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Im Sicherheitstrakt

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Mittlerweile waren sie angekommen. Alex stellte das Auto umständlich und mit großem Trara auf dem Besucherparkplatz ab. Maßlos regte er sich über das Wachpersonal auf, weil man ihnen den Dienstparkplatz verweigerte.

Schließlich sei man nicht zum Spaß hier und verfüge über einen Dienstauftrag, blaffte er die Bediensteten an. Dabei wedelte er mit seiner Dienstmarke herum und kündigte ein Nachspiel an.

Es folgten noch einige Kraftausdrücke, bis er allmählich wieder runterkam. Nun drückte er Kathi den Laptop in die Hand, nahm aber selbst nur die leichtere Schreibmappe. Forsch schritt er voran, dabei auf Abstand bedacht.

Am Zugangstor gab ihr ‚Vortänzer‘, wie er sich ironisch nannte, den Code ein. Dabei postierte er sich aber so, dass seine Begleiterin nichts sehen konnte. Überhaupt gab er sich mit einem Mal sehr förmlich und all seine vormals vorgetragene Laxheit schien wie verflogen.

Mit einem Summen öffnete sich die Tür und gab den Weg zur Schleuse frei. Spätestens hier zeigte sich, dass das Gebäude mit modernster Sicherheitstechnik ausgestattet war.

Dabei handelte es sich um einen circa vier Meter langen Gang, an dem sich eine weitere Kontrollstelle anschloss. Nach kurzer Durchsicht der Auftragsbescheinigungen wurden ihnen die Besucherkarten ausgehändigt. Diese mussten gut sichtbar an der Kleidung befestigt werden.

„Damit man uns nicht verwechselt“, blödelte Alex grinsend und drückte ihr das Namensschild ans Revers.

Nach Abgabe von Handys, Dienstausweisen und Waffen begaben sie sich zu einer weiteren, gegenüber befindlichen Metalltür mit einer kleinen Klappe in Kopfhöhe. Als diese sich öffnete, wurden sie von zwei strengen Augen taxiert. Nach ein paar belanglosen Späßen ihres Vortänzers, um die Sache etwas aufzulockern, ließ man sie passieren.

Angesichts des sich anschließenden sterilen Vorraums empfand Kathi, trotz des geschäftigen Treibens um sie herum, eine gewisse Beklommenheit. Immer wieder schaute sie sich um. Gab es hier tatsächlich, den Gerüchten nach, biometrische Schleusen mit Venenscanner? Sie konnte sich das nicht vorstellen.

Darauf angesprochen, reagierte Alex nur mit einem lapidaren: „Quatsch“ und trat auf den Bediensteten zu, der diesen Korridor zu bewachen schien.

„He Du! Habt Ihr hier so was wie einen Kaffeeautomaten? Ach, da drüben. Danke!“ Wenig später kehrte er mit zwei Pappbechern zurück und reichte seiner Begleiterin einen – koffeinfrei. Verwundert sah sie ihn an.

„Was guckst du so? Ich muss auf meine Pumpe achten. Bin nicht mehr der Jüngste.“

Während sie zaghaft nippte, registrierte sie den Ansatz einer Tätowierung an seinem linken Unterarm. Passt. Irgendwie prollig und bauernschlau, dachte sie bei sich, kehrte aber sofort wieder zum Geschehen zurück. Neugierig musterte sie die vorbeieilenden Mitarbeiter. Alex hingegen lehnte lässig an der Wand und sah durch eines der vergitterten Fenster.

„Ich verstehe das nicht“, begann sie mit einem Mal. „Warum diese ganze Geheimniskrämerei?“

„Wieso? Was meinst du?“

„Ich habe den Eindruck, hier wird nicht mit offenen Karten gespielt. Was ist mit der Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen, deren Nachvollziehbarkeit und leitungsmäßigen Kontrolle?“

Jetzt lachte er herzhaft. „Das hast du fein gesagt. Man sieht, du hast deine Hausaufgaben gemacht!“

Mit funkelnden Augen sah sie ihn an, ließ aber nicht locker. „Ist unsere Abteilung auch für die Auswertung der richterlich angeordneten Aufzeichnungen von Kommunikationsdaten zuständig?“

„Das wäre wünschenswert, ist aber strukturell nicht vorgesehen.“

„Also keinen Zugang zu weiteren relevanten Informationen?“, folgerte sie.

