Der Mann mit dem Messer wurde nervös. Seine Klinge hatte mich wieder verletzt. Ich schwitzte, wimmerte: „Bitte!“

Da bemerkte er erst, dass sein Zittern mich verletzt hatte, hielt das Messer etwas weiter fern.

„Du bedeckst deinen Hals mit einem Tuch, gehst zur Tür und wimmelst ihn ab! Los! Sofort!“

Er warf mir das Handtuch vom Waschbecken zu. Ich fing es und drückte es auf die Wunde.

Dann ging ich in Richtung Tür. Sehr professionell handelte der Einbrecher nicht; wie wollte er jetzt verhindern, dass ich dem Besucher ein Zeichen gebe?

Als es das zweite Mal klingelte, nahm er mich erneut in die Mangel, drückte meine Gurgel mit seiner Hand gewaltsam zu. „Keine Tricks, sonst erledigte ich euch beide augenblicklich. Ist das klar?“, flüsterte er mir ins Ohr.

„Klar“, sagte ich als er mich wieder losgelassen hatte.

Dann wickelte er mir das Handtuch um den Hals, schubste mich zur Tür. „Keine Tricks!“, sprach er wieder, stupste mich mit dem Messer an, es schmerzte, das war ein kräftiger Stich in die Seite. Der Einbrecher verschwand im Hintergrund neben der Wohnzimmertür, damit man ihn vom Eingang aus nicht sehen kann.

Als ich die Tür öffnete, musste ich meine Überraschung verbergen: Hier stand Koffner.

„Warum dauert denn das so lange?“, fragte er selbstverständlich mit einem Lächeln.

Ich musste meine Rolle spielen, umarmte ihn kurz zu Begrüßung, sagte: „Tut mir leid, aber du musst wieder gehen. Ich fühle mich heute nicht so gut.“

Er schien genau zu wissen worum es ging, entgegnete: „Oh je! Was fehlt dir denn?“

Doch dann passierten viele Dinge gleichzeitig: Er zog mich zu sich her und warf mich mit sich zusammen auf den Boden. Im Hintergrund hörte man Fensterscheiben zerspringen, Poltern, einen Schrei. Ich sah nicht was geschah in der Wohnung, denn ich lag mit dem Gesicht zu Boden, zur Tür hinaus. Seitlich über mir lag Koffner, einen Arm unter mir, einen darüber. Ich war weich gelandet, hatte nichts gespürt von dem Fall, der so schnell ging, dass ich mich nicht dagegen wehren hätte können.

„Okay, wir haben ihn sicher!“, rief uns ein Mann aus dem Wohnzimmer zu.

„Alles in Ordnung, bist du verletzt?“, fragte mich Koffner, doch ich antwortete nicht.

„Ihr habt mich also doch überwacht.“, entgegnete ich.

„Nicht so wie wir hätten sollen, nein. Die Nachbarn haben uns alarmiert.“

Als er mir aufhalf, sah er das Blut am Boden. Das Handtuch um meinem Hals hatte sich gelöst.

„Du bist ja doch verletzt! Schnittwunden! - Wir haben eine Verletze hier!“, rief er in Richtung Wohnzimmer, wobei ein Mann in Schutzanzug herbeieilte.

Während der Mann sich die Schnitte an meinem Hals und Rücken ansah, wurde der Täter abgeführt. Der Blick, den der Besiegte mir zuwarf, war seltsam, so als wollte er mir noch etwas sagen.

Der Sanitäter desinfizierte meine Wunden, es brannte stark: „Ist ja schon gut jetzt, so schlimm ist es nicht!“, schrie ich ihn an.

„Wir bringen dich gleich in ein Krankenhaus, dann wird es besser gehen“, meinte Koffner und legte fürsorglich den Arm um mich. Ich wehrte das ab. Dabei behinderte ich die Arbeit des Sanitäters.

„Sie müssten bitte stillhalten.“, ermahnte mich der Mann.

„Nein!“, rief ich aus, befreite mich von den Männern, sprang auf die Seite: „Lasst mich gefälligst in Ruhe jetzt! Müsst ihr mich alle immer anfassen?!“, rief ich aus. Irgendwie war ich völlig am Ende.

„Ruf den Wagen!“, sagte Koffner zu seinem Kollegen.

„Wir ziehen jetzt ab, es ist überstanden. Jetzt kann dir nichts mehr passieren, die Gefahr ist vorüber. Es gibt jetzt keine Bedrohung mehr für dich.“

Sogleich ging ein Mann nach dem anderen aus dem Zimmer heraus.

„Wie viele seid ihr denn noch? Und das alles wegen mir?“, fragte ich.

„Wir sind eine Sondereinheit, sechs Mann. Zwei vor der Tür, zwei durchs Fenster, zwei vor den Fenstern. Es hat alles hervorragend geklappt. Vor allem auch weil du die Nerven behalten hast.“, sagte er und zwinkerte mir zu.

„Ich musste ja, der Kerl zwang mich dazu.“

„Das habe ich gehört. Wir hatten die Möglichkeit, euch zu hören. Der richtige Zeitpunkt ist entscheidend. Es ging sehr einfach. Der Kerl scheint zwar ein recht skrupelloser Mensch zu sein, doch er ist ein miserabler Einbrecher. Uns hatten gleich vier verschiedene Personen aus diesem Wohnhaus angerufen. Sein Einbruch erregte überall Aufsehen.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass meine Nachbarn sich überhaupt um mich scheren“, sagte ich nachdenklich.

Dann kamen zwei Sanitäter durch die offene Wohnungstür hinein. Einige Türen im Haus gingen auf, die neugierigen Nachbarn schoben die Köpfe in den Gang. Meine Sanitäter kamen mit einer Bare, Koffner schloss die Tür hinter ihnen. Seine Kollegen waren alle weg. Er selbst war noch so lange bei mir geblieben bis der Krankenwagen hier war.

„Auch wenn du dir 's nicht vorstellen kannst, die meisten Leute holen die Polizei, wenn sie eine Straftat beobachten. Sie fühlen sich in der Regel sogar ziemlich gut dabei. Und es war auch gut, oder? Stell' dir vor, wir wären nicht gekommen!“

Die Sanitäter sahen sich meine Wunden am Hals an. Eine war schon verbunden, die andere noch nicht. Dann wollten sie, dass ich mich auf die Bare lege.

„Nein!“, sagte ich, „wieso denn?“

„Wir fahren Sie ins Krankenhaus.“, bekam ich zur Antwort.

„Aber mir fehlt doch gar nichts!“

Der andere Sanitäter zog eine Spritze auf.

„Gehen Sie jetzt bitte alle, ich möchte meine Ruhe haben!“, rief ich aus und lief ins Wohnzimmer.

Doch dann blieb ich erschrocken stehen: Hier war alles voller Glasscherben, ein Sessel war umgeworfen, der Couchtisch dadurch zerstört. Auf dem Boden waren Blut und Splitter zu sehen.

Koffner packte meine Schultern von hinten: „Darum kümmern wir uns. Wir räumen das wieder auf und die Fenster werden ersetzt. Hier kannst du jetzt nicht bleiben. Lass dich mit ins Krankenhaus nehmen, die Sanitäter wollen dir nichts Schlechtes. Wenn du zurückkommst, ist die Wohnung wieder in Ordnung.“

Ich drehte ab, ging langsam rückwärts nach draußen, ließ mich an der Tür zu Boden sinken. Ich fühlte mich tatsächlich völlig außer Stande zu denken, zu handeln, zu fühlen. In mir war eine Leere wie schon lange nicht mehr. Ich wäre am liebsten einfach nur eingeschlafen jetzt.

„Ich gehe jetzt“, sagte Koffner, „alles Gute.“

Dann verschwand er aus der Tür. Ich blickte ihm nach. Klar ging er, seine Arbeit war getan.

Jetzt durften die Sanitäter an mich heran. Ich legte mich sogar auf die Bare.

Als ich mein Wohnzimmer nach dieser Verwüstung sah, da wollte ich weg von dort. Es war nicht nur das Schlachtfeld, welches mich in die Flucht trieb, ich fühlte mich so unfähig und schwach. Als ich in diese Situation geraten war, vor nicht einmal einer Stunde, da war es noch gar nicht so schlimm, meinem Widersacher gegenüber zu stehen. Als der erste Schrecken überwunden war, befand ich mich in dieser Situation wie in etwas gehüllt, das von selbst funktioniert. Ich wusste, der Mann wollte mich nicht töten, deshalb war er nicht gekommen. Also würde er auch wieder gehen, irgendwann. Es war also nur eine Frage der Zeit bis die Situation vorüber war.

Koffner hatte Unrecht, wenn er der Ansicht war, er wäre meine Rettung gewesen. Meine Rettung vielleicht vor weiteren Besuchen solcher Art; meine Rettung vielleicht vor Qual und Schmerz, aber nicht die Rettung meines Lebens.

Diese Situation war nicht halb so lebensbedrohlich, als jene bei der ich in den Fluss sprang.

Aber jetzt, da alles vorüber war, ging es mir plötzlich wieder schlecht. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Das Atmen allein schon strengte mich an.

„Bitte geben Sie mir etwas zur Beruhigung“, sagte ich zu dem Sanitäter, der mir in die Augen leuchtete. Ich hasse das, deshalb zog ich ihn grob am Ärmel.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte er daraufhin.

„Wie würden Sie sich fühlen mit einer aufgeschlitzten Kehle?“, entgegnete ich.

„Die Schnittwunden am Hals sind nicht so schlimm, keine Sorge.“, sagte er, „der Stich am Rücken ist um sehr viel tiefer, das muss genäht werden. Wir schaffen es kaum die Blutung zu stoppen. Deshalb müssen Sie sich bitte auf den Bauch legen, geht das?“

„Am Rücken?“, fragte ich. Ja, ich fühlte es. Doch als es passierte, hatte ich es kaum registriert. Mein Widersacher stupste mich mit dem Messer an, als ich die Tür aufmachen ging, um meinen vermeintlichen Freund abzuwimmeln. Der Täter wollte mit diesem Stich klarmachen, wozu er fähig ist, wenn ich nicht tue was er sagt.

„Haben Sie Schmerzen?“, fragte der Sanitäter.

„Ja, habe ich“, erklärte ich.

Im Grunde wollte ich nur, dass er mir etwas spritzt, egal was, Hauptsache eine Dröhnung.

Ich sah zu, wie er die Spritze in die Vene stach, ich liebe es. Kurz darauf fühlt man sofort die Wirkung. Es war wohl ein Opiat, zumindest ein Teil davon. Psychopharmaka waren es jedenfalls nicht. Der Sanitäter hatte mich durchschaut. Er wollte mir keinen Kick verpassen, er wollte sich nur um meine Schmerzen kümmern.

Die gingen auch weg dadurch, ich war froh darüber. Die Wunde am Rücken brannte wie Feuer. Plötzlich aber fing ich zu weinen an. Keine Ahnung weshalb. Es war seltsam, irgendwie wuchs mir alles über den Kopf. Wie sollte das nur weitergehen? Wie lange soll ich noch zu diesen Behandlungen beim Psychologen gehen? Meinen neuen Job bin ich nun auch wieder los, nachdem ich morgen wohl kaum in der Arbeit erscheinen kann. Ich war ein Betäubungsmittel-süchtiger Nichtsnutz! Nicht fähig zu leben, nicht fähig zu sterben. Ich hasste mich.

Jetzt bekam ich noch eine Spritze und schlief sofort ein.

Die Zeit im Krankenhaus wurde mir lang. Ich verließ das Haus drei Tage später auf eigene Verantwortung. Genaugenommen sollte ich in eine psychiatrische Klinik überführt werden. Doch ich wollte nicht mehr, wollte mich befreien von alle dem. Ich hatte genug von Tranquilizern und Glücklich-Machern. Sollte es da nicht auch noch irgendetwas in mir selbst geben, das mich am Leben hält? Gibt es denn nicht auch in meiner Physiologie irgendwo, zwar unterdrückt und versteckt, aber dennoch zwangsläufig vorhanden, diverse Drüsen, welche im Stande sind, selbst Glückshormone zu produzieren, ohne jegliche Hilfe von außen? Ohne chemische Hilfe, ohne Drogen, aber eine Art Glück, die mit dem Zusammentreffen auf andere Lebewesen zu tun hat oder wenigstens mit dem Umfeld, der Natur, Weihnachten, Liebe, was auch immer? Gibt es denn in dieser Welt nicht auch für mich etwas, das mir das Gefühl gibt, in diese Welt zu gehören? Schwierige Frage. Bisher haben sich die Dinge, welche den Menschen glücklich machen, jedenfalls stets schnellstens entfernt, wenn sie mich kommen sahen.

Vielleicht aber hat nicht das Drumherum sich von mir entfernt, sondern ich mich von ihm. Gerade weil ich schon etwas anderes hatte, was ich in der Regel verwende, um glücklich zu werden: Alkohol, Drogen, Filme. Das Künstliche um mich herum war immer schon zu groß. Es ist wie ein böses Wesen, zu dem ich mich ausstrecke, es mir die Hand entgegenstreckt und ich sie nehme. Dann sind wir wieder zusammen selig, der Untergang und ich.

Es war Müll, den ich mir immer und immer wieder einverleibte, um mich zu trennen vom Leben überhaupt. Jetzt endlich nach all diesen gewaltvollen Ereignissen in den letzten Monaten wurde mir endlich klar, dass ich mein Leben nicht lebte. Nein, ich schummelte mich daran vorbei. Was aber hatte ich zu verlieren, wenn ich mich, so wie all die anderen Menschen, dem Leben stelle? Nichts! Wäre ich gestorben nach dem Sprung ins Eiswasser, was ja nicht unwahrscheinlich gewesen wäre, dann hätte ich überhaupt nicht gelebt vorher. Dass dem wieder so sein könnte, das musste verhindert werden.

Es war nun Ende April, das Wetter war traumhaft warm. Es wehte ein sanfter Wind, überall grünte es, ich ging durch den Wald. Man hörte die Vögel wie in einem Konzert von allen Ecken zwitschern. Der Bach plätscherte, die Geräusche des Wassers sind wie ein Glockenspiel. Hier roch es nach Holz, Wasser und Blumen. So nüchtern wie ich war, kam es mir vor, als hörte ich diese Dinge zum allerersten Mal. Vor mir, neben mir, über mir sprangen Eichhörnchen hin und her. Sie waren Menschen gewohnt, wollten mir Futter abbetteln. Doch ich hatte nichts bei mir, darauf war ich nicht vorbereitet. Es freute mich dennoch, dass sie hier waren. Abgesehen davon, dass sie extrem hübsch waren, fühlte ich mich nicht allein. Sie begleiteten mich auf meinem Weg.

