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PROLOG

Samstag, 14. März

07:30 Uhr

Eine Wand aus Spiegeln. Darin sah er sich selbst. Ein bulliger Mann in senfgelben Leggings und einem dunkelblauen T-Shirt, das kaum bis zu den Oberschenkeln reichte. Etwas Groteskeres oder Verstörenderes hatte er noch nie gesehen. Er starrte die vielfachen Borei Gowdas an. Musik setzte ein, und der Trainer, ein hochgewachsener schlanker Mann in wie auf den Leib gegossenen Kleidern, dessen Gliedmaßen anscheinend mit Doppelgelenken am Rumpf angebracht waren, wiegte sich im Takt.

»Kommen Sie, Inspector Gowda«, sagte er. »Fangen Sie einfach an, hören Sie auf die Musik, lassen Sie sie durch sich hindurchfließen. Nur so kann man Tango tanzen. Und immer daran denken, links vor, rechts vor, links vor …«

Gowda hörte nicht mehr hin. Was zum Teufel mache ich hier, fragte er sich und die vielen Borei Gowdas im Spiegel.

Das Handy auf dem Nachttisch klingelte beharrlich. Inspector Borei Gowda fuhr hoch und tastete verschlafen nach dem Telefon. Wo war dieser hirnrissige Traum hergekommen?

Er sah auf dem Display die Zeit und riss die Augen auf. Fast acht. Wie hatte er einen Wecker verschlafen können, der zwischen sechs und sieben alle fünfzehn Minuten Krach schlug? Er musste sich gestern Abend richtig die Kante gegeben haben. Ganz entgegen seinen festen Absichten. Er seufzte.

»Hallo«, sagte er ins Handy.

»Sir, ein Anruf aus der Leitstelle. Es geht um jemanden in der Gated Community in der Nähe des Bible College. Ich glaube, Sie sollten hinfahren«, sagte Head Constable Gajendra. Im selben Moment hörte Gowda draußen vor dem Haus schon den kräftigen Motor des Bolero-Jeeps dröhnen.

»Ich bin in fünfzehn Minuten da«, sagte Gowda auf dem Weg ins Badezimmer, wo er sich mit der Zahnbürste im Mund unter die Dusche stellte. Das Trommeln des Wassers beruhigte das Hämmern in seinem Hinterkopf. In seinem müden Schädel spulten sich die Ereignisse des vergangenen Abends in grellen Farben mit Dolby-Surround-Sound ab. Er schloss die Augen. Das musste warten. Jetzt rief die Pflicht.

Head Constable Gajendra wartete bereits am Tor des Shangri La. Das war der auf einer in den Torpfeiler eingebetteten polierten Messingtafel eingravierte Name. Der Head Constable sah mitgenommen aus.

Vor dem Tor hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Gowda grüßte mit einem Nicken und ging auf das Haus zu. Ein kleiner dünner Mann löste sich von der Gruppe und eilte ihm nach. »Hallo, Inspector. Ich bin der Präsident.«

Gowda hielt inne, betrachtete den Mann und überlegte, ob er es mit einem Verrückten zu tun hatte. »Präsident welchen Landes?«

Der Mann wurde rot. »Präsident des Anwohner-Vereins.«

Gowda nickte. »Ah, verstehe. Ich muss Sie bitten, zurückzutreten.«

Beim Weitergehen nahm er noch den enttäuschten Gesichtsausdruck des Mannes wahr.

Zwei Constables hatten die Haustür aufgebrochen. Gowda trat ein und blieb stehen. Die Tür führte in eine Vorhalle, die an einen alten Club erinnerte. Dazu passte ein riesiger Spiegel mit Goldrahmen, unter dem etwas stand, das wie ein in der Mitte durchgesägter Tisch aussah. Bestimmt hatte das einen Namen. Urmila wüsste ihn wahrscheinlich.