Er runzelte die Stirn. „Was sollen diese Fragen?“

„Ich verstehe. Ich darf nur wissen, was für meine Dienstverrichtung vonnöten ist“, erwiderte sie auffallend gereizt und kratzte sich am Arm.

„Das hat auch Vorteile“, witzelte Alex.

„Kann ich mir denken.“

„Nichts kannst du dir denken! So etwas überlass Anderen, die dafür bezahlt werden“, fuhr er sie an, sah genervt auf die Uhr und drängte zum Aufbruch. Im Gehen warf er seinen halb vollen Pappbecher neben den Papierkorb, war aber zu faul, ihn wieder aufzuheben, weshalb nun eine hässliche Kaffeelache zurückblieb. „Was ist?“, grunzte er, als er bemerkte, dass sie darüber das Gesicht verzog.

„Nichts. Schon gut.“

Wenig später erreichten sie einen langen Flur, in dem ihnen grelles Licht von dutzenden Neonleuchten entgegenschlug. Zwei kräftige Betreuer in schneeweißer Kleidung nahmen sie in Empfang. Wortlos durchschritten sie die Flure des Gebäudes. Ihre Schritte hallten auf dem Fliesenboden. Kurze Zeit später erreichten sie den Sicherheitstrakt – den sensiblen Bereich, wie Alex ihr bereits im Vorfeld erklärt hatte.

„Gleich wird es ernst“, alberte er herum und deutete einen leichten Schauer an, wie ein leichtfertiger Mensch gegenüber einem unbedarften Kind, um es zu erschrecken.

Kathi fiel auf, dass alle Milchglastüren mit massiven Kastenaufbauschlössern versehen waren, welche nach dem Öffnen gleich wieder zuschnappten. Keine dieser Pforten blieb länger als fünf Sekunden offen, zweifellos aus Sicherheitsgründen.

Ein ungutes Gefühl, irgendwo zwischen Neugier und Angst, beschlich sie, welches durch die seltsame Stille und Teilnahmslosigkeit der beiden Pfleger noch verstärkt wurde, da diese jeden Blickkontakt vermieden und recht abwesend wirkten. Dabei war es weniger die Schweigsamkeit, als deren sonderbare Entrücktheit.

Seltsamerweise war Alex jetzt auch ganz ruhig geworden, als wollte er die ohnehin schon erdrückende Spannung noch steigern. Dabei hatten sie den Patientenbereich noch gar nicht erreicht.

Wenig später wurden diverse Türen von einem der Betreuer unter dem Rasseln des mächtigen Schlüsselbundes geöffnet. Bemerkenswert war, dass kein Schlüssel zu einer zweiten Tür passte. Nur anhand ihrer farbigen Kennzeichnung waren sie für das Personal zu unterscheiden.

Für einen Moment ergriff Kathi eine absurde Panik. Sie dachte daran, dass sie ihre Besucherkarte verlieren könnte. Ganz ohne Legitimation würde es schwierig werden, ihre Identität und vor allem ihre Normalität zu beweisen. Man hörte wiederholt, dass es gerade in Nervenheilanstalten keinen relativeren Begriff als den der Normalität gäbe, denn im Grunde sei dieser durch nichts zu belegen, außer durch die eigene Behauptung.

Allerdings kam Kathi zu keinen weiteren Überlegungen, denn inzwischen hatten sie den Patientenbereich erreicht, wo sich ihnen sogleich ein seltsames Szenario bot. In einer hell erleuchteten Halle mit kahlen Wänden und großen vergitterten Fenstern herrschte viel Lärm, ähnlich wie in einer Bahnhofshalle.

Überall standen Leute herum und waren mit irgendwelchen sonderbaren Dingen beschäftigt. Während einige in tiefer Apathie eigenartige Körperübungen vollführten, waren andere in lautstarke Monologe vertieft und das so heftig, dass sie teilweise vor Eifer errötete Wangen hatten. Wieder andere sangen, schienen überaus konzentriert oder wirkten anderweitig sehr beschäftigt. Manche saßen da und wippten stoisch mit dem Oberkörper. Andere rauften sich die Haare und kreischten fortwährend.

Noch schlimmer aber war der penetrante Geruch von Medizin und abgestandener Luft. Der graue Boden und die gelben Wände waren fleckig. Nur mit Mühe konnte Kathi einen Würgereiz unterdrücken. Unwillkürlich wich sie ein Stück zurück.