Ich ging weglos in den Wald hinein. Erst waren die Bäume groß, Buchen, Birken, Fichten. Später kam ein Stück mit kleinen Nadelbäumen, ein Kranz mit Brennnesseln und Himbeeren, danach wurde es dunkel. Hier war es nicht einfach zu gehen. Das Gehölz von dichten Nadelbäumen zwang mich zu ducken, mein Gesicht zu schützen.

Etwas später aber kam ich wieder ins Freie, ich stand auf einer Anhöhe und blickte auf grüne Felder hinab. Hier war die Welt so weit, so frei, so freundlich wie niemals zuvor. Ich erkannte mehr denn je, dass ich dies alles verpasst hatte im Leben, dass ich diese Fülle, die es doch immer schon gab, einfach nicht gesehen hatte. Wie kann man das Glück übersehen?

Mit diesem Reichtum an Leben konnte ich umdenken. Welch ein Segen war es doch, dass alles vorbei war: Keine Bedrohung mehr durch einen Mann, der in meiner Wohnung auf mich warten könnte, um Rache zu nehmen. Auch aber keine Bedrohung mehr durch mich selbst, durch meinen Drang der Welt zu entfliehen und dadurch mich selbst zu zerstören.

Gerade wieder zu mir gefunden aber, schien mir mein neues Leben nicht vergönnt zu sein. Denn eines Abends klingelte es sehr unverhofft an meiner Haustür. Kaum eine Woche war es her, dass ich das Krankenhaus verlassen hatte, schon holten mich meine Feinde wieder ein.

Als ich die Klingel hörte, dachte ich an einen Nachbarn, der neugierig war, wie die Geschichte mit meinem Einbrecher ausgegangen war. Doch nichts Dergleichen! Der Besuch war nicht halb so harmlos wie gedacht: Vor der Tür stand niemand anderer als Koffner.

Groß und wuchtig stand er vor mir in seiner schwarzen Lederjacke mit dem Polizeiaufnäher. Dass er dieses Mal nicht in Zivil erschien, verwunderte mich. Wenn er in offizieller Sache hier war, dann ging es nun wohl um die Gerichtsverhandlung. Er wollte, dass ich meine Aussage mache. Gleich als ich ihn sah, beschloss ich, bei allem zuzustimmen, dennoch nicht bei Gericht zu erscheinen. Aus psychischen Gründen, das würde schon durchgehen. Aber wollte ich denn gerade dies nicht mehr tun?

„Wir müssen reden“, sagte Koffner streng.

„Aber nicht jetzt! Laden Sie mich vor und ich mache meine Aussage.“, erklärte ich.

„Nein. Wir müssen jetzt reden.“, bestand er.

„Dazu bin ich nicht verpflichtet“, erklärte ich.

Doch dann ging im Gang eine Wohnungstür auf, die Nachbarin grüßte mich. Sie tat so, als müsste sie den Abstreifer säubern, den Schmutz zusammenkehren, auch einen Lappen hatte sie schon in der Hand. Sie wollte wissen, was sich bei mir schon wieder für seltsame Dinge abspielen. Also ließ ich Koffner ein. Irgendwie wusste ich, dass er nicht aufgeben würde.

„Aber nur kurz“, sagte ich, er entgegnete nichts dazu.

„Sagen Sie mir was Sie von mir wollen und dann gehen Sie wieder!“, befahl ich ihm.

„Alles wieder in Ordnung mit der Wohnung?“, fragte er und ging ins Wohnzimmer.

Er ging auf die Fenster zu, begutachtete die Arbeit des Glasers.

„Danke, dass Sie das für mich in Ordnung gebracht haben. Ich war sehr froh darüber als ich aus dem Krankenhaus kam.“

„Sie waren so schnell wieder zurück, dass es der Glaser kaum rechtzeitig geschafft hat.“, sagte er.

„Sie? Heute gelingt es Ihnen sogar, die Form zu wahren.“

„Ja, sogar ein Scheiß-Bulle kann das“, sagte er provokant.

„Was wollen Sie?“, fragte ich.

„Darf ich mich setzen?“, entgegnete er.

„Wenn es sein muss“, meinte ich.

„Ich muss höflich sein, Sie aber nicht“, sprach er und sah mich beleidigt an.

„Weshalb sagen Sie verdammt nochmal nicht einfach was Sie von mir wollen? Soll ich aussagen vor Gericht? Von mir aus, mache ich! War 's das jetzt?“, fragte ich.

„Wenn es eine Gerichtsverhandlung gibt, dann eine, die um etwas ganz anderes geht, als Sie denken, Fräulein.“, erklärte er sehr laut.

Langsam fing ich an zu ahnen, dass sein Besuch Schwierigkeiten mit sich brachte, von denen ich nichts geahnt hatte.

Er hatte sich auf meiner Couch niedergelassen und zog seine Jacke aus. Jetzt sah man seine Waffe. Plötzlich hatte ich Respekt vor ihm. Ich hatte immer Angst gehabt vor Polizisten, doch nicht vor ihm. Er hatte die Sache aus einer anderen Warte gesehen, der große Beschützer, daran aber könnte sich etwas geändert haben. Heute war er anders, ganz anders auf eine Weise; er ging auf Angriff.

Etwas eingeschüchtert sagte ich: „Tut mir leid, ich hatte nicht mit Besuch gerechnet heute. Hätten Sie gerne etwas zu trinken?“

„Setzen Sie sich“, sagte er.

Ich gehorchte, setzte mich gegenüber in den Sessel. Dann lehnte er sich vor zu mir, ich wich ein wenig zurück.

„Das Bild von dem Verhafteten haben Sie selbst gemalt. Es ist sehr gut gelungen. Gerade so, als ob Sie professionell zeichnen könnten. Sicherlich haben Sie noch mehr Zeichnungen, die Sie selbst angefertigt haben, die würde ich gerne sehen.“, erklärte er.

„Nein!“, sagte ich überrascht, „ich zeichne nicht. Was soll das?“

„Sie werden mir doch nicht erzählen, dass dies Ihre einzige Zeichnung ist!“, meinte er.

Ich wurde nervös. Was sollte das? Langsam begriff ich, dass ich verhört wurde. Nicht aber als Opfer, sondern als was?

„Doch. Ich zeichne nicht. Das ist das einzige Bild dieser Art. Ich habe es angefertigt, weil mir mein Psychologe dazu geraten hat. Das wissen Sie von der Polizei doch alle!“, sprach ich nervös.

„Und warum wollte Ihr Psychologe, dass Sie das Bild malen?“

„Seit dem ersten Übergriff auf mich habe ich immer das Gesicht meines Angreifers vor mir gesehen, es verfolgte mich Tag und Nacht. Immer sah ich sein Gesicht. Mein Psychologe war der Ansicht, es würde mir helfen, meinem Angreifer ins Gesicht zu sehen, er würde dadurch seinen Schrecken verlieren. Doch es war anders: Ich war froh als das Bild weg war, mich nicht immer anstarrte. Das machte mir nur noch mehr Angst, es gäbe eine weitere Begegnung mit meinem Widersacher.“, sprach ich.

„Und die gab es tatsächlich?“, fragte er.

„Sie waren dabei!“, entgegnete ich.

„Nun ja! Ich glaube Ihnen, dass Sie der Ansicht sind, das Bild zeigt den Mann, der Ihnen dies alles angetan hat. Ich denke nur, es könnte sein, dass es zwei Männer in Ihrem Leben gibt, die Ihnen Böses angetan haben.“, sagte er.

„Ich verstehe nicht. Was ist denn los? Wieso zwei?“, fragte ich.

„Das sage ich Ihnen: Der Mann, der Sie hier in Ihrer Wohnung bedroht hat, den wir verhaftet haben, dessen Gesicht Sie so genau zeichnen konnten, ist nicht derselbe Mann, der Sie damals im Winter überfallen hat. Er kann es nicht sein, denn er war definitiv nicht in Deutschland zu diesem Zeitpunkt.“

„Was?! Aber er ist es doch! Woher sollte ich sonst wissen wie er aussieht?“, fragte ich völlig überrascht.

„Christine! Ich weiß, dass ich nicht der Erste bin, der Sie dies fragt, aber bitte, in Ihrem eigenen Interesse, Sie müssen mir jetzt die Wahrheit sagen: Wann haben Sie den Mann auf dem Bild zum ersten Mal gesehen? Denken Sie nach! Es ist gut möglich, dass Ihnen die eigenen Sinne einen Streich spielen, überlegen Sie genau! Weshalb konnten Sie dieses Gesicht so haargenau zeichnen? Kannten Sie den Mann aus irgendeiner anderen Erinnerung in Ihrem Leben? Als Kind vielleicht?“, fragte er eindringlich.

„Nein“, sagte ich. Dann dachte ich nach, versuchte zu verstehen, wonach er eigentlich fragte. Er war davon überzeugt, dass der Mann auf dem Bild bei dem Angriff im Winter nicht dabei war; also meinte er, dass ich es mir einbildete, das Gesicht eines Mannes gezeichnet hatte, den ich von früher her kannte. Doch das konnte nicht sein. Ich wusste ganz genau, dass er es war und kein anderer. Ich hatte das Bild nur aus diesem Grund, weil er es war, überhaupt erst zeichnen können. Der Kerl hatte die Polizei getäuscht, er hatte ein gut getäuschtes Alibi, falsche Zeugen bestochen, eine andere Identität angenommen, was auch immer. Koffner wurde getäuscht, die Polizei wurde getäuscht, doch sie glaubten dem Täter, nicht mir.

„Was nein?“, fühlte mir Koffner auf den Zahn.

„Ich weiß todsicher, dass der Mann auf dem Bild der Kerl ist, der mich im Winter überfallen hat. Ich hätte das Bild sonst gar nicht zeichnen können. Dieses Gesicht habe ich noch nie zuvor gesehen, nicht vor jener Nacht. Warum sollte er denn in meine Wohnung eingebrochen sein? Haben Sie dafür eine Erklärung, wenn Sie mir schon nicht glauben?“

Koffner sah mich streng an. Er wusste nicht, ob er mir glauben sollte. Er war Polizist und wusste genau was für ein Typ Mensch ich bin. Meine kriminellen Elemente machen mich der Polizei gegenüber jedenfalls mehr zum Täter als zum Opfer. Doch der Einbrecher mit dem Gesicht des Mannes auf dem Bild war ebenfalls ein Krimineller. Koffner, als ein nicht unerfahrener Polizist, sah uns beide als Täter. Fragt sich nur, wer mehr Dreck am Stecken hat, wer schlimmer lügt, der Einbrecher oder ich.

„Dafür hat er uns eine Erklärung abgegeben: Das Bild. Er war nicht der Mann, der dich im Winter überfallen hat, doch mit den Plakaten seines eigenen Gesichts als Steckbrief einer Groß-Fahndung konnte er sein Leben nicht weiterführen. Er wollte dich dazu bringen, dass du die Wahrheit sagst, eine ihn entlastende Wahrheit. Zum anderen aber hatte er auch gesagt, er wusste nicht, woher du sein Bild hast, er wäre dir niemals begegnet.

Was habt ihr beide zu verbergen, du und er, Christine? Hat er dich als Kind missbraucht? Vielleicht weißt du das auch gar nicht mehr, deine Seele hat es verdrängt, doch dein Kopf hat sich das Bild gemerkt.“

„Nein! Ganz falsch! Ich habe ihn noch nie gesehen.“

„Er war es aber nicht, im Winter war er nachweislich in USA“

„Wieso glauben Sie ihm das nur? Er kann doch zwischenzeitlich einfach einen Trip in die Heimat gemacht haben von dem niemand etwas weiß. Er lügt! Wieso sollte er es zugeben, wenn er doch so ein gutes Alibi hat, das ihm jedermann abnimmt?“

„Carsten Fischer, so heißt der Mann, saß in dieser Nacht, sowie zwei Wochen zuvor und zwei Wochen danach, wegen Autodiebstahls in einem Vorort von New York im Gefängnis. Er konnte nicht weg von dort, wir haben das mehrmals überprüft.“

„Carsten Fischer“, wiederholte ich nachdenklich.

„Sagt dir der Name etwas?“, fragte Koffner.

„Nein“, entgegnete ich, doch das war gelogen.

Tatsächlich sagte mir der Name etwas, doch ich wusste absolut nicht was. Jedenfalls hatte es nichts mit den jüngsten Ereignissen zu tun.

„Warum sind Sie hier, Herr Koffner?“, wollte ich nun wissen.

„Dieter. Du darfst Dieter sagen.“

„Dieter Koffner“, sprach ich nachdenklich.

„Und der Name? Sagt dir mein Name etwas?“, fragte er mit einem sehr seltsamen Blick.

„Nein“, entgegnete ich. Auch das war gelogen. Der Name klang merkwürdig vertraut, so als kannte ich ihn. Aber auch diesen Namen konnte ich nicht einordnen.

„Ich bin hier, weil meine Kollegen von der Kripo der Ansicht sind, du hättest dir das Bild von dem Mann nur ausgedacht, weil du ihn durch ein Ereignis kanntest, von dem du der Polizei partout nicht berichten willst, so etwas wie einen Drogendeal oder eine andere Straftat, in die du verwickelt warst. Wenn du mit Carsten Fischer gemeinsam etwas angestellt hast, dann hättest du Grund gehabt, ihn hinter Gitter wandern zu lassen, um dich selbst vor seinem Verrat zu schützen.“

„Ist klar, ihr wollt unbedingt, dass ich Schuld habe und sonst niemand.“, meinte ich beinahe weinerlich.

„Du bist von drei Männern gequält und geschlagen worden, sie wollten dich bei minus 15 Grad auf offener Straße vergewaltigen, bist gerade noch dem Tod entronnen. Dann wurdest du in deiner Wohnung von einem Mann mit dem Messer bedroht und verletzt. Dafür, dass du schuld an etwas sein solltest, ist dir selbst schon zu viel passiert.

Die Kripo ist auf der Suche nach der Wahrheit und würde sehr gerne mit dir zusammenarbeiten. Wenn wir den falschen Mann haben, dann läuft der andere noch frei herum und stellt eine Gefahr für andere Frauen dar.“

„Die Kollegen von der Kripo. Und Sie sind nicht von der Kripo?“

„Nein, sagte ich dir schon. Wenn ich du sage, dann darfst du das auch. Also: Ich bin von einem Sonderkommando, Personenschutz.“

„Personenschutz? Aber weshalb verhörst du mich dann? Warum ermittelst du in der Sache?“, fragte ich.

„Das gehört mit zum Job. Ich muss wissen in welcher Situation sich die zu schützende Person befindet, die Hintergründe und das Umfeld kennen.“

Ich blickte in seine Augen, versuchte schlau aus ihm zu werden. Er selbst glaubte wohl gar nicht, dass ich den Mann auf dem Bild schon früher kannte. Führte er das Gespräch nur, um mein Vertrauen zu gewinnen? Wollte er mich gar nur kennenlernen, weil er auf mich aufpassen muss?

„Personenschutz bei mir? Du beschützt mich immer noch? Wovor denn?“, wollte ich wissen.

