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Als ich eine Million geschenkt bekam
ОглавлениеAls ich eine Million geschenkt bekam
Mama sagt „mein Großer“,
Papa sagt „Kumpel“ und
Oma sagt „Herzchen“ zu mir.
In der Klasse rufen mich einige „Mäxchen“.
Dann raste ich aus.
Doch von meinem Opa will ich erzählen.
Die Geschichte begann mit einer Urkunde.
Diese hatte ich in der Schule bekommen:
„Der Lesebär gratuliert Max-Tarde
zum erfolgreichen Bücherausleihen von zehn Büchern
aus der Klassenbücherei“
Mit dieser Urkunde ging ich stolz zu meinen Großeltern.
Sie wohnen nebenan.
Oma und Opa wollten gerade Koffer packen.
Urlaub an der Nordsee.
Mit dem Fahrrad.
Den Gummistiefeln.
Der Sonnencreme und
Opas Stock.
Oma suchte in der Küche den Dosenöffner.
Opa freute sich für mich.
„Toll, Max-Tarde“, sagte er.
„Dafür schenke ich dir …“,
er machte eine spannende Pause,
„ … eine Million.“
„Opa, eine Million?“
Ich klatschte in die Hände.
„Eine Million Euro?“, wiederholte ich gespannt.
„Das ist mein Geheimnis“, sagte er nach einer Weile.
Doch ich zappelte weiter.
Er verdrehte die Augen.
Oma rief.
Und Opa flüsterte: „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Ich komme wieder.
Dann schenke ich dir mein Geheimnis.
Versprochen.“
Sieben Tage später.
Mama, Papa und ich essen Abendbrot.
Das Telefon klingelt.
Wie immer nimmt Mama ab.
Ihre Augen werden ängstlich.
Sie wirkt so unheimlich.
Langsam legt sie das Telefon wieder auf den Tisch.
Papa drängelt.
Mama holt Luft:
„Opa liegt im Krankenhaus.
Das Herz. Und verwirrt ist er auch.“
Ich blicke Mama verwundert an.
Was denn nun, Herz oder verwirrt?
Opa war schon manchmal vergesslich:
„Wo ist meine Brille?
Was wollte ich gerade sagen?
Ich hatte keinen Termin“. Ja, so war Opa schon manchmal.
Aber deshalb gleich ins Krankenhaus?
Und das Herz?
Und was wird aus meiner Million?
Ich frage lieber nicht.
Mama und Papa sind plötzlich so komisch.
Manchmal ist schimpfen doch besser.
Freiwillig decke ich den Tisch ab.
Wir fahren in das Krankenhaus.
„Opa liegt im Koma!“
Ich wollte lachen.
Nennen die hier das Bett Koma?
Aber Oma weint.
Opa schläft.
„Er muss doch etwas essen und trinken. Bald wird er aufwachen.“
Ich warte.
„Es kann lange dauern.
Tage.
Wochen.
Vielleicht noch länger“, sagt Mama und hält Omas Hand.
Das kann ich nicht glauben. Mama ist kein Arzt.
Opa liegt einfach da.
Mama weint.
Oma weint.
Papa guckt aus dem Fenster.
Die Sonne scheint.
Der Himmel ist blau.
Die Blumen blühen.
Die Vögel zwitschern.
Die Autos fahren.
Die Flugzeuge fliegen.
Die Kinder schreien.
Alles wie immer, nur Opa liegt im Koma.
Auch am nächsten Tag noch.
Und am übernächsten.
Und noch später.
Oma sagt, es gibt dumme Fragen.
Das hätte Opa niemals gesagt.
Ich singe.
Und bete.
Aber es hilft nicht gegen die Angst.
Nach einer Woche fahren Papa und ich wieder nach Hause.
Opa bleibt im Krankenhaus.
Mama bleibt bei Oma.
Vierzehn Tage lang.
Das klingt länger als zwei Wochen.
Vierzehn Tage lang ohne Mama,
Pfannkuchen,
Gute-Nacht-Geschichten,
Gute-Nacht-Kuss,
begrüßen,
verabschieden,
Pflaster kleben,
trösten und lachen.
Papa hat keine Zeit dazu.
Er macht den Haushalt.
Und geht zur Arbeit.
Er bezahlt die Rechnungen.
Und passt auf mich auf.
Endlich hat Opa ausgeschlafen.
„Opa hat kein Koma mehr“, rufe ich.
Mama verkündet gute Neuigkeiten:
Es ist ein Wunder.
Opa kann sitzen.
Er kann gehen.
Er spricht.
Und er lächelt.
Ich habe viele Fragen:
„Was sagt er?
Welcher Tag ist heute?
Warum lacht er?
Weil er gut und lange geschlafen hat?
Ob er noch weiß, dass er mir sein Geheimnis schenken will?“
Dann kommt Opa endlich nach Hause.
Mit dem Krankenwagen.
Ich erschrecke.
Der lange Schlaf hat ihm nicht gutgetan.
Er presst die Lippen zusammen.
Und schließt die Augen.
Eine Träne rollt über seine Wange.
Ich halte seine Hand.
Eine Amsel fliegt auf das Dach.
Sie zwitschert ein Lied.
Alles ist so anders.
Mama hat einen Kuchen gebacken.
Es will nicht richtig schmecken.
Ich pflücke für den Opa ein paar Gänseblümchen.
Er lächelt mich an.
Leise spricht er: „Morgen kommt der Frühling. Weil der Kaufmann schließt.“
„Komm, Kumpel. Wir gehen nach Hause“, sagt Papa zu mir und steht auf.