Eine Frau mit kurzem, schneeweißem Haar saß auf einem roten Stuhl und keifte jeden an, der an ihr vorbeizog. Sekunden später bedeckte sie die Ohren und rief immer wieder nach ihrem Kind, indes eine andere darüber hysterisch lachte. Unverhofft trat ein kleiner kahlköpfiger Mann auf Kathi zu und nannte sie ‚seine Rose‘.

Jemand anderes fragte, was das Fräulein von Beruf wäre. Mit großen Augen schaute er sie an, klatschte in die Hände und küsste sich die Finger. Und das tat er genau in dem Moment, als Kathi zu ihm zurückblickte.

Wieder ein anderer – ein schmächtiges Kerlchen in Filzlatschen und mit einem viel zu großen Militärmantel bekleidet – salutierte vor ihr in strammer Haltung. „Genossin Major! Während meines Dienstes keine Vorkommnisse! Es meldet Stabsgefreiter Krömer!“

Daraufhin durchfuhr Kathi ein solcher Schreck, dass sie den Sensor betätigt hätte, wäre sie in dessen Besitz gewesen.

„Danke, rühren!“, sprang Alex ihr sogleich bei. Daraufhin machte der Mantelträger eine exakte Kehrtwendung und paradierte im Stechschritt davon.

Darüber amüsiert, erklärte der Hauptkommissar, dass es sich bei dieser Person um einen ehemaligen NVA-General handele, dem der militärische Drill zu Kopf gestiegen sei. Bei ihm gehe alles nach Dienstvorschrift. Diese habe er so verinnerlicht, dass sie per Knopfdruck abrufbar sei.

Kathi war völlig perplex. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, folgte die nächste seltsame Begegnung: Ihnen stand eine absonderliche Gestalt mit einem Metalleimer über dem Kopf gegenüber.

„Sie dürfen hier nicht passieren! Das ist mein Claim!“, hallte eine dumpfe Stimme unter dem Topf hervor.

„Da irrst du dich aber, mein Bester“, erwiderte Alex und klopfte gegen das Blech. „Die Schürfrechte gehören mir und das weißt du genau. Außerdem waren deine letzten Nuggets falsch.“

„Meine Nuggets waren echt!“, protestierte die Stimme, den Tränen nahe.

„Waren sie nicht!“, beharrte Alex, nun ganz in seinem Element. „Du schuldest mir seither fünf Dollar und glaube mal nicht, dass du sie mit dem nächsten Drink verrechnen kannst!“

Und während er weiterhin mit ihm debattierte und dabei allerlei haarsträubende Gründe für seinen Zweifel anführte, fasste plötzlich jemand nach Kathis Hand und zog sie etwas zur Seite.

„Ihr Kollege macht das ausgezeichnet. So sollte man vorgehen – den Dialog annehmen, ihn erweitern und ihn somit in Übereinstimmung mit dem Rezipienten bringen.“ Die Person, die das sagte oder besser analysierte, war ein sympathisch wirkender Mann in den mittleren Jahren mit dunklen, überaus lebendigen Augen, sanfter Stimme und einem angenehmen Gesichtsausdruck. Er trug einen weißen Kittel und ein Namensschild auf der Brust – zweifellos der Stationsarzt. Während des Sprechens schaute er sie jedoch nicht an, sondern verfolgte gebannt den Disput, als fürchtete er, etwas zu verpassen.

„Ein Zugang zum Patienten ist nur über ein Eintauchen in dessen Psyche möglich“, fuhr er erklärend fort und stand in dem Aufruhr so unverrückbar und gerade wie ein Leuchtturm in Nordseewellen. „Allein das Aufgreifen seiner Innenwelt durch eine glaubwürdige Reflexion erzeugt eine beiderseits tragfähige Kommunikationsbasis. So etwas nennt man in der Psychiatrie ‚Kommensurabilität‘. Ich habe diese Notwendigkeit Ihrem Kollegen bereits erläutert und er scheint es zu beherzigen, wie man sieht. Sie müssen wissen, dass hier jeder seinen Tick hat. Nur gehört es hier zur Normalität, verrückt zu sein, so paradox es auch klingen mag.“

Kathi war überrascht, aber auch erleichtert. Sogleich sondierte sie den Arzt etwas näher. Offenbar hatte Alex seinen Sensor betätigt, was das plötzliche Erscheinen des Weißkittels bewirkt hatte.