Er betrachtete den Mann, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag, und schauderte. Eine Seite des Schädels war zertrümmert. Um den Kopf herum breitete sich ein Heiligenschein aus Blut aus. Daneben lag umgefallen ein steinerner Buddha. Der Marmorfußboden war zersplittert wie die Schädeldecke.

Der Mann trug dunkelblaue Crocs an den Füßen, sein T-Shirt war im Fallen nach oben gerutscht. Unterhalb der linken Rippen sah Gowda eine blau verfärbte Prellung. Durch die kurze Lycrahose war deutlich der Penis zu erkennen. Wer war der Tote? Nachdenklich kniff sich Gowda in den Nasenrücken.

Ein Stück entfernt lag ein Handtuch. Gowda bückte sich und hob es mit Hilfe seines Kugelschreibers auf. Es war feucht und roch nach Chlor. Der Mann ist schwimmen gewesen, dachte Gowda. An der Einfahrt in die Gated Community war ihm linkerhand ein blaues Schimmern aufgefallen.

»Er war gestern Abend um elf zu einer Videokonferenz mit einem Mandanten verabredet. Der Mandant hat anscheinend mehrmals vergeblich angerufen und dann eine Kollegin kontaktiert. Die konnte ihn auch nicht erreichen. Als er auch heute Morgen nicht auf Anrufe und Nachrichten reagierte, hat sie die Zentrale informieren lassen«, sagte Head Constable Gajendra.

»Wohnt er alleine?«, fragte Gowda. Ihm fiel auf, dass der Raum ansonsten unberührt wirkte. Keine umgestoßenen Möbel. Nicht mal eine Glasscherbe oder ein dreckiger Fußabdruck. Hier war niemand eingedrungen. Das Opfer hatte den Täter gekannt. So viel war klar.

»Was ist mit Handy und Laptop?«, fragte Gowda.

»Alles da«, sagte Gajendra. »Ich glaube nicht, dass hier ein Einbruch aus dem Ruder gelaufen ist.«

»Wo ist die Frau, die in der Zentrale angerufen hat?«

»Sie war letzte Nacht in Chennai. Sie hat den ersten Flug genommen und ist auf dem Weg hierher.« Gajendra drehte sich um, draußen hörte man einen Wagen halten.

Ein junger Mann und eine Frau kamen eilig den Gartenweg entlang. Gowda ging ihnen entgegen.

»Dr. Rathore, geht es ihm gut?«, fragte die Frau, während der Mann versuchte, über Gowdas Schulter hinweg einen Blick ins Haus zu erhaschen.

Gowda schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid.«

Das Gesicht der Frau verzog sich. »O Gott, o mein Gott«, flüsterte sie, die Hand vor den Mund gepresst.

»Was ist passiert, Inspector?« Die Stimme des Mannes zitterte vor Bestürzung. »Dr. Rathore hat doch immer gut auf sich aufgepasst.«

»Er war Arzt?«, fragte Gowda.

»Nein, nicht so ein Doktor. Doktor der Rechtswissenschaften«, sagte der Mann. »Können wir zu ihm?«

Gowda hob die Hand. »Nicht jetzt. Das ist ein Mordfall. Bis die Spurensicherung kommt, darf der Tatort nicht betreten werden.«

»Mord! Aber wer würde Dr. Rathore denn umbringen wollen?« Die Stimme der Frau wurde schrill.

»Irgendwer hat es jedenfalls getan. Ihm wurde der Schädel eingeschlagen«, sagte Gowda.

Sie starrten ihn entsetzt an. Gowda erwiderte den Blick, er wusste nicht, was er sonst tun sollte. Es war nie leicht, einen Tod mitzuteilen, ob nun durch Selbstmord, Unfall oder Mord. Polizisten und Ärzte wussten das. Es war ihr Los, sich vom Leid derer, die dem Opfer nahestanden, nicht berühren zu lassen.

»Wir brauchen ein paar Angaben«, sagte er.

Head Constable Gajendra musterte die Gesichter des Paares. Er wusste, dass Gowda das Gleiche tat.