„Einiges ist mir noch unklar bei der ganzen Sache, aber was ich mittlerweile sicher weiß, ist dass der Kerl, der dich überfallen hat damals im Winter, noch eine Rechnung offen hat mit dir. Ich weiß nicht, ob du die Wahrheit sagst, der Kerl hat einen Doppelgänger, maskiert vielleicht, oder aber auch er sieht in Wirklichkeit ganz anders aus, egal! Ich will dir ja nicht unnötig Angst machen, aber ich kenne solche Situationen, du bist nicht außer Gefahr, absolut nicht.

Wenn dir dein Leben lieb ist, die Unversehrtheit deines Körpers, dann solltest du mir spätestens jetzt alles sagen was du weißt, denn nur so bin ich schneller als der Täter. Anders haben wir wenige Chancen dich rechtzeitig zu bewahren. Ich bin mir nämlich sicher, der Kerl weiß sehr genau, dass du polizeilich geschützt wirst. Wenn er an dich ran will, wird er sich eine Situation aussuchen, in der er freies Feld hat.“

Ich dachte lange und besorgt über diese Worte nach, bis ich zu dem Schluss kam: Die Polizei stellt mir eine Falle. Sie wollen mir Angst machen, damit ich auspacke. Ich soll ihnen sagen, was Carsten Fischer wirklich mit mir gemeinsam an Verbrechen verübt hat, ein Geständnis ablegen, das ist ihr Ziel. Alles andere ist einfach zu abstrakt. Weshalb sollte, selbst wenn es stimmt was Koffner sagt, der Täter eine Rechnung mit mir offen haben? Außerdem ist es doch der Kerl, der jetzt hinter Gittern sitzt. Er hat die Polizei getäuscht. USA ist weit weg.

Diese verdammte Polizei, ich hasste sie.

Lächerlich, dieser Koffner mit seinen Tricks! Sonderkommando! Personenschutz! Das gibt es doch nur im Fernsehen. Er hat mir einen Bären aufgebunden, will sich irgendwelche Prämien verdienen, wenn er mich zum Reden bringt. Ich hasste ihn und seine Tricks!

Vielleicht aber wollte Koffner doch etwas anderes von mir. Er wollte wissen, ob ich ihn kannte, dem Mann auf dem Bild. Es war ihm wichtig, ob ich ihm vor dem Überfall schon einmal begegnet war. Und er wollte noch etwas: Mir Angst machen. Er wollte, dass ich in Alarmbereitschaft bleibe. Warum ist das so wichtig für ihn, wenn er mich sowieso schützt? Was könnte ich schon ändern, wie könnte ich mich selbst verhalten, dass ich nicht mehr angegriffen werde?

Ich verstand es nicht. Sein Besuch jetzt bei mir, was war so wichtig? Was wollte er von mir erfahren? Irgendwie hatte ich den Eindruck, er wollte mich eher informieren, als verhören.

So sehr wie ich an einen Betrug durch die Polizei glaubte, so glaubte ich doch in selbem Maße daran, mein Verstand spielte mir einen Streich. Nehmen wir mal an, der Mann, der nun hinter Gittern saß, wäre wirklich nicht der Mann auf dem Bild: Nun ja, etwas war seltsam an der Begegnung mit ihm. Es gab so ein Gefühl, dass er mir nicht ernsthaft etwas Schlimmes antun würde. Dieses Gefühl gab es bei der ersten Begegnung im Winter nicht. Da fühlte ich, dass er vorhatte mich zu töten. Es hätte ihn in jeder Hinsicht befriedigt mich zu töten. Nicht nur deshalb, weil ich ihn dann nicht als Täter identifizieren hätte können, nein, nicht nur deshalb. Er hätte es gewollt, weil er es eben wollte. Der Mann in meiner Wohnung aber wollte mich nicht töten. Er hatte selbst Angst, ich fühlte, dass er sich in die Enge getrieben fühlte durch die Situation. Seine Hände waren schwitzig, seine Stimme zitterte. Er war nicht halb so selbstsicher wie der Mann im Winter. Und dann war da noch dieser Blick von ihm als er abgeführt wurde. Es war so, als bereute er es, nicht gesprochen zu haben mit mir. Er wusste, er hätte es anders angehen müssen mit mir.

Gefühle! Es könnte auch sein, dass ich mir alles nur einbildete, doch dies ließe ebenfalls Fragen über Fragen offen.

Am selben Abend noch googelte ich Carsten Fischer. Ich bekam heraus, dass er in München-Stadelheim in Untersuchungshaft saß. Also rief ich dort an und wollte einen Besuchstermin mit Fischer vereinbaren. Zunächst durchlief ich die ganz normale Bürokratie mit meiner Anfrage. Doch als die Dame am Telefon meinen Namen hörte, stockte sie erst, dann stellte sie mich zu einem Herrn von der Gefängnisleitung durch.

Der vermutete erst, ich wolle mir einen Scherz erlauben oder wäre von der Presse. Er fragte mich nach dem Grund meines Besuchs. „Ich möchte Carsten Fischer etwas fragen“, erklärte ich.

„Sie sind es wirklich, oder?“, stellte er fest.

„Natürlich. Ist es jetzt möglich oder nicht?“, fragte ich.

„Kommen Sie vorbei, wir werden sehen. Der Gefangene kann Ihren Besuch auch ablehnen.“, erklärte der Mann und schlug mir einen Termin vor.

Als ich ankam, wurde ich ins Büro von Herrn Direktor Neumeier von der Gefängnisleitung gebracht. Es war der Mann am Telefon.

„Der Gefangene hat Ihr Leben bedroht, weshalb wollen Sie ihn sprechen, kommen allein hierher?“, fragte mich der Direktor.

„Die Polizei ist der Ansicht, er wäre in Wahrheit nicht der Täter. Sie verdächtigen mich, Carsten Fischer schon länger zu kennen. Doch ich habe ihn nie zuvor gesehen. Ich verstehe das alles nicht. Ich hätte gerne gewusst, ob er es war oder nicht, der mich im Winter überfallen hat.“, erklärte ich.

„Möchten Sie denn die Recherchen nicht lieber der Polizei überlassen? Ein Gespräch mit diesem Mann versetzt Sie doch nur unnötig in Unruhe? Was soll das helfen?“, entgegnete der Mann.

„Sie haben mich kommen lassen, mir einen Termin gegeben, klappt es nun oder nicht?“, fragte ich ungeduldig.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das zulassen soll“, sagte er und musterte meine Reaktion, „haben Sie jemanden von der Polizei über Ihr Vorhaben informiert?“

„Nein. Muss ich das denn? Ich will nur einen Mann im Gefängnis besuchen, ist das so schwer?“, fragte ich.

„Also gut. Aber ich werde die für den Fall zuständige Kripo informieren müssen und Sie dürfen davon ausgehen, dass wir Ihr Gespräch mit dem Gefangenen bewachen und abhören werden.“, erklärte Neumeier.

„Wenn 's sein muss!“, meinte ich unwillig.

Nun lächelte der Mann ein wenig.

„Was ist lustig?“, fragte ich.

„Sie sind es. Sagen wir mal so: Ich hätte mir bei Ihnen eine ganz andere Person vorgestellt.“

„Was für eine?“, wollte ich wissen.

„Das ist nicht wichtig. Was aber wichtig für Sie ist, wenn Sie mit dem Gefangenen sprechen werden, wird Ihnen gleich noch gesagt werden. Wir haben strenge Sicherheitsvorschriften hier. Ach übrigens: Der Gefangene hat zugestimmt mit Ihnen zu reden.“, erklärte er sachlich und ging zur Tür.

„Sie spricht mit Carsten Fischer, soll aber den Achter genauestens befolgen müssen, Sie kümmern sich persönlich darum, Karl?“, fragte er einen Mann in Uniform.

„Wird gemacht Herr Direktor“, erklärte der Mann mit einer angedeuteten Verbeugung.

Direktor Neumeier befahl mir, ihm zu folgen. Dann durchlief ich mehrere Sicherheits-Checks: Frauen tasteten mich ab, durchleuchteten alles was ich bei mir hatte, ich musste einige Formulare unterschreiben. Das Ganze dauerte eine knappe Stunde. Dann brachte mich der Schließer Karl Zimmermann nach weiteren drei Absperrungen in ein leeres Zimmer, stellte sich mit zwei Wachen hinter mich und funkte jemanden an.

Mittlerweile war ich so tief in den Gefängnistrakt eingedrungen, hatte so viele Sperren und Sicherheitszonen durchlaufen, dass ich ernsthaft fürchtete, hier nicht mehr heraus zu kommen. Gut, dass immer Wachen bei mir waren. Die Beamten vermittelten in dieser fremden, bedrohlichen Umgebung, doch tatsächlich das Gefühl von Sicherheit. Immerhin stellten Sie meinen Rückweg dar.

Nach dieser langen Wartezeit im Gefängnistrakt konnte ich es gar nicht mehr erwarten, den Mann, weswegen ich gekommen war, endlich zu Gesicht zu bekommen. Ich wurde ungeduldig, auch wenn ich nach wie vor Angst vor ihm hatte.

Angst vor ihm? Lächerlich! Mit Handschellen gefesselt, einer blinkenden Klammer am Fuß, einer ganzen Armee von Wachpersonal wurde er mir vorgeführt. Wie hätte er mir etwas antun können? Als ich ihn sah, schämte ich mich für meine Freiheit ihm gegenüber.

Seine Augen erschreckten mich ein wenig. Er war wütend, extrem geladen. Dennoch versuchte er sich zusammenzureißen. Sicherlich sah auch er in dem Gespräch mit mir eine Möglichkeit. Was auch immer sich daraus ergeben würde, er wusste nicht weshalb ich gekommen war. Zumindest dachte ich über ihn nach, anstelle mich nur als das Opfer zu sehen.

Er wurde von seinen Wachleuten auf den Stuhl mir gegenüber, der Tisch stand zwischen uns, aufgefordert sich zu setzen. Er tat es mit einem Seufzer und hob mir mit einer Geste des Vorwurfs seine gefesselten Hände entgegen. Die Wachen rissen seine Arme grob zurück.

Er sagte nichts, starrte mich nur an, ich starrte zurück.

„Gefällt es dir was du siehst?“, fragte er schließlich.

Ich dachte an das Gesicht als mein Peiniger den beiden Männern sagte: „Wir ziehen sie aus.“

Als ich mich wehrte, ohrfeigten sie mich. Sie gaben mir Schläge mit der flachen Hand ins Gesicht. Er aber, der Besitzer des Gesichtes vor mir, schlug mit der Faust auf mich ein. Der Schlag ins Gesicht ließ meine Wange aufplatzen, eine Narbe blieb zurück, die noch zu sehen war.

Ich spürte diese Narbe als mir der Schlag ins Gesicht jetzt einfiel, es schmerzte, ich legte meine Hand darauf und starrte auf die Hände des Mannes vor mir. Meine rechte Hand lag auf meiner Wange.

„Befriedige ich deine Rache?“, fragte Carsten Fischer nahezu gleichgültig.

„Nein“, sagte ich.

„Hast du Zigaretten?“, fragte er.

Es war seltsam, dass er danach fragte, es war so harmlos. Er empfing mich wohl nur deshalb: Jemand von draußen hat eventuell Dinge dabei, die man hier drinnen nicht bekommt.

„Die wurden mir abgenommen“, sagte ich.

Die beiden Männer hielten mich fest während er, der Träger des Gesichts vor mir, an meinen Hosenbeinen zog. Er lachte dabei. Als ich mit den Beinen um mich schlug, rammte er mir seine Faust in den Magen.

Nun, da ich diese Bilder vor mir sah, wurde mir wieder übel wegen des Schlags in den Bauch.

„Ich brauche meine Zigaretten hier!“, rief ich den Wachen zu.

Karl Zimmermann gab einem der beiden Wachmänner ein Zeichen: „Sie hat das Recht dazu, dem Gefangenen Zigaretten mitzubringen.“, sprach er.

„Die liegen in der Kabine zwei Trakts weiter vorne“, widersprach die Wache.

„Ich brauche sie aber jetzt!“, entgegnete ich, also ging der Mann aus dem Raum.

„Wie edel“, meinte der Gefangene. „Und was willst du sonst hier außer mir Zigaretten zu bringen?“

„In meiner Wohnung, was hättest du gemacht, wenn die Polizei nicht erschienen wäre?“, fragte ich.

„Verdammte Schlampe! Ich wäre gar nicht erst gekommen, oder? Ich kann vielleicht ganz gut Autos knacken, aber in solchen Sachen bin ich schlecht“, sprach er.

Dann kam der Mann mit den Zigaretten. Er warf missmutig die Packung auf den Tisch vor mir. Ich nahm die Packung in die Hand, klopfte eine Zigarette heraus und hielt sie Fischer hin. Seine rechte Hand griff nach der ganzen Packung und entriss sie mir.

Ich starrte entsetzt auf die Hand, die nach den Zigaretten griff. Dann stand ich auf, ging auf meine Wachen zu und sagte, ich wolle gehen. Bevor ich den Raum verließ, drehte ich mich nach Fischer um, der sich von seiner Wache mit der Zigarette in der Hand helfen ließ.

„Es tut mir leid“, sagte ich zu Fischer als ich den Raum verließ.

Was ich nun wusste, machte mir Angst.

Ich sprach mit Christian darüber: „Der Mann im Gefängnis ist Rechtshänder, ich aber wurde von einem Linkshänder misshandelt.“

„Das sagt überhaupt nichts!“, erklärte er.

„Ich glaube jedenfalls, Koffner hat Recht: Der Mann im Gefängnis ist nicht der Kerl, der mich im Winter überfallen hat.“, sprach ich.

Der Psychologe legte die Stirn in Falten. „Man gewöhnt sich Dinge sehr leicht an, die einem eine Zeit begleiten im Leben, nicht wahr? Seit diese Männer wie eine unberechenbare Bedrohung in dein Leben gekommen waren, wusstest du nicht: Kommen sie wieder oder nicht? Die Polizei hat den Glauben an einen zweiten Übergriff nur noch geschürt. Du wusstest irgendwie: Es kommt der Tag, da sich dieses schreckliche Ereignis wiederholt. Dann war es plötzlich soweit und jetzt ist es vorbei. Einfach vorbei! All die Angst, die dich Tag für Tag durchs Leben begleitet hat, ist plötzlich weg. Und jetzt? Fast etwas leer das Leben ohne diese Angst, nicht wahr?“

„Du denkst, es ist derselbe Mann?“, fragte ich.

„Natürlich ist er das! Es gibt keine Doppelgänger! Du hast das Bild gemalt bevor Carsten Fischer in deiner Wohnung aufgetaucht ist. Erkenne doch bitte, dass es nur der Mann sein kann!“, meinte er eindringlich.

„Er war zum fraglichen Zeitpunkt in New York im Knast“, sprach ich.