„Oh ja“, erwiderte sie spontan, obwohl sie keineswegs alles verstanden hatte. „Ich finde das sehr interessant. Und wenn ich ehrlich bin, hätte ich das von Alexander, ich meine von Herrn Hauptkommissar Knoblich, gar nicht erwartet.“

Ihr Gegenüber schien erst etwas darauf erwidern oder protestieren zu wollen, dann lächelte er vieldeutig.

„Zugegebenermaßen“, gestand sie schließlich, „wüsste ich nicht, wie ich mich in solchen Situationen verhalten sollte.“

„Ach, das ist gar nicht so schwer“, winkte der Mann mit einem sanften Lächeln ab. „Sie müssen nur die Abnormität als etwas Normales begreifen. Dann …“ Er hielt kurz inne, da plötzlich eine aufgebrachte Frau auf ihn zusteuerte.

„Sie Wicht! Was fällt Ihnen ein“, keifte diese augenblicklich los und plusterte sich drohend vor ihm auf. Unwillkürlich wich Kathi einen Schritt zurück.

„Was ist denn los, was ärgert Sie?“, fragte er mit einem unbeeindruckten freundlichen Lächeln.

„Die Äpfel“, stieß sie gehetzt aus. „Wo sind die Äpfel?“

„Welche Äpfel?“

„Die für den Kuchen!“, knurrte sie. „Jemand hat Geburtstag. Ich muss sofort einen Apfelkuchen backen. Aber die anderen glauben mir nicht.“

„Ich glaube Ihnen“, sagte er, lächelte und nickte. Dann tat er, als reiche er ihr einen Korb und meinte: „Hier sind sie!“

Augenblicklich strahlte sie über das ganze Gesicht und lachte aus vollem Hals. Es war, als hätte ein Frühlingswind die Gewitterwolken weggeblasen. Und obgleich es nichts als eine leere Geste war, tänzelte sie vergnügt davon, so tuend, als hielte sie tatsächlich einen Korb in der Hand. „Es gibt Kuchen. Jawohl, Kuchen!“, rief sie. „Heute feiern wir Geburtstag.“ Kathi sah der Frau sprachlos nach.

„Sehen Sie, welche Kraft die Einbildung besitzt?“, fuhr ihr Gegenüber jetzt seelenruhig fort. „Genau genommen ist das Leben ein Parforceritt. Irren wir nicht alle durch die Stadt wie Kassandra durch das belagerte Troja, und sind die Einzigen, die von einem nahenden Verhängnis wissen, aber niemand will uns zuhören? Letztlich sind wir doch alle verrückt – ein jeder auf seine Weise. Nur wo beginnt Normalität und wo endet sie? Die Grenzen hierfür sind mitunter fließend. Oder was meinen Sie dazu?“

Ratlos zuckte Kathi mit den Schultern.

„Sehen Sie dort drüben den kleinen Kahlkopf mit der grünen Jacke? Er ist ein Autist, der morgens, sobald der Wecker geklingelt hat, zur Dusche schlurft und sich Apfelshampoo ins Haar massiert. Apfelshampoo, unbedingt, ohne Kompromisse. Anschließend putzt er sich die Zähne – erst die linke obere Kauleiste, dann unten und wieder oben. Genauso verfährt er mit der rechten Seite. Immer in derselben Reihenfolge. Fertig. Niemals anders. Aber Hand aufs Herz“, er machte eine rhetorische Pause, „wer tauscht denn gern seine Gewohnheiten? Sie etwa?“ Im selben Atemzug fuhr er fort: „Ebenso darf bei diesem Burschen ein Bleistift nicht mit der Spitze nach unten in einem Behältnis stecken. Das macht ihn fuchsteufelswild. Am meisten aber hasst er es, wenn jemand am Esstisch die Kartoffeln mit der Soße vermanscht. Das muss man beachten, wenn man Zugang zu ihm sucht. Ansonsten ist er von anderen Menschen kaum zu unterscheiden.“

Unerwartet zupfte jemand an dem Ärmel von Kathi und sah sie wie ein bettelnder Hund an, mit der Frage, ob sie etwas zu essen hätte. Dabei rotierte dessen Hand auf seinem Bauch.