Gowda nahm nicht an, dass die beiden etwas beitragen konnten, das nicht schon im Terminkalender des Toten stand. Die Frau hatte sich kurz im Garten umgeschaut, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Der Mann hatte in einer Ecke des großen Gartens einen Pavillon mit eingebauter Bar bemerkt und große Augen gemacht. Dr. Rathore hatte sich wohl nie mit seinen Kollegen auf einen Drink getroffen oder sie nach Hause eingeladen. Allem Anschein nach hatte er sehr zurückgezogen gelebt, Distanz gehalten zu seinen Angestellten und Partnern.

»Seine Familie?«, fragte Gowda.

»Seine Frau und sein Sohn leben in London. Sie leitet die dortige Filiale der Kanzlei«, sagte die Frau. In ihrem Ton schwang Missbilligung mit. Gowda ahnte, dass die junge Kollegin ein wenig verliebt gewesen war.

»Ich werde noch ausführlich mit Ihnen sprechen müssen«, sagte er unvermittelt.

Die Frau nickte. Tränen traten in ihre Augen. »Ich kann nicht glauben, dass …« Der Mann legte den Arm um sie.

Gowda warf Gajendra einen Blick zu, bedeutete ihm mit ­einer kleinen Bewegung des Kinns, die beiden wegzuschicken, drehte sich um und ging.

Police Constable Byrappa schob sich neben Gajendra. »Die Wachmänner am Tor haben Videoaufnahmen und ein Besucherregister.«

Gajendra lächelte und ging Gowda nach. »Ich glaube, der Fall wird schnell zu lösen sein«, sagte er.

Gowda sah ihn an. »Meinen Sie?«

»Ja, Sir. PC Byrappa sagt, es gibt Videoaufnahmen und ein Besucherregister. Sobald wir den Todeszeitpunkt wissen, lässt sich leicht feststellen, wer den Anwalt umgebracht hat.«

Gowda schwieg. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es nicht so einfach werden würde. Er warf einen letzten Blick auf den toten Anwalt. Etwas nagte an ihm. Er wusste nicht genau, was. Aber es würde ihm noch einfallen.

Der kleine Mann, der sich als Präsident des Vereins vorgestellt hatte, kam mit zwei anderen Männern und einer Frau auf ihn zu. »Glauben Sie, es war die Dandupalaya-Gang?«, raunte einer der Männer.

»Die soll sich ja einsam gelegene Häuser mit wenigen Bewohnern aussuchen. Ist das nicht der Modus operandi der Gang?« Die Frau betonte den Ausdruck wie ein altkluges Kind, das ein neues Wort gelernt hat. Der dritte Mann zückte sein Handy und wollte damit knipsen.

Gowda runzelte die Stirn. »Keine Fotos.« Auf die Frage der Frau ging er gar nicht erst ein. Seit dem auf wahren Begebenheiten beruhenden Film Dandupalaya über eine Familie in ­einem Viertel am Rand von Bangalore, die sich mit Plündereien, Vergewaltigungen und Morden den Tag vertrieb, war besagte Gang regelrecht zum Mythos geworden. Gowda war ziemlich sicher, dass sich auch bei der Polizei Beamte fanden, die diesen Mord bequemerweise gern einem Nachfolger der Gang in die Schuhe schieben würden. Immerhin hatte es damals, vor über einem Jahrzehnt, einhundertzwölf Anzeigen gegen die Bande gegeben.

»Was glauben Sie, wer hat das getan?«, fragte der Präsident.

»Die Ermittlung läuft bereits«, sagte Gowda.

Wie war der Mörder hereingekommen und wie wieder hinaus? Wer besaß einen Schlüssel zum Haus des Anwalts? Hinter diesen offensichtlichen Fragen lag etwas, das ihm noch entging. Gowda griff zu seinem Handy. Er brauchte ein frisches Augenpaar. Er brauchte Santosh.

Gewaltkette

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