„Die Polizei in New York arbeitet ein wenig anders als die hiesige, Christine. Mit Geld lässt sich da drüben praktisch alles regeln. Fischer hat sich das Alibi erkauft. Es sitzt der richtige Mann hinter Gittern. Das heißt für dich: Es gibt keine Bedrohung mehr. Du solltest endlich anfangen, an das Happyend zu glauben, das dir hier beschert wird.“, sagte er etwas ungeduldig.

Er hatte Recht: Es war doch sehr unwahrscheinlich, dass es ein anderer Mann war. Ich wusste, dass meine Zeichnung echt war, wenn nicht ich, wer sonst?

Warum glaubte ich mich immer noch nicht sicher vor dem Mann, obwohl er gefasst war? Antwort: Wegen Koffner. Mein Problem war: Ich hatte mich erwärmt für den Bullen, deshalb glaubte ich ihm. Die Frage war aber auch: Weshalb glaubte er, dass das Alibi Fischers nicht nur ein erkaufter Schwindel war? Wenn Christian das schon wusste, ein achtundzwanzig Jahre alter Psychologe, weshalb wusste es dieser Super-Cop vom Personenschutz nicht?

Was weiß ich! Seit wann interessiert es mich, was ein Bulle denkt oder nicht? Ich musste Koffner unbedingt loswerden, besser heute als morgen.

Er rief mich an: „Sag' mal, spinnst du?“, fuhr er mich an.

„Was denn?“, fragte ich unschuldig, obwohl ich durchaus wusste worum es ging.

„Warum besuchst du Carsten Fischer im Gefängnis? Weshalb hast du das getan?“

„Wenn er wirklich unschuldig ist, dann habe ich ihm sehr viel unnötigen Ärger eingebracht“, erklärte ich, obwohl ich nach diesem Gespräch mit Christoph ganz und gar nicht mehr daran glaubte, er wäre es nicht gewesen.

„Würdest du vielleicht die Güte haben, mich über derartige Vorhaben rechtzeitig zu informieren?!“, schrie er in den Hörer. Er war richtig wütend.

Doch auch mich machte seine Reaktion wütend: „Ich kann tun und lassen was ich will!“, entgegnete ich. „Weshalb sollte ich auch nur auf die Idee kommen, dich über meine Vorhaben zu informieren?“

„Wie soll ich dir Personenschutz gewähren, wenn ich nicht weiß, wo du bist?“, konterte er.

Ich lachte verächtlich auf. „Personenschutz! Wovor denn? Die Sache ist vorbei, ihr habt meinen Widersacher dingfest gemacht, also brauche ich keinen Schutz mehr. Würdest du jetzt einfach aus meinem Leben verschwinden, ja?“

Dann sagte er nichts mehr, gar nichts. Ich hielt noch immer den Hörer ans Ohr. Nach einiger Zeit wusste ich nicht, ob die Leitung noch offen war. „Dieter?“, fragte ich.

Es war seltsam, ihn bei seinem Vornamen zu rufen, das hatte ich noch nie getan. Doch wie sollte ich ihn sonst ansprechen, waren wir ja per Du?

„Du bist jetzt also überzeugt. Was bringt dich dazu zu glauben, es wäre der Mann? Hat dich der Besuch bei ihm davon überzeugt? Gibt es etwas, das du an ihm gesehen hast, was du wiedererkannt hast?“

„Sein Gesicht“, sprach ich.

„Er ist es also wirklich? Was genau hat dich überzeugt?“, fragte er einsichtig.

„Es kann doch niemand anderer sein. Das Alibi ist gekauft. Klar will der um jeden Preis verhindern, dass er überführt wird, doch die Beweise sprechen für sich. Er ist es, wer sonst?“

„Also gut!“, sagte Koffner, „wenn es jemand weiß, dann du.“

Doch ich wusste es nicht. Der Grund, weshalb ich mich überzeugen ließ, es gäbe nur diesen einen Mann als meinen Widersacher, der nun in sicherem Gewahrsam war, schien in meinem angegriffenem Selbstbewusstsein zu liegen. Ich wollte nicht mehr verrückt sein, angeschlagen, traumatisiert, schizophren, was auch immer. Ich wollte nicht die Frau sein, die einen Verfolgungswahn hat, weil sie Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist. Nichts Dergleichen ist mir passiert, im Grunde ist gar nichts passiert. Drei Männer hatten mich belästigt, ausgezogen, dann bin ich ins Wasser gesprungen. Die Männer konnten mir nichts anhaben, denn ich bin entkommen. Sicherlich ist es nicht alltäglich im Winter in einen Fluss zu springen, doch es gibt auch Leute, die tun Derartiges freiwillig. Also: Ich bin nicht verrückt und deshalb wollte ich nicht mehr zweifeln an Dingen, die doch sehr offensichtlich waren. Ich wollte den Blick für die Realität als etwas behalten, das mein Leben lenkt.

Punkt um: Carsten Fischer saß im Gefängnis, deshalb war ich frei von jeglicher Bedrohung.

Damit lebte ich eine Zeitlang ganz gut. Ich genoss mein Leben, meine Freiheit, nutzte die Zeit, um ein besserer Mensch zu werden. Dies äußerte sich darin, dass ich meinem Job in der Gärtnerei nachging, dass ich keinen Alkohol trank, keine Drogen mehr nahm.

Manchmal kam mir mein Leben wie etwas Künstliches vor, als spielte ich die Hauptrolle in einem Theaterstück. Alle Figuren um mich herum stellten Gestalten dar, die nicht an mich herankamen. Sie waren um mich, sprachen mit mir, sahen mich an, doch in Wirklichkeit waren entweder sie nicht da oder ich nicht. Dennoch brauchte ich dieses Leben, genauso künstlich, wie es eben ablief.

Auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wurde ich erst wieder durch die bevorstehende Gerichtsverhandlung. Die Tage zuvor versuchte ständig Koffner mit mir zu sprechen. Was er mir sagen wollte, wusste ich nicht, ich wusste nur, es würde mich wieder abbringen wollen von meinem künstlichen Weg. Denn auch wenn Koffner ein Bulle war, ein Feind also, so war er doch Eines im Vergleich zum Rest der Welt: Lebendig.

Ich wollte mit Lebendigen aber nichts mehr zu tun haben, also wich ich ihm aus. Ich sprach nicht mit ihm, öffnete ihm nicht die Tür als er bei mir klingelte.

„Verdammt, Christine, es gibt etwas, das du unbedingt wissen musst, bevor du deine Zeugenaussage machst!“, schrie er, auf meinem Balkon stehend durch das gekippte Fenster.

„Verschwinde! Aber sofort! Sonst schalte ich einen Anwalt ein!“, drohte ich ihm und sperrte mich ins Badezimmer ein bis er weg war.

Kurz vor der Verhandlung sah ich ihn wieder. Auch er war als Zeuge geladen, kam aber nicht an mich heran. Ich hatte Christian und meinen Vater als Begleitung bei mir. Als wir kamen, hatten wir einen Gerichtsdiener mit zwei Wachen um uns herum. Ich wurde dem Staatsanwalt vorgeführt. Er begrüßte mich förmlich, reichte mir die Hand.

Koffner legte verzweifelt den Kopf in die Hände. Er trug einen schwarzen Anzug, die Krawatte saß schief. Er sah lächerlich aus in diesem Anzug, das passte nicht zu ihm.

Seine Augen waren sehr verzweifelt, er wirkte nervös. Weshalb nur? Konnte es ihm nicht egal sein, wie die Sache ausgeht? Er war doch auch nur Zeuge, ein unwichtiger noch dazu. Wenn er davon ausging, es wäre der falsche Mann, den sie da hatten, dann war das nicht sein Problem. Warum regte er sich überhaupt auf über die ganze Sache?

Die reine Neugier zwang mich schließlich, auf ihn zuzugehen, ihm in die Augen zu blicken, ihn anzusprechen.

„Was gibt es denn so Wichtiges?“, fragte ich ihn.

Er sah mich wütend an. „Das fragst du mich jetzt und hier? Jetzt ist es zu spät, verdammt!“, meinte er. Christian zog mich am Ärmel. „Wer ist der Mann?“, wollte er wissen.

„Er weiß sehr gut wer ich bin!“, erklärte mir Koffner.

„Was wolltest du mir so dringend sagen die ganze Zeit?“, fragte ich Koffner.

„Ich dir? Ich wollte dir nichts sagen, wie kommst du nur darauf? Wir sind schon lange fertig miteinander, Schätzchen, oder?“, entgegnete Koffner mit verzweifelten Augen.

Er spielte Christian etwas vor, tat so, als hätte ich eine Freundschaft mit ihm beendet. Weshalb musste er ihn täuschen? Was lief hier ab? Ich hatte keine Ahnung. Nun hätte ich wahrhaftig gerne einige klärende Worte von Koffner gehört, doch es war zu spät, er hatte Recht.

Christian und mein Vater nahmen mich mit sich und folgten dem Gerichtsdiener, hinter uns die beiden Wachen. Es war, als würde ich abgeführt werden, konnte nicht mehr flüchten, weder nach vorne noch nach hinten.

Wir mussten in einem Vorzimmer warten, nur wir Drei mit den Wachen, sonst war niemand mit im Raum. Es war wohl Absicht, dass wir von der Verhandlung nichts mitbekamen und nicht mit anderen Zeugen sprechen durften. Das Gericht wollte verhindern, dass ich in meiner Zeugenaussage von den Umständen beeinflusst werde.

Es dauerte zwei unendlich lange Stunden bis ich an die Reihe kam. Im großen Gerichtssaal war es eher leer, die Verhandlung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Wer mich sofort fixierte als ich den Raum betrat, war Carsten Fischer, er starrte mich seltsam durchdringend an, grüßte mich mit seinem Blick. Ich grüßte zurück. Christian brachte mich zu meinem Platz. Ich saß dem Richter gegenüber, den beiden Anwälten, den Protokoll-Damen und Gerichtsdienern. Der Angeklagte saß seitlich links von mir in gebührlichem Abstand, aber ohne Handschellen. Zunächst wurde ich vereidigt, dann durfte ich mich setzen. Etwas nervös blickte ich hinter mich. Hier saßen einige Leute, die ich nicht kannte, aber auch welche, die mir sehr wohl bekannt waren. Es war mein Psychiater da, einige Polizei-Beamte, ein Chef-Arzt aus dem Krankenhaus, in dem ich vor einigen Wochen war. Dann entdeckte ich Koffner, er saß zwischen den Kollegen von der Einsatztruppe, sein Blick musterte mich besorgt.

Der Richter wollte, dass ich den Angeklagten identifiziere. Dann wurde die Zeichnung, die ich angefertigt hatte, mit einem Beamer an die Wand geworfen. Ich musste erklären, dass ich selbst das Bild gezeichnet hatte und weshalb. Bisher hatte ich nur Rede und Antwort gestanden, antwortete auf alle Fragen des Richters oder des Staatsanwalts mit 'ja'.

Später war der Anwalt des Angeklagten an der Reihe mich zu befragen. Er zweifelte erst an, dass das Bild aus meiner Hand stammt, da ich ja nicht professionell zeichnen kann. Dann stellte er fest, dass es zu dunkel gewesen sein musste, um den Mann auf winterlicher Straße wirklich erkennen zu können. Danach versuchte er mir zu entlocken, woher ich den Mann auf dem Bild wirklich zu kennen glaubte, ohne Erfolg.

Ich log nicht, mit keinem Wort, ich sagte bei allem die Wahrheit, man fragte mich nur nach den Fakten. Es war einfach hier zu sprechen, sie machten es mir alle leicht, sogar der Anwalt des Angeklagten.

Zuletzt aber fragte mich plötzlich der alte Richter etwas, das mich in Unruhe versetzte:

„Nur noch ganz kurz Frau Mertens, wir wollen Sie ja nicht länger festhalten als nötig, aber bevor Sie gehen, müssen Sie mir bitte noch eine Frage völlig ehrlich beantworten. Lassen Sie sich ruhig Zeit mit der Antwort, das ist jetzt sehr wichtig“.

Ich blickte etwas eingeschüchtert in diese faltigen, weisen Augen. Der Mann sah streng aus und müde, doch er hatte eine Ausstrahlung wie der liebe Gott, der Richter zwischen Gut und Böse. Er sprach:

„Sind Sie der Ansicht, dass der Angeklagte, der hier auf seinem Stuhl vor Ihnen sitzt, der Mann ist, der Sie am 24.01.2010 in München Mitte, Nähe Isar-Brücke, überfallen hat, gemeinsam mit zwei weiteren Männern, Ihnen die Kleider vom Leib gerissen hat, die Unversehrtheit Ihres Körpers derart massiv bedroht hat, dass Sie sich gezwungen sahen, sich durch einen Sprung von der Brücke ins eiskalte Wasser vor seinen Übergriffen zu bewahren? Ist er es oder ist er es nicht?“

Die Augen des Richters nahmen mich in die Mangel, der Mann hatte meine Unsicherheit von Anfang an bemerkt. Er wusste sehr gut, dass ich unter dem Einfluss der Menschen um mich her stand, im Grunde nicht fähig war, eine eigene Meinung kund zu tun. Doch vielleicht jetzt, nach dieser Frage.

Ich wich seinem Blick aus.

„Lassen Sie sich ruhig Zeit“, wiederholte er sich.

Christian hatte meinen Arm an sich genommen, wollte mir helfen das durchzustehen. Dann fühlte ich einen angsterfüllten Blick auf mir ruhen, starrte in Richtung des Blickes, zu Carsten Fischer. Er schwitzte, seine Augen bettelten mich an. Was würde er bekommen, wenn ich jetzt sagte, dass er es war? Lebenslänglich? Was würde er bekommen, wenn ich sagte, dass er es nicht war? Sein Leben lag in meiner Hand. Doch hatte nicht auch meines schon in seiner Hand gelegen? Er hätte mich nicht verschont damals. Wenn er frei kommt nach seiner Haftstrafe, wird er Rache nehmen. Wenn er nur wegen des Überfalls in meiner Wohnung verurteilt wird, dann kommt er sogar sehr bald wieder raus. Hatte ich Angst vor ihm? Würde mich Koffner dann wieder schützen? Am liebsten hätte ich Koffner nun gefragt, ob er mich schützt, sorgte ich nun dafür, dass Fischer verschont wird.

Ich blickte in Koffners Augen. Er hätte mir nun gerne etwas gesagt, doch das ging nicht. Sein schwarzer Konfirmanden-Anzug war nicht mehr ganz neu, auf seinem Hemdkragen lag ein sanfter Grau-Stich. Ich wusste irgendwie, was er mir so dringend hätte sagen wollen.