Erschrocken fuhr sie herum und schüttelte den Kopf. Als sie wieder allein waren, fuhr der Weißkittel seelenruhig fort: „Das Wichtigste ist, dass man den Leuten zuhört und das glaubhaft. Das ist wichtiger als alles andere. Wenn Sie wollen, stelle ich Ihnen einige Patienten vor!“

„Nein danke!“, wehrte Kathi entschieden ab. „Es ist für mich hier noch vieles zu fremd.“

„Kann ich verstehen“, pflichtete der Doktor ihr bei. „Und doch gibt es kaum eine bessere Möglichkeit zur freien Kommunikation als hier. Wie oft lassen wir uns in unseren Urteilen von althergebrachten Zwängen und Glaubenssätzen leiten. Wenn es uns aber gelingt, diese Muster zu überblenden und den reinen Fakt zu betrachten“, er räusperte sich, „kommen wir zu einem völlig wertfreien Denken, getreu dem Spruch ‚sapere aude‘3.“

Dabei strahlte er Kathi an, die von seiner Professionalität beeindruckt war. Sie versuchte zu nicken, war aber aus einem ihr unerklärlichen Grund blockiert. „Wie um Himmelswillen kommen Sie darauf?“

Unverhofft verlor er alle Hemmungen, neigte sich ihr zu und flüsterte in fast schon unangenehmer Vertrautheit: „An Kants Leitspruch kommt niemand vorbei, das wissen wir beide doch besser als jeder andere, nicht wahr?“

Entgeistert sah Kathi ihn an. Offenbar war er nicht normal. Aber wer war das hier schon. Folglich schwankte ihr Urteil zwischen einem guten Psychologen und einem durchtriebenen Scharlatan, der mit ihrer Unwissenheit spielte, um sie zu erforschen. Normalerweise hasste sie so etwas. Jetzt aber schmeichelte es ihr.

Erst jetzt stellte sie zu ihrer Verwunderung fest, dass er noch immer ihre Hand hielt, die er bei der Begrüßung wie selbstverständlich ergriffen hatte.

Plötzlich bemerkte sie ihren Partner, den sie in diesem Moment ganz vergessen hatte.

Als dieser sie Hand in Hand mit diesem Mann bemerkte, wurde er kreidebleich. Er sagte auch etwas und machte einige hektische Gesten. Aber aufgrund der Entfernung und des Lärms war nichts zu verstehen. Erst als er näher trat und den Doktor aufforderte, seine Begleiterin auf der Stelle loszulassen, kam sie wieder zu sich.

Schon wollte sie Alex beruhigen, denn schließlich wäre doch nichts passiert. Aber als er diesen Mann mit ‚Herr Wittenburg‘ ansprach, fiel sie aus allen Wolken. Augenblicklich zog sie ihre Hand zurück.

„Darf ich Ihnen unsere neue Referendarin vorstellen?“, setzte der Hauptkommissar mit bebender Stimme hinzu. „Katharina Freifrau von Hardenberg.“

„Sehr angenehm. Sind Sie jetzt enttäuscht?“, erkundigte sich der Beschuldigte sogleich mit einem eigenartigen Lächeln.

„Oh nein, durchaus nicht, nur etwas durcheinander!“ Kathi hatte alle Mühe, sich zu beherrschen.

„Professor Wittenburg erlaubt sich bisweilen solche Scherze“, fuhr Alex erklärend dazwischen. „Aber bei seinem Charme fällt ihm so etwas leicht.“

„Glauben Sie ihm kein Wort“, korrigierte der Professor ihn. „Er übertreibt wieder einmal. Es ist nur seine Art, mich bei Laune zu halten, denn er will etwas von mir.“

„Aber verehrter Herr Wittenburg. Sie sollten nicht immer so schlecht von mir denken. Sie wissen doch, ich bin Ihr Freund“, intervenierte Alex katzenfreundlich und deutete sogar eine leichte Verneigung an. „Und wenn ich etwas von Ihnen will, dann nur Ihr Bestes.“

„Ja, natürlich. Deshalb bewundere ich immer wieder Ihre Entschlossenheit! Immerhin sind Sie Ihrem Dienstherrn verpflichtet. Dazu gehört es nun mal, das Kind beim Namen zu nennen. Und dass ich offiziell verrückt bin, ist doch kein Geheimnis, oder?“ Der Professor wandte sich jetzt wieder der Referendarin zu. „Sind Sie schon mal einem Verrückten begegnet, der weiß, dass er verrückt ist?“

„Nein. Aber ich muss Ihnen ein Kompliment machen. Man spürt es wirklich nicht“, gestand sie errötend.

„Oho. Damit bringen Sie aber all diejenigen in Verlegenheit, die ständig das Gegenteil behaupten. Und diese Herrschaften sind bisweilen hoch dotiert.“

„Möglich. Aber ich sage Ihnen nur, was ich denke“, erwiderte sie zu seinem Erstaunen.