Jeder Tag von mir ist anders.
Logo.
Bei Opa nicht.
Alles ist gleich:
Krankengymnastik.
Schlafen.
Arztbesuche.
Schlafen.
Übungen.
Schlafen
Tabletten.
Schlafen.
Ich muss mir die Tränen verkneifen.
Scheißmillion, denke ich.
Oma ist die beste Köchin der Welt.
Das hat Opa immer behauptet.
Diese Erbsensuppe.
Und erst der Apfelkuchen.
Opa lobt Oma nicht mehr.
„Was soll ich das nächste Mal kochen?“ fragt mich Oma und guckt verzweifelt.
„Nudeln mit Tomatensoße“, sage ich, wie jedes Mal.
Dann kommt Frau Sommer.
Frau Sommer ist eine Meisterin.
Sie hilft Opa.
Beim Turnen.
Beim Laufen.
Vielleicht sollte ich mal mit Frau Sommer reden.
Vielleicht turnt sie auch mit Opas Kopf.
Und holt die Million wieder hervor.
Heute sitzt Opa mit einer Decke im Garten.
Ich setzte mich dazu.
Wir blicken den Schmetterlingen nach.
„Nun, mein Sohn. Wie geht es deiner Frau?“
„Ich bin nicht Papa. Du verwechselst mich. Ich bin Max-Tarde.“
„Siehst du auch die fremden Menschen in unserem Teich?“ Opa runzelt die Stirn.
„Ich muss noch Hausaufgaben machen“, sage ich und will aufstehen.
„Oh, ja. Schule ist wichtig.“
Plötzlich flüstert er in mein Ohr: „Ich habe eine Million.“
Mein Herz klopft ganz laut.
Endlich, denke ich.
Opa lacht.
Dann friert er und will ins Haus.
Nachdenklich gehe ich nach Hause.
Eine Million, wenn ich eine Million Meter bis nach Hause laufen müsste.
Wie viele Kilometer sind das?
Und wie viele Schritte?
Ob die Schule alles ist im Leben?
Abends liege ich lange wach.
Mir geht noch mal Opas Million durch den Kopf.
Etwas muss ja dran sein.
Er fing ganz von selbst davon an.
Nach all dem langen und vielen Schlafen.
Seit gestern habe ich auch ein Geheimnis.
Ein ganz dickes!
Opa könnte ich es eigentlich erzählen.
Wir sollten tauschen.
Geheimnis gegen Geheimnis.
Wie Paninistickerbilder.
Oder Briefmarken.
Übermorgen frage ich ihn.
Übermorgen kommt ganz schnell.
Ich bin bei Oma und Opa.
Oma ist einkaufen.
Ich lese Opa vor.
„Wie heißt das Mädchen im Buch?“, fragt er mich nun schon zum dritten Mal.
„Tanja, heißt das Mädchen im Buch“, sage ich und esse einen Keks.
„Mein Geheimnis nehme ich mit!“, sagt er plötzlich.
„Die Million“, frage ich, „wohin nimmst du sie mit …?“
Er flüstert: „Mit in den Keller.“
„Du kannst alleine gar nicht in den Keller“, sage ich.
„Gib sie lieber mir!
Du hast es mir versprochen.“
Opa schweigt.
„Wie heißt das Mädchen im Buch?“ Opa sieht mich fragend an.
Da muss ich auf die Toilette.
Und schalte auf stur.
Opa scheint auch auf stur zu stellen.
Er fragt nicht mehr und ich lese still.
Mein Geheimnis konnte ich nicht tauschen.
Es lüftete sich ganz von selbst.
Sabine kam nämlich jeden Morgen und holte mich ab.
Und nachmittags fuhren wir Fahrrad.
Gingen schwimmen.
Kirschkernweitspucken.
Sie brachte mir das Pfeifen bei.
Und gab mir den ersten Kuss.
Opa gratulierte mir.
Und ich wurde rot.
Es wurde Weihnachten.
Und Frühling.
Und Sommer.
Und Herbst.
Und wieder Weihnachten.
Zum Glück ist es mit Opa weitergegangen.
Er hat wieder Appetit.
Frau Sommer kommt nicht mehr.
Er liest sogar wieder.
Und das wichtigste:
Er ist mit mir in den Keller gestiegen.
Opa nahm mich eines Tages beiseite und sagte:
„Vielleicht habe ich sogar untertrieben.
Vielleicht sind es sogar zwei oder drei Millionen.“
Ich platzte fast vor Neugierde.
„Kannst ja nachzählen.
Aber du wirst es nicht schaffen.“
Im Keller stand eine große Truhe.
Er zog das weiße Laken beiseite.
„Es sind nämlich Buchstaben.“ Opa sah mich geheimnisvoll an.
„Buchstaben?“, fragte ich.
„Ja, Buchstaben. Aus denen werden Sätze.
Diese stehen in Büchern.
Und diese Bücher schenke ich dir.
Du bist doch mein großer Lesebär.
Und Urkunde hin, Urkunde her.
Das ist ein Schatz, Max-Tarde.
Wenn du den gehoben hast, hast du es hier.“
Er hat sich zweimal auf seine Stirn getippt
und öffnete die Truhe.
Vorsichtig nahm ich ein Buch heraus.
Ich umarmte ihn und gab ihm einen Kuss.
Dann lief ich ganz schnell zu Sabine.
Vielleicht hilft sie mir beim Heben des Schatzes.