Ich aber tat es nicht für ihn, nicht für Fischer, ich tat es, weil ich ein Mensch bin, der nicht mit der Polizei zusammenarbeitet, der nicht der Ansicht ist, Strafe hätte etwas mit Gerechtigkeit zu tun, ich sagte:

„Ich glaube nicht, dass Carsten Fischer der Mann ist, der mich am 24.1.2010 in München an der Isar-Brücke überfallen hat.“

Sofort gab es ein entsetztes Stimmen-Wirr-Warr. Alle redeten auf mich ein, gaben entsetzte Töne von sich.

Die Augen des Angeklagten rissen auf, der Richter schloss die Augen, Koffner starrte mich überrascht an, Christian und mein Vater riefen laut dazwischen, ich würde das gleich wieder zurücknehmen.

Der Richter mahnte zur Ruhe.

„Sind Sie sich sicher?“, fragte er mich.

„Nein“, antwortete ich, „ich bin mir nicht sicher, dass er es nicht ist. Aber Sie haben mich gefragt, was ich glaube und ich glaube, dass er es nicht ist.“

Dann kamen Fragen über Fragen der beiden Anwälte, die Verhandlung eskalierte.

Christian und Dr. Huber schafften es schließlich, eine Vertagung zu beantragen. Es müsse erst geprüft werden, ob ich psychisch überhaupt in der Lage bin, eine derartige Aussage zu machen.

Als ich das Gebäude verließ, fühlte ich mich besser: Die meisten Anwesenden waren entsetzt über mein Verhalten, doch nicht alle, für einen Mann jedenfalls waren meine Worte ein Weg aus der Finsternis.

Die Welt war gegen mich, man redete auf mich ein, bearbeitete mich, bereitete mich auf den nächsten Verhandlungstag vor. Mein Problem war nicht, dass ich nicht fähig war, mich durchzusetzen, mein Problem war die Gratwanderung im Umgang mit der Psychiatrie. Mein Psychiater wollte ein Gutachten erwirken, aus dem hervorging, dass ich nicht in der Lage war, eine Aussage zu den Geschehnissen zu treffen. Das Gutachten sollte mir meine Stimme nehmen, meine Zeugenaussage als ungültig zählen lassen.

Ich wollte nicht, dass es ein derartiges Gutachten gibt, doch wie sollte ich mich wehren? Für einen Anwalt hatte ich kein Geld, mein näheres Umfeld war gegen mich. Alle, meine Familie, die Ärzte, die Polizei und sogar Jessi, meine Haushälterin, die einzige Freundin, die ich derzeit hatte, waren alle auf der Seite der Staatsanwaltschaft. Sie drängten mich dazu, Carsten Fischer mit meiner Aussage dingfest zu machen, dann gäbe es auch dieses Gutachten nicht.

Es war verrückt, sie hatten Recht: Wenn ich klein beigeben würde, dann würden die Ärzte dieses Gutachten gar nicht erst erstellen, denn dann brauchten sie es nicht für die Gerichtsverhandlung.

Was sollte ich also tun? Ich war vernarrt darin, nicht mehr als Verrückte dazustehen. Außerdem war ich vernarrt darin, bei meiner Aussage zu bleiben. Mittlerweile war ich einigermaßen selbst davon überzeugt, dass Carsten Fischer nicht der Mann ist, der mir diesen Überfall im Winter angetan hat.

Ich rief Koffner an. Er stimmte sofort zu, sich mit mir zu treffen. Eine halbe Stunde später stand er bei mir vor der Tür, ich ließ ihn ein und bat ihn im Wohnzimmer Platz zu nehmen.

„Ich bin neugierig, weshalb brauchst du mich jetzt doch?“, fragte er provokant.

Damit hatte ich nicht gerechnet, dass er feindselig war. Ich hätte gedacht, er wäre auf meiner Seite, er könnte mir helfen, mit all den anderen Menschen fertig zu werden. Ich hätte heulen können nach diesem ersten Satz aus seinem Mund.

„Was wolltest du mir sagen über Carsten Fischer?“

„Du wirst wohl deine Aussage wieder revidieren, oder?“, entgegnete er.

„Nein, werde ich nicht. Aber ich denke, man wird es so kommen lassen, dass die Aussage entweder ungültig ist oder revidiert wird.“

„Ach deshalb brauchst du mich jetzt?“, fragte er.

„Ich will nur wissen, ob es etwas gibt, das du über Carsten Fischer weißt, das ich noch nicht weiß. Du sagtest doch, er konnte mich im Januar nicht überfallen haben, weil er zu der Zeit in USA im Knast saß. Weshalb kommt das bei der Verhandlung eigentlich nicht zur Sprache? Das würde ihn doch sehr entlasten, absolut quasi.“

Er lachte verächtlich auf. „Genau das wollte ich dir immerzu sagen, doch du hast mir keine Chance dazu gegeben: Das Alibi war gekauft, es ist ein falsches Alibi. Fischer hatte seinen Aufenthalt in München zum fraglichen Zeitpunkt.“

„Was?!“, ich starrte ihm entsetzt in die Augen, „aber dann...“, ich sprach nicht weiter.

Ich sah das Gesicht meines Angreifers vor mir, das Gewaltverlangen in seinen Augen. Dann dachte ich an Carsten Fischer in meiner Wohnung mit dem Messer in der Hand. Ich sah sein Gesicht als er mich im Gefängnis nach einer Zigarette fragte.

„Er ist es, Christine, du hast dich ganz umsonst für ihn eingesetzt.“, sagte Koffner und schluckte.

Diese Worte gingen ihm nicht gerne über die Lippen. Ich hatte sogar jetzt noch den Eindruck, er wäre von seinen eigenen Worten nicht überzeugt. Nun war ich mir noch unsicherer als zuvor.

„Ich verstehe nicht, weshalb er bei mir in der Wohnung war, mich zwingen wollte, meine Aussage zu revidieren.“, erklärte ich.

„Er wollte eben verhindern, dass genau dies passiert, was jetzt geschehen ist, dass er im Gefängnis sitzt wegen seiner Taten. Er wollte den einzigen Zeugen, den es gibt, dazu bringen, für ihn auszusagen. Das ist ein ganz normales Verhalten, schließlich machen das die anderen Beteiligten auch alle so. Oder etwa nicht?“

„Ja, sie wollen alle, dass ich für sie spreche. Ich soll das sagen, was für ihre Interessen das Beste ist.“, sprach ich, stand auf und stellte mich ans Fenster.

Jetzt war irgendwie alles vorbei, der Kampf war aus. Im Grunde war es schrecklich, so verloren zu haben, doch hatte es auch etwas Gutes: Es gäbe dieses Gutachten nun nicht, ich würde funktionieren wie jeder es von mir verlangte, sie wären wieder zufrieden mit mir.

Ich blieb wortlos am Fenster stehen, starrte auf die leere Straße unter mir. Nun war es Sommer, alles friedlich und ruhig, die Ereignisse vom Januar lagen schon weit in der Vergangenheit. Ich sollte diese verdammte zweite Verhandlung hinter mich bringen und dann meinem gewöhnlichen Leben weiter nachgehen. Die künstliche Welt wird mich wieder haben, ich werde leben wie ich soll, ganz normal, so muss es sein. Auch wenn mich diese Gedanken in eine Art Ruhe hüllten, so machten sie mich aber nicht richtig glücklich.

Eine Träne bahnte sich gerade ihren Weg nach unten, da stand Koffner plötzlich hinter mir. In all meiner Wehmut hatte ich ganz vergessen, dass er hier war. Wie konnte ich nur vergessen, dass ein Bulle in meinem Wohnzimmer steht? Was ist bloß geworden aus mir?

Jetzt fasste er mich auch noch an, nahm mich bei den Schultern, vermutlich um zu trösten.

„Loslassen!“, sagte ich.

Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich vor Augen, wie er sich an der Ausgangstür dieser Wohnung zusammen mit mir auf den Boden warf, um mich vor Carsten Fischer zu schützen. Lächerlich! Seine Kollegen im Hintergrund hätten Fischer auch überwältigen können, ohne dass mir etwas passiert, wenn Koffner nicht da gewesen wäre. Er fühlte sich als Held, doch er war nur ein Bulle, ein Scheiß-Bulle.

Er ließ mich los. „Entschuldige.“, sprach er, „ich wollte dir nur noch etwas sagen, bevor ich gehe: Ich meine, du solltest dich nicht für verrückt erklären lassen von den Menschen um dich herum. Was ich vor mir sehe, ist eine junge Frau mit sehr viel Mut, Ehrlichkeit und Rückgrat. Du kannst nichts dafür was dir passiert ist; lasse dich nicht aburteilen von den höher gestellten Personen um dich herum. Du bist auch wer, nicht nur die anderen.“

„Ich? Für euch Polizisten bin ich doch immer nur der Abschaum, mit dem ihr euch herumschlagen müsst.“, sprach ich überzeugt.

„Sieh die Polizei nicht als gesichtslose Übermacht. Für dich sehen sie alle gleich aus, wenn sie dich des Nachts betrunken aufgreifen. Da kommen die Männer mit der Uniform. Doch in jeder Uniform steckt auch ein Mensch mit einer eigenen Meinung, Schwächen und Stärken. Wenn du die Polizei nicht mehr als unüberwindliche Mauer sehen willst, dann achte auf ihre Schwächen, nicht auf ihre Stärken. Vor allem du hättest allen Grund dazu.“

Mit diesen letzten verwirrenden Worten ließ er mich allein zurück, verschwand wieder aus meinem Leben. Sogar bei der zweiten Verhandlung war er nicht da.

Ich bestätigte den Menschen um mich her eindeutig, dass Carsten Fischer mich im Winter überfallen hat, gemeinsam mit zwei weiteren Männern.

Bei der zweiten Verhandlung war Fischer nicht anwesend. Es waren nur der Richter, die Anwälte und zwei Gerichtsdiener da, Wachen an der Tür. Sie wollten, dass ich mich nicht unter Druck gesetzt fühle, wenn mich so viele Leute sehen bei meiner Aussage. Doch das war nun egal, ich sagte ohnehin, was jeder wollte. Ich war wirklich ganz froh, dass ich Fischer nicht in die Augen blicken musste dabei.

Danach war jeder glücklich, dass es vorbei war. Ich kehrte in meine künstliche Welt zurück, köpfte Lilien und Rosen für meine Kunden. Besonders gut war ich nicht darin, Schnittblumen zu Sträußen zusammen zu stellen. Irgendwie mochte ich die Arbeit mit dem Messer nicht. Mir war es lieber, lebendige Pflanzen zu pflegen, sie wachsen und gedeihen zu lassen unter meiner fürsorglichen Obhut. Wenn ich meine Pflanzen verkaufte, egal ob es junge Tomaten waren oder auch Moos-Röschen, so war ich immer stolz auf meine Zöglinge. Ich gab sie gerne in gute Hände. Man sieht es den Leuten an, ob sie gut sind zu Pflanzen oder ob sie das Gewächs nur als leblose Sache ansehen. Doch egal wie sie meine Zöglinge sehen, sie werden sie gut behandeln müssen, denn sonst erfüllen sie ihren Zweck nicht. Wenn meine Kunden wollen, dass die Pflanzen wachsen und gedeihen, so müssen sie sich um sie sorgen, ihnen bleibt keine Wahl. Ja, ich hatte mich identifiziert mit der Welt der Pflanzen. Die sind umso viel harmloser und friedlicher als die Menschen.

Doch ich kam auch gut zurecht mit meinen Kolleginnen hier. Wir hatten nur einen einzigen Mann in der Gärtnerei, wie so oft: Der Chef.

Der Chef war nett, doch ich hatte kaum zu tun mit ihm. Seine Frau, die Chefin Helga, war immer sehr geschäftig und kommandierte den ganzen Tag herum. Sie hatte alles fest unter ihrer Kontrolle. Es wäre oft nicht nötig gewesen, Anweisungen zu erteilen, manche Dinge funktionieren einfach so, doch es war schon gut, dass sie da war. Wenn sie fehlte, waren wir wie eine Herde ohne ihren Hirten.

Die Herde bestand aus zwei Landschaftsgärtnerinnen, fünf Arbeiterinnen, mich mitgezählt und zwei Lehrlingen. Ich war mit meinen einundzwanzig Jahren die jüngste Arbeiterin, die anderen Frauen hatten alle schon Familie mit erwachsenen Kindern.

Sie wussten sehr wohl was mir widerfahren war, hatten alles genau mitverfolgt, doch sie wagten es nicht, mich darauf anzusprechen. Die einzige Person, mit der ich darüber gesprochen hatte, war Jessi, doch die traf ich jetzt nicht mehr. Eine Haushaltshilfe war nicht mehr nötig, ich stand wieder auf eigenen Beinen.

Natürlich hatte ich noch meinen Psychologen Christian, zu Dr. Huber ging ich nun nicht mehr. Christian versuchte immer noch mit mir zu erläutern, weshalb ich zwischenzeitlich vor Gericht bekannte, Carsten Fischer wäre nicht der Mann, der er sein sollte. Er bezeichnete diese Äußerung meinerseits im Angesicht des Hohen Gerichts als einen Schritt zurück in der Genesung meiner angegriffenen Psyche.

Ich hätte sehr gerne die Sitzungen mit ihm ruhen lassen, doch er bestand immerzu darauf, dass ich zweimal die Woche bei ihm erschien. Er sagte, es sei ihm absolut wichtig, denn ich wäre noch nicht gesund.

Ich gab also nach. Irgendwie tat es ja auch ganz gut mit jemandem zu reden.

Als ich ihm sagte, dass ich mich schlecht fühle, weil Carsten Fischer zu zehn Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt wurde, nur wegen mir, wurde Christian nahezu ungehalten.

„Weißt du, weshalb er dieses Urteil bekommen hat? Wegen versuchter Vergewaltigung mit Todesfolge. Wenn du nicht wie durch ein Wunder entkommen wärst, dann hätte er dich grausam ermordet. Ist dir das klar? Warum hast du Mitleid mit jemandem, der dich grausam zu Tode foltern wollte?“, fragte er aufgeregt.

„Und wenn er es tatsächlich nicht war?“, entgegnete ich.

„Du weißt doch jetzt, dass er es war. Außerdem hat er dein Leben ein zweites Mal bedroht, oder etwa nicht? Auch in deiner Wohnung hat er dich verletzt.“

„Dafür sitzt er aber nicht diese zehn Jahre.“

„Was soll das, Christine? Wieso kommst du da nicht raus? Weshalb glaubst du immer noch an irreale Dinge frage ich mich? Sollte sich das nicht bald bessern, dann musst du wieder medizinisch behandelt werden, ist dir das klar?“

Es klang wie eine Drohung. So hatte ich Christian noch nicht erlebt. Ging ihm tatsächlich die Geduld mit mir aus? Was war los mit ihm?

Ich googelte ihn. Er war nirgendwo als Psychologe niedergelassen. Dann besah ich mir seine Visitenkarte. Hier stand „Dipl.-Psych. Christian Lange, Adresse, Handy-Nummer, Fax, Email, aber keine Hinweise bezüglich einer Praxis, auch keine Homepage.