„Tun Sie das immer?“ Er musterte sie neugierig.

„Unbedingt“, insistierte Kathi.

„Dann sind Sie sehr mutig. Aber auch sehr dumm, wenn ich das einmal so sagen darf.“

„Wieso?“ Kurz haderte sie.

„Die Wahrheit ist nicht immer populär. Im Gegenteil, man schafft sich mit ihr oftmals Feinde.“ Plötzlich fuhr er zusammen und schaute sich ängstlich um.

„Was ist?“, wollte Kathi sofort wissen.

„Spüren Sie es nicht?“

„Nein, was meinen Sie?“

„Es ist dort oben. Es belauert uns.“

Kathi sah den Professor irritiert an. Dabei hatte sie gar nicht bemerkt, dass Alex ihr die ganze Zeit ein Zeichen gab, jetzt bloß den Mund zu halten.

„Jetzt ist es weg“, mischte ihr Kollege sich schlichtend ein.

„Wirklich?“ Wittenburg sah ihn unsicher an.

„Ganz sicher“, beteuerte der Hauptkommissar.

Die Situation hätte nicht skurriler sein können. Aber während Alex kurz vorm Platzen stand, begann ihr gemeinsamer Patient sie mit einem Mal zu loben. „Ich muss Ihnen gratulieren, mein lieber Knoblich, diese junge Dame wirkt wirklich sehr professionell, ganz anders, als die Letzte, mit der sie es versucht haben.“

„Aber was reden Sie da? Was soll ich versucht haben?“, empörte Alex sich sofort.

„Na, mir etwas zu entlocken, was ich gar nicht sagen wollte. Sie müssen wissen, Frau von Hardenberg, Ihr Mentor ist auf diesem Gebiet unübertroffen. Kaum hat man etwas geäußert, missversteht er es und sucht die Schuld beim Befragten, ohne auf die Idee zu kommen, es liege womöglich nur an seiner falschen Interpretation. Das ist eine geschickte Taktik. Nur hat sie einen Makel. Sie ist unlauter. Gewöhnen Sie sich so etwas niemals an. Es macht unglaubwürdig.“

„Unsinn“, wiegelte Alex lachend ab. „Das entspringt doch alles nur Ihrer Fantasie! Im Übrigen denke ich, sollten wir uns jetzt auf das Wesentliche konzentrieren. Wie fühlen Sie sich, Herr Professor? Noch immer diese Kopfschmerzen?“

„Mir geht es blendend. Sehen Sie das nicht?“ Erneut wandte er sich an Kathi und betrachtete sie aufmerksam. „Eine Freifrau also, interessant. Haben Sie auch blaues Blut?“

„Möglich“, entgegnete sie mit einem verlegenen Lächeln.

„Dann sind Sie ja etwas ganz Besonderes. Wer kann schon einen aristokratischen Stammbaum vorweisen.“

„Da haben Sie recht. Unser Geschlecht lässt sich bis zum Jahr 1436 zurückverfolgen, und man hat mir bereits als Kind die Reihenfolge unserer Ahnen eingebläut. Verlangen Sie aber jetzt bitte keine Aufzählung von mir, sonst sitzen wir heute Abend noch hier.“

„Wäre das so schlimm? Es ist nie verkehrt, seine Wurzeln zu kennen. Übrigens ist in meiner Ahnenreihe auch eine Baroness zu finden, Baroness Ottilie von Trotha-Saalbach. Leider nur mütterlicherseits. Durch ihre Heirat ging später der Titel verloren. Seitdem muss ich mich mit einem nichtigen „Wittenburg“ begnügen“, scherzte der Professor.

„Das hat auch Vorteile“, bemerkte Kathi nüchtern. „Sonst hätten Sie womöglich noch anderweitige Verpflichtungen und diese könnten Ihnen schnell zur Last fallen.“

„Was denn, zum Beispiel?“

„Gewisse Erwartungshaltungen, die nicht immer angenehm ausfallen“, erwiderte sie, wie aus der Pistole geschossen.

„Oh, Sie machen mich neugierig. Sie meinen doch nicht etwa den aristokratischen Dünkel oder die moralische Impertinenz? Das verbindet man doch damit, nicht wahr? Aber so hat wohl jeder sein Päckchen zu tragen … Gratuliere, mein lieber Knoblich. Mit Ihrer Referendarin haben Sie endlich mal eine gute Wahl getroffen! Warum haben Sie mir diese Überraschung nicht angekündigt? Ich hätte doch ein paar Blumen besorgt!“

„Ich bin untröstlich, aber Blumen sind im Dienst passé. Das wissen Sie doch“, stellte der Hauptkommissar unmissverständlich klar, dem die ganze Situation zu entgleiten drohte.