Wenn ich zu ihm ging, empfing er mich in einer normalen Wohnung. An der Tür hing ein goldenes Schild mit seinem Namen: Christian Lange, Diplom-Psychologe. Mehr nicht.

„Bin ich eigentlich deine einzige Patientin?“, fragte ich ihn.

Er lachte. „Wie kommst du nur darauf? Weil ich kein Wartezimmer habe? Ich mache meine Termine immer so aus, dass die Patienten sich nicht ablösen. Zwischen zwei Terminen habe ich mindestens eine halbe Stunde frei. Das brauche ich, um hier zu lüften, um mir Notizen zu machen und letztendlich, um den einen Fall in meinem Kopf niederzulegen und mich auf den nächsten einzustellen. Verstehst du was ich meine?“

Ich stimmte zu. Doch unser Verhältnis war seltsam, auch in den kommenden Sitzungen. Mir kam es vor, als hätte Christian etwas zu verbergen, er verbot es mir jedoch danach zu fragen.

Eines Abends beschloss ich, meinem künstlichen Leben ein wenig zu entkommen. Ich ging nach der Arbeit nicht nach Hause, sondern in eine Musik-Kneipe. Ich wusste, dass meine alten Leute hier oft sind. Meine Freunde von früher trinken Alkohol, rauchen Pott, ziehen sich weißes Pulver in die Nase, machen lange Finger im Supermarkt und reißen bei den Bonzen-Autos die Sterne ab.

Nun ja, ich wollte nicht mehr dazugehören, nicht nach dem was ich erlebt hatte. Zum Ersten hatte ich ja andauernd mit Polizisten zu tun. Ich hätte meine Freunde nur unnötig in Gefahr gebracht, wenn ich mich in ihrer Nähe aufgehalten hätte. Zum Zweiten gab ich mir manchmal die Schuld an allem. War es nicht so, dass ich beinahe jeden Abend nachts in der Stadt betrunken nach Hause wackelte? Da treiben sich eben solche Leute wie Carsten Fischer herum, es musste irgendwann etwas passieren. Ich sollte ausschließen, dass es nochmal geschieht.

Heute dachte ich mir, werde ich nicht über die Stränge schlagen. Doch ich musste mal raus aus dem künstlichen Leben.

Zunächst traf ich auf Heike und Andy. Sie waren sehr betrunken. Er spielte wieder den Macho und hatte ein junges Mädchen im Arm. Doch diese Leute freuten sich als sie mich sahen, luden mich ein auf Bier und Schnaps, fragten mich über die Geschehnisse aus.

Es tat gut mit ihnen zu sprechen. Endlich gab es jemanden, der sich für mich selbst interessierte und nicht nur für meine Widersacher.

„Was ich nicht verstehe“, meinte Mario, die später dazugekommen war, „warum suchen sie nicht nach den anderen beiden Männern, die dabei waren in der Winternacht? Die sind doch ebenso schuldig, die hätten dich auch bei minus 10 Grad auf der Straße vergewaltigt und wahrscheinlich danach erschlagen. Oder etwa nicht? Wenn die Bullen, wie du sagst, sicher gehen wollten, dass der Verbrecher gefasst wird, damit er niemandem mehr etwas antun kann, dann ist aber immer noch niemand sicher, weil die beiden anderen Männer völlig unbekümmert frei herumlaufen.“

„Vielleicht versuchen sie die Namen aus Carsten Fischer herauszuquetschen“, meinte Andy, „die haben da ihre Methoden.“

Es tat verdammt gut mit normalen Leuten zu sprechen, ohne Hemmungen, ohne Lügen, einfach frei heraus.

„Vielleicht ja. Mario hat Recht. Was machen sie mit den anderen beiden? Weshalb werden die nicht verfolgt?“, fragte ich in den Raum und mich selbst.

In derselben Nacht hörte ich den Anrufbeantworter ab. Hier gab es eine Nachricht von unbekannter Herkunft. Als ich die Stimme hörte, erschrak ich entsetzlich.

Es war die Stimme des Mannes, der mich überfallen hatte: „Wenn du denkst, die Sache wäre vorbei, dann täuscht du dich. Ich komme wieder! Dieses Mal entkommst du mir nicht!“, sprach er. Das war alles.

Ich hörte die Nachricht immer und immer wieder ab. Dabei wurde mir klar: Diese Stimme gehörte nicht Carsten Fischer, wohl aber dem Mann, der mich überfallen hat.

Ich rief Koffner an.

Er ging nicht ran mitten in der Nacht, ich sprach ihm auf Band. Doch noch bevor ich fertig war zu sprechen, meldete er sich.

„Lass dich nicht verrückt machen von irgendwelchen Idioten“, sprach er, „deine Geschichte ist überall bekannt, der Anruf ist sicher nicht echt.“

„Doch das ist er, ich erkenne die Stimme. Ich hätte bei der Wahrheit bleiben sollen, Carsten Fischer ist der Falsche“, plapperte ich aufgeregt.

Koffner kam zu mir, mitten in der Nacht. Wir hörten uns die Ansage einige Male an. Dann setzte er sich an den Tisch, warf die Stirn in Falten, stützte den Kopf ab.

„Du bist sehr müde, tut mir leid, dass ich dich überredet habe zu kommen...“, fing ich einen Satz an, weil ich mich schlecht ihm gegenüber fühlte.

„Dich trifft keine Schuld, ganz sicher nicht. Ich weiß nur im Augenblick nicht was ich denken soll.“

„Glaubst du mir denn, dass dies der Mann ist und nicht Carsten Fischer?“, fragte ich verzweifelt.

Ob ich es nun wollte oder nicht, Koffner war der einzige Mann, der mir helfen konnte. Auch wenn er es letztendlich bestritten hatte, so hatte er, das fühlte ich, ebenfalls daran geglaubt, dass Carsten Fischer der falsche Mann war.

„Ich glaube es dir nicht nur, ich weiß es. Was ich aber nicht verstehe, ist dass du diesen Anruf bekommen hast.“

„Was soll das heißen?“, fragte ich unverständig.

Er antwortete nicht, seine Reaktion war derart seltsam, dass ich mir sicher war, es gab etwas, das er mir verschwieg in dieser Sache. Gab es ein Geheimnis? Warum aber bemühte sich Koffner um mein Wohlergehen, wenn er mich doch hinterging?

„Dieter?“, holte ich ihn aus seinen Gedanken. Wieder kam es mir seltsam fremd vor, ihn bei seinem Vornamen zu nennen.

„Entschuldige“, entgegnete er schließlich, „das hat sich jetzt wohl sehr dumm angehört für dich.“, meinte er etwas unsicher.

„Dumm nicht, nein, eher interessant“, meinte ich.

„Ich werde versuchen in Erfahrung zu bringen, ob Carsten Fischer die Möglichkeit hatte, dich vom Gefängnis aus anzurufen oder ob er jemanden beauftragen konnte, dies zu tun. Wenn nicht er, dann war es wohl ein Trittbrettfahrer in Sachen 'dem Opfer Angst machen':“, erklärte er.

„Nicht dein Ernst!“, rief ich aus. „Eben wolltest du mir noch helfen, jetzt lügst du mich an!“

Er warf die Stirn erneut in Falten, sein Blick war müde und besorgt. Er stöhnte, lehnte sich nach vor, stützte den Kopf ab.

„Ich bekomme auch immer Kopfschmerzen, wenn ich jemanden, der mir sein Vertrauen geschenkt hat, aufs Ärgste hintergehe“, erklärte ich sarkastisch.

„Sagtest du gerade, du hättest mir dein Vertrauen geschenkt? Für dich bin ich doch nur ein Scheiß-Bulle, oder etwa nicht? Von wegen Vertrauen!“, gab er contra.

Ich schüttelte verächtlich lachend den Kopf. „Du willst den Kopf aus der Schlinge ziehen, indem du mir die Schuld zuschiebst? Los, raus mit der Sprache! Sag' mir jetzt gefälligst, wer der Andere ist!“, befahl ich ihm.

„Welcher andere?“, meinte er unschuldig.

„Du weißt sehr gut was ich meine! Zu wem gehört die Stimme auf dem Band? Du weißt es, doch du willst es mir nicht sagen. Ich verstehe nicht, dass das ein Problem ist. Wenn die Polizei weiß oder zumindest du es weißt, dass Carsten Fischer der Falsche ist, weshalb wurde er dann rechtskräftig verurteilt, der wahre Täter läuft aber frei herum?“

„Eben, du hast es selbst gesagt, so ist es nicht, weil es die Polizei nicht zulassen würde. Wir verurteilen nicht den Falschen zu zehn Jahren Knast und lassen den wahren Täter entkommen.“, erklärte er eindringlich, war aufgestanden und laut geworden.

„Und du? Würdest du es zulassen?“, fragte ich ebenfalls sehr laut.

„Nein! Natürlich nicht!“, schrie er mich an.

Wir tauschten einen Blick voller Hass und Wut. Ich war wütend, weil ich wusste, dass er log. Koffner tat etwas, das ihm absolut gegen den Strich ging, doch er tat es sehr konsequent. Es musste wahrhaft viel auf dem Spiel stehen für ihn, sonst würde er sich anders verhalten. Ich war mir nun absolut sicher, dass er den wahren Täter kannte, ihn mir aber nicht verraten würde. Er ging wieder auf die Couch zu, trank die Cola leer, die ich ihm gebracht hatte, suchte nach seiner Jacke. Er wollte weg, möglichst schnell, ohne reden zu müssen.

Ich musste eine neue Taktik versuchen, wenn nicht Peitsche, dann Zuckerbrot. Als er sich bückte, um die Jacke vom Sessel zu nehmen, fasste ich ihn am Arm an, sah ihm ins Gesicht.

„Du wirst mich doch weiter schützen vor dem Mann, der mich bedroht, oder?“, fragte ich hilflos.

„Der sitzt hinter Gittern, wie soll er dich noch bedrohen?“, entgegnete er zornig.

Ich hatte mich umsonst bemüht, weshalb sollte Koffner mir auch helfen wollen, wenn er nicht von seinen Vorgesetzten dazu beauftragt wurde? Für ihn war der Auftrag abgeschlossen. Auch wenn die Wahrheit anders aussah, wenn es tatsächlich noch jemanden gab, der mir an den Kragen will, Koffner hatte nicht mehr den Auftrag mich zu schützen.

Mir blieb also die Angst vor dem Mann am Telefon. Und mir blieb die Frage, wer er wirklich war. Was mir zudem noch blieb, war das schlechte Gewissen, dass der falsche Mann hinter Gittern saß. Carsten Fischer büßte die Strafe für ein Verbrechen ab, das er nicht begangen hatte, ein Verbrechen an mir.

Als ich einen weiteren Anruf bekam mit einer Drohung, dass noch etwas offen stünde zwischen uns beiden, da sah ich dieses Gesicht vor mir. Zunächst fing ich wieder an, das Bild von dem Mann erneut zu zeichnen. Als ich mein Werk betrachtete, fiel mir auf, dass auch dieses Bild wieder sehr genau getroffen war. Weshalb konnte ich dieses Gesicht so gut malen? Ich sollte es wohl nicht vergessen, das Gesicht, das nicht zu Carsten Fischer gehört, obwohl es ihm so ähnlich war.

Nach dem nächsten Anruf, die Worte wurden immer bedrohlicher, fasste ich einen Entschluss: Ich musste selbst der Sache auf den Grund gehen.

Was ich zunächst tat, war es, einen Termin mit Christian Lange zu vereinbaren. Die Therapie war seit einigen Wochen beendet, doch er stimmte einem Treffen zu. Er empfing mich privat, nicht in seiner Praxis, wie er es nannte. Als ich ihn danach fragte, sagte er, die Praxis ziehe um, zwischenzeitlich pausieren die Therapie-Sitzungen mit seinen Patienten.

„Und deinen Patienten macht das nichts aus? Wie lange müssen sie denn warten, bis sie ihre Therapie fortsetzen können?“, wollte ich wissen.

„Sie müssen einige Wochen warten, warum fragst du mich das?“, entgegnete er.

„Ich bin deine einzige Patientin gewesen, nicht wahr? Gib 's zu!“, meinte ich.

„Wie kommst du nur darauf?“, meinte er.

„Du stehst mit deiner Praxis nicht im Internet, nirgendwo bist du als Psychologe registriert. Da stimmt doch was nicht!“, erklärte ich energisch.

„Weißt du was ich denke? Du hast immer noch ein Problem! Deine Neigung zu denken, man täuscht dich, verfolgt dich, hat sich gegen dich verschworen, allgemein als Verfolgungswahn bekannt, hat sich eher verschlimmert als verbessert. Wir hätten die Therapie nicht schon so früh beenden dürfen.“

„Ach?“, entgegnete ich, „dann setzen wir sie doch fort.“

„Meine Praxis ist im Augenblick geschlossen, das weißt du doch. Eben hatte ich dir das gesagt. Kannst du dich nicht daran erinnern?“, fragte er besorgt.

„Ich könnte doch hierher kommen, um die Therapie fortzusetzen“, schlug ich vor.

„Das geht nicht, Christine. Aber die Idee ist auf alle Fälle gut. Ich werde zusehen, dich an einen Kollegen zu überweisen.“

„Und wenn ich zu dir wollte und zu sonst keinem?“, meinte ich.

„Das willst du doch gar nicht. Du willst irgendetwas anderes damit beweisen, bist feindselig mir gegenüber. Was ist los?“

„Also gut, sprechen wir offen: Ich denke, ich könnte dich gar nicht mehr konsultieren, weil du kein Psychologe bist. Du warst nur da, um meine Aussage vor Gericht in eine bestimmte Richtung zu lenken. Es sollte Carsten Fischer als der Täter vor Gericht erkannt werden, damit es nicht aufkommt, wer der wahre Täter ist.“

„Du brauchst unbedingt Hilfe“, meinte er mit runzelnder Stirn und schrieb etwas auf einen Block.

„Ja, die bräuchte ich, um mich vor dem Täter schützen zu können, doch die bekomme ich nicht, weil jeder, inklusive der Polizei, aus irgendeinem unerfindlichen Grund dazu gezwungen ist, an der Wahrheit vorbei zu denken.“

Wir verabschiedeten uns sehr unfreundlich im Streit. Er sagte, Dr. Huber wird sich bei mir melden. Er drohte mir sogar mit einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, natürlich unter dem Vorwand, es wäre jetzt das Beste für mich.

Ich hatte ein wenig Angst, er könnte es erwirken, dass ich gegen meinen Willen eingewiesen werde. Wen hatte ich denn noch, der auf meiner Seite wäre, der zu mir hält? Niemanden! Immer mehr sah ich mich einer feindlichen Welt gegenüber, die mich eingekreist hat.