„Blumen sind niemals passé“, korrigierte der Professor ihn sogleich. „Diese kehren all das nach außen, was wir nicht zu sagen vermögen. Und was wäre der Mensch ohne diesen wortlosen Ausgleich?“

„Das haben Sie wieder einmal trefflich formuliert, hahaha, wirklich gut!“ Alex musste jetzt tatsächlich lachen. „Nun wissen Sie auch, warum ich so unausgeglichen bin – mir fehlen die Blumen!“ Sein Lachen artete jetzt zu einem wahren Brüllen aus.

Der Professor maß ihn rätselnd. „Sie sind ein seltsamer Kauz. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?“

„Nein.“ Knoblichs Lachen erstarb und er fragte ernst: „Wie meinen Sie das?“

„Sie lachen an den falschen Stellen.“

„Woher wollen Sie das wissen?“, fragte Alex scharf zurück, der sich vor seiner Partnerin herabgesetzt sah.

„Lachen ist immer Folge einer Inkongruenz zwischen einem realen Bild und der dazu gedachten Vorstellung“, wurde er daraufhin belehrt. „Nur dann animiert es zur Heiterkeit. Sie aber lachen grundlos. Das wirkt nicht nur lächerlich, sondern ist auch ein Zeichen geistiger Beschränktheit.“

Der Hauptkommissar zuckte zusammen. Wer weiß, was geschehen wäre, hätte ihm seine Begleiterin nicht mit einem lockeren: „Aber Humor ist bekanntlich, wenn man trotzdem lacht“, aus der Patsche geholfen.

„Sie meinen das Lachen aus Solidarität?“, folgerte der Professor verwundert.

„Nein, aus Mitgefühl. Bekanntlich ist Lachen ansteckend. Somit ist in diesem Fall diese Inkongruenz inkommensurabel“, blödelte Kathi.

„Inkommensu … was?“ Fragend sah der Hauptkommissar sie an.

„Damit haben Sie durchaus recht“, erwiderte der Professor, ohne Alex aufzuklären. „Denn das dem Lachen zugrunde liegende Motiv ist nichts anderes als eine verzerrte Abstraktion der Vernunft. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht?“

„Nein, und das werde ich auch nicht! Denn ehrlich gesagt, habe ich kein Wort verstanden“, gab Kathi freimütig zu.

„Nun, das konnten Sie auch nicht, denn das war nichts als purer Unsinn.“

„Warum erzählen Sie es mir dann?“

„Um Sie zum Lachen zu bringen, was Ihnen übrigens viel besser steht als Ihrem Kollegen. Darum sollte er auch zum Lachen besser in den Keller gehen.“

„Hören Sie, Professor.“ Empört stemmte der Hauptkommissar die Hände in die Seiten. „Lassen Sie diese Anspielungen! Ich bin keine Witzfigur!“

„Das sagt doch auch niemand. Im Gegenteil, ich meine das im Ernst. Und das ist schlimm genug.“

Über diese Zweideutigkeit verunsichert, flüchtete Alex sich rasch in übertriebene Sachlichkeit und verwies noch einmal darauf, nicht zum Spaß hier zu sein, sondern aus einem bestimmten Grund.

„Natürlich. Beamte brauchen für alles einen Grund, vor allem einen Dienstauftrag. Was sind Sie doch für ein gottverdammter Spießer, Knoblich“, warf ihm der Professor vor.

Alex schäumte. Man sah ihm sein Unbehagen an. Vor allem aber missfiel ihm Kathis Freimütigkeit, die sie seinen eigenen Späßen gegenüber bislang vermissen ließ.

„Herr Professor, Sie werden gestatten, aber ich habe Ihre Akte gelesen und bin auf ein paar Ungereimtheiten gestoßen“, fuhr die Referendarin jetzt zum Entsetzen des Hauptkommissars dazwischen.

„Ja natürlich“, erwiderte dieser. „Weshalb kommen Sie wohl sonst? Nur weiß ich nicht, was das bringen soll.“

„Aber, ich bitte Sie! Es geht um die Wahrheit. Das sollte Ihnen doch auch am Herzen liegen, zumal manches in der Akte unklar ist“, setzte Kathi nach.