Als ich von Christian mit dem Nahverkehr nach Hause fuhr, was es 22:00 Uhr. Das mag sehr spät sein für einen Termin beim Psychologen, doch im Grunde war es nicht allzu spät, um abends nach Hause zu kommen. Mit einer Belästigung betrunkener Männer in der Nacht sollte man um diese Uhrzeit noch nicht zu rechnen haben.

Es passierte aber etwas: Gerade als ich an der Brücke vorbeikam, in der ich in dieser schrecklichen Winternacht in den Tod gesprungen war, hörte ich etwas von hinten auf mich zu kommen.

Ich drehte mich um, es war niemand hier, ich war ganz allein. In den Häusern auf der anderen Seite des Flusses brannte kein Licht, alles schlief. Es war seltsam unheimlich. Weshalb war es unheimlich?

Da war es wieder: Das Gefühl, das man hat, wenn das Leben bedroht wird; das Gefühl, welches ich hatte als ich in diesen Fluss sprang; ich hatte es zum allerersten Mal als ich sieben Jahre alt war.

Weshalb, verdammt hatte ich jetzt in der harmlosen Stille dieses Gefühl?

Plötzlich wurde ich von hinten gepackt. Mit einem Ruck, drückten starke Männerarme schmerzhaft meinen Bauch zusammen und schnürten mir dann mit einem Tuch die Luft ab. Man zwang mich in die Knie. Es war schrecklich, ich zitterte am ganzen Leib. Was passierte nur schon wieder?

Ich versuchte durch Ziehen an dem Tuch um meinen Hals, meine Atemluft wieder zu erlangen, strampelte, schlug um mich, kämpfte den alten Kampf ums Überleben. Auch bei diesem Überfall fühlte ich die Bedrohung meines Lebens als etwas unsagbar Grausames.

Doch plötzlich, wie aus dem Nichts, war die Polizei da. Ein Auto mit Blaulicht und Sirene verscheuchte meinen Angreifer. Zwei Mann sprangen aus dem Wagen, dann fuhr das Auto weiter, um die Verfolgung aufzunehmen.

Ich kauerte am Boden und rang noch immer nach Luft.

„Wie geht es Ihnen?“, fragte einer der Männer, beugte sich hinunter zu mir, versuchte mich niederzulegen, um Erste Hilfe zu leisten.

Der andere Mann rief über Funk einen Krankenwagen herbei, ich erkannte seine Stimme sofort: Es war Dieter Koffner.

So seltsam es doch war, dass er so schnell zur Stelle war, obwohl er behauptet hatte, er müsse mich nicht mehr schützen, ich verschwendete keinen Gedanken daran. Ich war einfach nur froh, dass er da war.

Ich wünschte mir tatsächlich, dass er mich nach Hause bringen würde, er stellte meine Sicherheit dar. Der Schrecken über die Geschehnisse saß mir in allen Gliedern. Ich konnte mich kaum auf Beinen halten, deshalb klammerte ich an seinem Arm fest.

„Der Krankenwagen ist gleich da“, sagte er.

„Nein“, meinte ich nur, ich konnte kaum sprechen.

Ich hatte eine Art Schock-Zustand, der mit sich brachte, dass ich alles um mich her fürchtete. Ich konnte es mir nicht vorstellen, in einem Krankenwaren zu sein, weggebracht zu werden. Ich konnte mir gar keinen Ort mehr vorstellen, in dem ich sicher wäre. Ich fuhr entsetzt zusammen, als der Sanitäter meinen Kopf anhob. Koffner hielt mich fest. Weshalb war er eigentlich noch hier?

Wieder dasselbe Theater: Ich weigerte mich, in den Krankenwagen zu steigen, Koffner überredete mich.

„Du bist im Krankenhaus jetzt sicherer aufgehoben“, sprach er.

„Weshalb warst du so schnell hier?“, fragte ich ihn als er mich am nächsten Tag an meinem Bett besuchte, Blumen in der Hand.

„Es war ein glücklicher Zufall, dass wir so schnell zur Stelle waren“, log er mich an.

Wieder versuchte ich die sanfte Tour: Ich griff nach seiner Hand. „Du passt immer noch auf mich auf, weil du weißt, dass ich bedroht werde. Weshalb sagst du mir nicht endlich alles? Wieso darf ich es nicht wissen? Ich bin Hauptfigur in einem Spiel, das ich nicht kenne. Aber du kennst es! Sag' mir was los ist und ich verspreche dir, darüber zu schweigen.“

Er sah mich an mit seinen braunen Augen, die ehrlich sein wollen, es aber nicht sind.

Jetzt blickte er mich mitleidig an. „Du siehst Zusammenhänge wo es keine gibt. Willst du, dass sie dich alle für verrückt halten?“, erklärte er mit einem Hauch Verbitterung.

Dass er so zu mir war, mir ins Gesicht log, das kränkte mich immer mehr. Ich fühlte mich wütend im selben Maße wie verzweifelt. Wie soll das nur weitergehen? Ich hatte Tränen in den Augen.

„Ich halte das nicht mehr aus!“, erklärte ich erschüttert und griff auf die Blutergüsse an meinem Hals. Ich dachte daran, dass der Täter wieder und wieder versuchen könnte mich zu töten. Koffner wusste das, doch er redete nicht mit mir darüber.

Er blickte besorgt aus dem Fenster, dachte nach, rieb sich seine Stirn. Er selbst fühlte sich auch nicht wohl dabei, das sah man.

Plötzlich wendete er sich wieder zu mir, fasste meinen Arm an.

„Also gut!“, sagte er. „Es ist nicht so, dass ich deine Reaktion auf die Ereignisse nicht verstehen könnte“, erklärte er, holte Luft, „doch ich sage dir Eines: Es ist nicht deine Aufgabe, den Personenschutz in Frage zu stellen!

Du tust nicht was ich sage, hörst nicht auf mich, glaubst mir nicht! Du stellst eigene Ermittlungen an, weil du niemandem vertraust. Das solltest du nicht tun, denn es bringt dich in Gefahr“, erklärte er eindringlich.

Er war aufgeregt, wütend auf die Situation. Er wollte mich dazu bringen, mich so zu verhalten, wie es für ihn am besten ist. Warum nur sprach er nicht aus, worum es wirklich ging?

„Du möchtest immer, dass ich mit der Polizei zusammenarbeite, doch du sagst mir im Grunde nicht wobei! Warum geht es? Wer ist der Mann, der mich gestern überfallen hat?“, fragte ich.

„Ich sage dir jetzt mal einige Dinge, die du wissen musst“, meinte er verbissen. Seine Worte strengten ihn an. Es kam mir vor, als befände er sich in einer Art Zwickmühle. Ich verstand die Situation einfach nicht, doch dann fuhr er fort zu sprechen, seine Augen starr auf die meinen gerichtet:

„Wenn dir deine Freiheit und dein Leben lieb sind, dann höre auf Fragen zu stellen. Du magst in einer schwierigen Situation stecken, noch aber sitzt du frei und gesund vor mir. Je mehr du dich in die Sache hineinsteigerst, je mehr du versuchst, Antworten auf deine Fragen zu finden, desto mehr läufst du Gefahr, deine Freiheit oder dein Leben komplett zu verlieren. Glaube mir! Höre auf, die Dinge zu hinterfragen! Wir werden weiterhin aufpassen, dass dir nichts passiert, wenn du aber keine Ruhe gibst, dann können wir nichts mehr tun für dich, kapier das!“, erklärte er verbissen im Flüsterton, so als würde uns jemand belauschen.

„Wer wir?“, fragte ich etwas verdattert.

„Die Polizei“, gab er zur Antwort.

„Die Polizei beschützt mich also vor etwas, das stärker ist als die Polizei, stärker sogar als die Justiz?“, fragte ich.

„Du darfst nichts wissen! Es ist ein dummer, unglücklicher Zufall, dass du in diese Situation geraten bist, keiner weiß weshalb dies geschehen ist, doch du hast keine Ahnung womit du es wirklich zu tun hast. Wenn du es wüsstest, dann wärst du tot oder verschwunden. Das ist kein Scherz.“, flüsterte er mir aufgeregt zu.

„Christian Lange, er ist kein Psychologe, nicht wahr?“, fuhr ich fort.

„Verdammt!“, schrie er mich jetzt lautstark an, „was habe ich gerade versucht, dir klar zu machen?“

„Schon gut“, entgegnete ich eingeschüchtert, „tut mir leid.“.

Ich musterte seine Augen, die sehr verzweifelt an mir vorbei vor sich hin starrten.

Langsam fing ich an zu verstehen. Im Blick dieses Mannes war etwas sehr Hartes. Hatte gar er selbst die Aufgabe, mich aus dem Weg zu räumen, wenn ich ein Sicherheitsrisiko darstelle? Es musste vielleicht um politische Konflikte gehen, oder wer steht sonst über Polizei und Gerichtsbarkeit? Warum bin eigentlich ich das Opfer? Weshalb bedrohte eine Person, die mit derartigen Dingen zu tun hat, eine einzelne junge Frau?

Als Dieter Koffner weg war, fühlte ich mich sehr hilflos. Nach allem was mit mir in der letzten Zeit geschehen war, hatte ich doch mit einer anhaltend tödlichen Bedrohung nicht gerechnet.

Auch verstand ich nicht, welche Rolle Carsten Fischer darin spielte. Wusste er, mit wem er es zu tun hatte, war er eingeweiht? Wie würde es nun weitergehen? Bedroht mich dieser mächtige Mann, der Doppelgänger von Fischer, immer noch? So wie es sich anhörte wohl eher schon. Was hatte er nur davon, mich zu bedrohen? Welche Rolle war mir zugeteilt bei diesem seltsamen Spiel?

Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts mehr. Was sollte ich tun?

Eines durfte ich nicht mehr tun: Fragen stellen. Was ich verstanden hatte, brachten mich Fragen in noch größere Gefahr. Je mehr ich wusste, desto eher wurde die Polizei dazu gezwungen, mich aus dem Weg zu räumen, mich zum Schweigen bringen zu müssen. Dieser Gewalttäter, mein Widersacher, musste ein Mann sein, der von der Regierung geschützt wird, egal was er auch anstellte. Welche Person könnte das denn aus welchem Grunde sein? Ein Mann in einer sehr hohen Position vielleicht. Aber weshalb riskiert er sein Amt und bedroht mich?

Ich verstand es einfach nicht.

Die Anrufe hörten nicht auf, immer wieder wurden Drohungen ausgesprochen, immer krasser wurden die nahezu perversen Ankündigungen des Unbekannten. Wenn ich fragte warum, dann pflegte er zu sagen, es mache Spaß.

Koffner erkundigte sich nach mir, er rief mehrmals täglich an. Ich erzählte ihm von den Anrufen. Er versuchte immerzu mich zu beruhigen und versicherte, es gäbe keinen weiteren Angriff, der Täter begnüge sich damit, mir zu drohen.

Koffner half mir neue Telefonnummern zu bekommen, die nicht so leicht ausfindig zu machen wären. Doch mein Widersacher bekam sie heraus, machte weiter.

Koffner besuchte mich noch am selben Abend als der nächste Anruf auf die neue Nummer kam.

„Vielleicht solltest du für die nächste Zeit überhaupt kein Telefon einschalten“, meinte er nachdenklich.

„Was macht der Kerl dann? Also wenn er mich übers Telefon nicht erreicht, wird er andere Wege suchen, mich mit seinen Drohungen zu konfrontieren. Ist doch so? Er ist so ein Verrückter oder etwa nicht? Im Normalfall würde er weggesperrt werden in eine Anstalt. Aber er ist ja etwas ganz Besonderes, nicht wahr? Er darf tun und lassen was er will. Vermutlich würdet ihr ihn nicht mal verhaften, wenn er mich getötet hätte. Ist es so?“

Dieter Koffner blickte mir ernst und streng in die Augen. „Ja so ist es“, sagte er.

„Ich weiß, ich darf nicht fragen, aber ich denke du verstehst, dass es mich interessiert, wer der Mann ist, der eine derartige Macht besitzt.“, meinte ich.

„Es hat dich aber nicht zu interessieren, verstanden! Dir wird nichts geschehen, egal womit er droht, also lass' es gut sein! Du bist sicher vor ihm, er wird dich nicht angreifen. Alles was du zu tun hast, ist dir keine Angst machen zu lassen. Wir werden versuchen, dass der Mann aufhört, dich zu bedrohen. Wenn er es aber dennoch tut, dann höre einfach nicht hin.“, erklärte Koffner.

„Er hat mir versichert, er würde mich in die Finger bekommen und mich qualvoll zunichtemachen. Er bekommt mich auch in die Finger, wenn er nur will. Ich bin jederzeit schutzlos ihm gegenüber. Ich lebe allein, bin oft zu Fuß unterwegs, es gibt tausende von Möglichkeiten seine Drohungen in die Tat umzusetzen. Und er wird ja nicht mal bestraft, wenn er es tut. Weshalb also sollte er seinen Mordgelüsten nicht nachgehen, wenn ihm so sehr danach verlangt und es so einfach für ihn ist?“

„Du musst mir glauben: Er tut es nicht!“, fuhr mich Koffner an.

Nun klingelte es an meiner Wohnungstür, wir erschraken beide.

„Wer ist das?“, fragte Koffner.

Ich zuckte mit den Schultern und ging zur Tür. Es war klar, dass dies kommen würde, irgendwann: Die Nachbarin stand da, beschwerte sich über das Geschrei, über unseren lautstarken Streit. Sie sagte, es wäre nicht das erste Mal, dass hier mitten in der Nacht derart lautstark gestritten wird. Dann drohte sie noch die Polizei zu holen. Sie streckte den Kopf zur Tür hinein, erblickte den großen starken Mann im Hintergrund.

„Haben Sie Beziehungsprobleme?“, fragte sie nun etwas besorgt.

Sie glaubte wohl, er wäre gewalttätig. Es war fast schon wieder nett von ihr, dass sie sich um mich sorgte.

„Mit dem habe ich ganz sicher keine Beziehung. Sie können es sich sparen, die Polizei zu rufen, er ist die Polizei.“, erklärte ich.

„Wirklich? Was tut er hier? Ist das eine Razzia?“, fragte sie äußerst interessiert.

Jetzt hasste ich sie wieder. Sie hatte mich immer schon im Verdacht, mit Drogen zu tun zu haben. Und sie lag nicht falsch, bisher zumindest nicht. Ich sollte ihr nicht böse sein, schließlich wohnte sie auch schon hier, als ich Abend für Abend mit meinen Freunden eine Zeit verbrachte, in der wir uns jenseits von Gut und Böse befanden.

„Nein, das ist keine Razzia, ich bin privat hier“, meinte Koffner und baute sich vor ihr auf. „Verschwinden Sie!“, sprach er mit bösem Blick.

Die kleine dicke blonde Frau wich eingeschüchtert zurück. „Ich wollte ja nur um etwas Ruhe bitten, ich muss morgen früh raus“, erklärte sie beinahe weinerlich, dann entfernte sie sich eiligst.

Koffner schloss ganz sachte die Tür, dann fixierte mich sein extrem aggressiver Blick. Er packte mich so grob am Kragen, dass meine Füße vom Boden abhoben, schleppte mich von der Tür weg und drückte mich gegen die Wand. Ich war derart erschrocken, dass mir kein Ton über die Lippen kam.

Mit wütendem, ungehaltenem Tonfall, fuhr er mich in einer möglichst geringen Lautstärke an:

„Bist du wahnsinnig dieser Frau zu erzählen, dass ich von der Polizei bin!“, er war außer sich vor Wut. „Was hast du dir dabei gedacht?“

Ich reagierte ähnlich wie Emina Kaufmann eben, sein Blick, seine Wut schüchterten mich ein. „Aber ich wusste doch nicht, dass das ein Geheimnis ist“, erklärte ich zaghaft.

„Natürlich weißt du, dass es geheim ist! Was meinst du, weshalb du nichts wissen darfst über die Sache? Was meinst du, weshalb die Polizei den Mann schützt, der dich bedroht? Mach' nur nicht nochmal einen Idioten aus mir, hast du das verstanden?“, fragte er hasserfüllt.

„Ja“, erklärte ich kleinlaut, „ich habe verstanden.“

Er hatte mich noch immer am Kragen, hielt mich gegen die Wand gedrückt. Es tat nicht weh, es gab mir nur zu verstehen, dass mir keine Wahl blieb. Der Mann wusste, wie er Menschen anfassen muss.

„Lässt du mich dann runter?“, fragte ich untertänig.

Langsam lockerte er seinen Griff. Er sorgte dafür, dass ich unversehrt die Wand entlang nach unten glitt, meine Füße wieder auf dem Boden aufsetzten. Dann ließ er meinen Kragen los, zupfte meine Kleidung zurecht.

Etwas verlegen sprach er: „Bitte entschuldige, dass ich grob werden musste. Ich hoffe, du hast jetzt verstanden, dass du tun musst, was ich sage und dass du schweigen musst, wenn du willst, dass es dir gut geht.“

Irgendwie wurde mir das zu viel. Ich verstand überhaupt nicht mehr, worum es ging. Doch Eines verstand ich immer besser: Mein Leben war in Gefahr. Der Einzige, der mich in Schutz nahm vor einer tödlichen Gefahr, war der Mann vor mir: Dieter Koffner.

Ich war mir nicht sicher was er fühlte: Wollte er mich tatsächlich schützen? Wenn ja, so hatte er diese Aufgabe mit Sicherheit von der Polizei erhalten. Oder hatte er es sich sogar zu seiner eigenen Sache erklärt? Er sprach davon, dass ich längst meine Freiheit oder gar mein Leben verloren hätte, gäbe es ihn nicht. Wahrscheinlich stimmte das sogar in gewisser Weise. Was aber würde passieren, kümmerte er sich nicht um meine Sicherheit? Würde sich ein Anderer an seiner Stelle um mich kümmern? Und wenn ja, wäre ich dann schon weg? In einer geschlossenen Anstalt oder einem Gefängnis? Unter der Erde?

Oder wäre es gar genau anders? Wenn ein anderer Mann als Koffner die Aufgabe hätte, mich zu schützen, wüsste ich dann bereits worum es ging? Würde es mir bei einem anderen Personenschutz-Beauftragten besser ergehen als mit Koffner?

Ich blickte ihm müde und besorgt in die Augen. Ich war ihm ausgeliefert, mein Leben lag in seiner Hand. Sein Blick war wenig mitleidig, er war streng und kalt. Auf mich aufzupassen war anstrengend, es machte ihn wütend.

Eines hatte ich also bereits verloren: Meine Freiheit. Aber Koffner hatte dies in gewisser Weise auch.

Mir wurde plötzlich übel, die Welt um mich her verdunkelte sich, meine Knie gaben nach. Der Boden unter mir war mit Einem so nahe und bedrohlich. Etwas geschah mit mir, nur was?

Langsam glitt ich mit dem Rücken an der Wand zu Boden, ich weinte. Das Leben war erbarmungslos. Die Sonne hatte sich verdunkelt, ließ sich nicht mehr blicken. Diese Angst um meine Existenz, um meinen Körper, vor Schmerz, Tod und Qual wurde immer übermächtiger, überall lauerte der Feind. Die starke Frau in mir war tot. Zurück blieb ein hilfloses Wesen, das man mit einem einzigen Schritt zertreten konnte.

Ich kauerte am Boden, weinte, wimmerte, war kaum noch fähig zu sehen, zu hören, zu denken. So hilflos wie ich nun war, hätte mich ein Windhauch schon vernichten können, verschwinden lassen aus dieser Welt, so wie die Mächtigen des Landes sich dies wünschten.

Immer wieder kam mir der Gedanke: Warum ich?

Ich mochte kein vorbildlicher Bürger sein, doch bin ich nicht auch harmlos? Zu harmlos und unbedeutend jedenfalls, um es mit Leuten wie Koffner zu tun zu haben, mit Gewaltverbrechern wie Carsten Fischer oder seinem übermächtigen, sadistischen Doppelgänger, einem Mann der mächtiger ist als Polizei und Justiz. Was wollten diese Menschen nur alle von mir? Weshalb ließen sie mich nicht einfach leben wie einen ganz gewöhnlichen Menschen?

Ja es war vorbei mit meinen revolutionären, gesetzesfeindlichen Gedanken. Ich wollte nicht mehr gegen Polizei und Gesetz aufbegehren, straffällig werden, ein Klein-Krimineller sein. Ich wäre nun am liebsten nur ein friedlicher, gut funktionierender Arbeiter gewesen. Einer, der nicht auffällt, der nichts Außergewöhnliches tut, den man in Ruhe lässt, ignoriert, übersieht.

Koffner hatte sich zu mir hinuntergebeugt, packte mich an den Armen.

„Was ist mit dir?“, fragte er.

Ich hörte auf zu weinen, nicht weil es besser ging, im Gegenteil, die Übelkeit wurde schlimmer, eine schwarze Wand schob sich vor meine Augen.

„Mir ist schlecht“, lallte ich in das verschwommene Gesicht vor mir.

Koffner hob mich vom Boden auf, trug mich auf seinen Armen ins Wohnzimmer und legte mich auf meine Schlaf-Couch. Das Bett war nicht gemacht. Was tagsüber als Sofa dienen hätte sollen, war noch von gestern Nacht als Bett ausgezogen, mit Spannlaken bezogen, das Federbett darauf. Es war mir peinlich vor Koffner; das war es mir vorhin schon gewesen als er wegen des Anrufs gekommen war. Jetzt da er mich ins Bett legte, zudeckte, am Bettrand sitzen blieb, versank ich vor Scham.

Er legte seine Hand auf meine Stirn, nahm den Puls.

„Du hast Probleme mit deinem Kreislauf. Hast du das öfter?“, fragte er.

„Nur wenn ich mich in Lebensgefahr befinde“, erklärte ich.

Langsam kam ich wieder etwas zu mir.

„Das bist du doch nicht. Ich bin ja hier. Außerdem sagte ich, dir wird nichts passieren.“

Langsam ging es mir besser, doch es kam eine Erschöpfung über mich, die mich zwang die Augen zu schließen.

Als ich erwachte, war Koffner weg. Es dämmerte bereits, ich hatte also einige Stunden geschlafen. Kurz darauf surrte mein Wecker. Diese Woche hatte ich die frühe Schicht in der Gärtnerei. Das heißt, ich musste um sechs Uhr da sein, um die Nacht-Aggregate auf die morgendliche Außentemperatur neu einzustellen. Das war eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Macht man einen Fehler, lassen alle Pflanzen in den Gewächshäusern die Köpfe hängen. Schlimmer aber ist es noch, wenn man es am Abend nicht macht, denn dann wird es den Pflanzen in der Nacht zu kalt. Theoretisch wäre es möglich, erst eine Stunde später zu kommen, niemand würde es merken. Zu dieser Jahreszeit wäre es für die Pflanzen auch nicht so schlimm. Ich überlegte, einfach liegen zu bleiben. Ich war schon immer ein Mensch, der schummelt wenn es sich anbot.

Außerdem hatte ich heute Nacht einen Kreislaufzusammenbruch, weshalb also musste ich jetzt schon wieder hundertprozentig funktionieren?

Ich blieb liegen, dachte über Koffner nach. Er passte auf mich auf, der große starke Bulle. Er versicherte mir, dass mir nichts passieren würde. Vielleicht sollte ich ihm einfach glauben was er sagt. Schließlich ist er der Chef einer Spezialeinheit. Wahrscheinlich hat er eine akademische Ausbildung hinter sich. Nachdem er wohl eingeweiht ist in diese hoch geheime politische Affäre, wird er ein hohes Tier sein, so etwas wie ein Geheimagent, James Bond in Deutsch. Er ist viel bedeutender als ich es jemals war und sein werde. Ich für meinen Teil bin Hilfskraft in einer Gärtnerei, eingestellt als ungelernter Arbeiter, unterstes Niveau. Und ich schaffe es nicht einmal, diesen Job gut zu machen. Ich kann mich mit Schnittblumen nicht anfreunden, komme aus der Mittagspause zu spät zurück und vermassle meine Frühschicht.

Plötzlich sprang ich auf, lief aus dem Haus ohne mich zu waschen, schwang mich aufs Fahrrad und kümmerte mich um die Nachtaggregate. Wenigstens dies wollte ich machen.

Trotz all der Müdigkeit, ging es mir ganz gut am heutigen Tag in der Arbeit. Dieser plötzliche Impuls von Verantwortungsbewusstsein hatte mir einen Kick in den Tag gegeben, der mir einen gewissen Schwung mitgab. Was mir ebenfalls gut bekam, war die Arbeit auf den Feldern. Ich musste Pflänzchen setzen, Salat, Kohlrabi, Bohnen. Es war sieben Uhr morgens, in einer halben Stunde würde die Chefin kommen, um acht Uhr dann all die anderen. Ich fing schon mal an mit den Pflänzchen, denn ich wollte die Morgensonne erleben. Der Tag würde wieder heiß werden, doch noch war es angenehm kühl, alles war feucht vom Tau. Diese frische frühe Luft war gut für mich und auch die Aufgabe. Ich wusste, dass es diesen zarten Setzlingen gut gehen würde unter meiner Obhut. Sie würden zu großen gesunden Pflanzen heranwachsen. Ich werde sie täglich sehen, gießen, pflegen. Ich werde mich sorgen, wenn es hagelt, sie abdecken, aufdecken, schützen. Doch dann, wenn sie die Blüte hinter sich haben, wenn ihre Frucht gereift ist, werden sie geerntet, sie werden getötet. Doch sie hatten wenigstens ein schönes Leben, hatten ihren Sinn erfüllt.

Und was ist mit mir? Hätte ich meinen Sinn erfüllt, wenn mich der Kerl, der mir immer wieder diese schrecklichen Dinge androht, in die Finger bekommt, um mich zu quälen, um mich zu töten? Ergibt das irgendeinen Sinn?

Ich hatte in meinem Leben noch nichts Sinnvolles getan. Früher war mir das egal. Ich hielt den Menschen an und für sich für etwas Sinnloses. Es gibt genug Menschen auf der Welt, was spiele ich für eine Rolle?

Meine Eltern brauchten mich, um ihre Vorstellung von Familie zu vollenden. Doch jetzt ist meine Kindheit vorbei und niemand braucht mich mehr. Ich richte doch mehr Unheil an, als dass ich Nutzen bringen würde.

Wenn es doch so egal ist, weshalb es mich gibt oder nicht, warum macht sich Koffner überhaupt die Mühe mich zu schützen? Weil die Polizei dazu verpflichtet ist, Menschen vor Verbrechen zu bewahren, deshalb. Ich sollte ihn von dieser Pflicht entbinden, denn ich bin es gar nicht wert. Weshalb bringe ich mich nicht selbst in Sicherheit? Ich könnte verschwinden aus dem Land. Mein Widersacher wird mich vermutlich nicht verfolgen, wozu die Mühe? Oder doch? Weshalb ist er denn so erpicht auf mich? Unsere erste Begegnung konnte nur Zufall gewesen sein. Ich wüsste nicht, woher er mich gekannt haben hätte sollen. Und jetzt? Er hat sich hineingesteigert in etwas Verrücktes. Durch meinen Sprung von der Brücke bin ich ihm entwischt. Das hat ihn wütend gemacht; das wird der Grund sein, weshalb er mich bedroht. Er will sich holen, was ihm damals durch die Lappen ging. Und er will seine Wut über das Misslingen des Überfalls an mir auslassen. Ich soll spüren wer der Stärkere ist, das sagte er mir immer und immer wieder am Telefon. Er möchte Rache nehmen an mir. Würde er mich tatsächlich ins Ausland verfolgen? Konnte er das denn so einfach? Wenn er so wichtig war für die Regierung, dann würden sie ihn doch nicht einfach gehen lassen. Aber konnten sie ihn überhaupt aufhalten? In der EU gibt es genug Grenzübergänge ohne Ausweiskontrollen. Wenn ihn die Polizei bisher nicht gefunden hat, dann auch nicht wenn er das Land verlässt.

Vielleicht aber ging es Koffner genau darum: Wenn der Mann mich verfolgt oder aufsucht, wenn er seine Drohungen wahr machen wollte, mich in seine Gewalt brachte, dann könnte die Polizei ihn fassen. Und was dann? Es sitzt derzeit ein Unschuldiger hinter Gittern, dem ein Verbrechen zugeschoben wurde von Staat und Polizei. Was macht die Staatsmacht mit dem echten Täter?

Ich konnte darüber nachdenken so lange ich wollte, ich verstand einfach gar nichts von den Zusammenhängen, vom Sinn des Ganzen, von der Handlungsweise der Polizei. Wer verdammt war dieser Mann?

Dies würde ich sicherlich erfahren, wenn er mich wieder in seine Gewalt bekam, die Frage ist nur, ob ich danach noch am Leben wäre. Diesen Angriff auf mich würde es geben, das war für mich so sicher wie das Amen in der Kirche, egal wie oft mir Koffner versicherte, dem sei nicht so. Der wollte doch nur, dass sein Lockvogel die Sache nicht vermasselt. Ja, er wollte nicht, dass ich ihn alarmiere, sobald es eine Bedrohung gibt, denn er wollte erst dann zuschlagen, wenn der Täter in der Situation ist, dass er nicht mehr flüchten würde können. Ich hatte aber nur eine Chance zu überleben, wenn Koffner zu rechter Zeit an rechter Stelle wäre. Bei diesem Katz- und Maus-Spiel, welches die großen starken Männer miteinander spielen, war der Schutz meines Lebens völlig zweitrangig. Dennoch spielte ich einen absolut bedeutenden Teil des Ganzen, aber eben nur solange ich am Leben war.

Das schmutzige Mädchen

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