„Ist es das?“

„Ich denke schon. Und genau deshalb benötigen wir Ihre Hilfe in Form einer nochmaligen Befragung, die wir protokollieren sollten.“

„Wie stellen Sie sich das vor?“, intervenierte Wittenburg und sah sie entgeistert an. „Ich bin juristisch unzurechnungsfähig. Folglich ist meine Aussage wertlos.“

„Ganz so ist es nicht“, korrigierte sie eilig. „Es gibt da einiges, das wir nur mit Ihrer Hilfe klären können, um die Wahrheit herauszufinden.“

„Die Wahrheit? Wen interessiert schon die Wahrheit, so lange sie nicht die allgemeine Bequemlichkeit stört“, seufzte der Professor und wurde erneut nachdenklich. „Wissen Sie eigentlich, was eine amtlich beglaubigte Entmündigung bedeutet? Sie bedeutet die Befreiung vom Diktat der Moral.“

„Sparen Sie sich Ihren Zynismus“, unterbrach Kathi ihn, wurde aber umgehend von ihrem Kollegen ausgebremst.

„Aber natürlich verstehen wir das, verehrter Professor“, korrigierte er seine Referendarin sofort. „Wir verstehen alles. Deshalb sind wir ja hier. Meine Kollegin hat das nicht so gemeint.“

„Ich meinte das absolut so!“, widersprach sie vehement. „Es könnte sein, dass Sie womöglich unschuldig einsitzen! Ihre Kooperation vorausgesetzt, hätten wir die Möglichkeit, das herauszufinden! Und was tun Sie? Ihnen fällt nichts Besseres ein, als über solchen Unsinn zu sinnieren! Wenn das Ihre ehrliche Meinung sein sollte, gehören Sie wirklich hierher!“

Alex verschlug es die Sprache. War diese Närrin von allen guten Geistern verlassen? Wie konnte sie sich so vergessen. Der Professor starrte sie derweil mit offenem Mund an, aber ihre deutlichen Worte überraschten ihn doch sehr.

Es folgte ein betretenes Schweigen, in welchem niemand als erster das Wort zu ergreifen wagte. Vor allem aber bekam Kathi plötzlich Angst. Fürchtete sie doch, überzogen zu haben.

Plötzlich legte Professor Wittenburg die Hand an die Stirn und sah sie an, als müsste er sie neu beurteilen. „So ist das also. Sie wollen mir wirklich helfen. Dann wären Sie die Erste. Fürchten Sie denn keine Konsequenzen?“

„Tut mir leid. Aber ich verstehe nicht.“

„Nun ja. Man könnte Sie bestrafen, tadeln oder einfach nur übers Knie legen, weil sie etwas Unerwünschtes tun.“ Während der Professor das sagte, verzog er nicht die geringste Miene, indes Kathi krebsrot wurde.

„Was erlauben Sie sich?“, protestierte sie mit vor Zorn gedämpfter Stimme und starrte den Patienten befremdet an.

„Ich erlaube mir, Ihnen zu sagen, dass Sie eine hoffnungslose Idealistin sind.“

„Das sollten Sie doch bitte mir überlassen!“, widersprach sie.

„Nichts lieber als das. Nur bin ich überzeugt, dass Ihr Kollege das ganz anders sieht. Nicht wahr, Knoblich? So wie ich Sie kenne, ist …“

„Aber sicher, Herr Professor!“, preschte dieser sogleich dazwischen, ergriff Kathis Arm und begann, sie langsam zur Tür zu ziehen.

„Was soll das, Herr Professor? Warum lassen Sie sich so gehen?“, intervenierte Kathi, sich Alex‘ Drängen widersetzend. „Sie wissen genau, was auf dem Spiel steht und sicher noch einiges mehr! Nur wagen Sie es nicht auszusprechen, weil Ihr Hochmut Sie daran hindert!“

Jetzt platzte dem Hauptkommissar vollends der Kragen. Mit einem heftigen Ruck riss er sie in Richtung Milchglastür, als wollte er sagen: ‚Halt endlich deine Klappe‘. Dabei rief er dem Professor noch zu: „Sie werden uns entschuldigen, aber wir haben noch einen anderen Termin!“

„Natürlich!“, murmelte der Patient vor sich hin und nickte wie zur Bestätigung. Inzwischen betätigte Alex den Signalknopf. Prompt sprang die Tür auf und er drückte Kathi aus dem Patientenbereich. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

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So oder so ist es Mord

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