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Meine erste Banane war eine Ananas
ОглавлениеMeine erste Banane war eine Ananas.
Da stand ich nun.
Gestrandet in der Obstabteilung des Supermarktes.
Nur zehn Kilometer von zu Hause -
und doch eine Weltreise.
Im Brustbeutel mein Begrüßungsgeld.
Ich, ein Kind der DDR.
Dreizehn Jahre alt.
Und vom Gefühl geplagt,
gerade gründlich zu versagen.
Ich war nicht nur überglücklich,
sondern auch überfordert.
Total überfordert.
Welche Südfrucht passte denn zu mir?
Die Wende.
„Bitte keine übereilten Entschlüsse treffen.
Die Politik wird der Situation angepasst.“
Ich musste meine Situation dringend dem Supermarkt anpassen.
Es war verrückt.
Dabei hatte der Tag so gut begonnen.
Ich schob mein Fahrrad aus dem Stall.
Nur zehn Kilometer bis zur Grenze.
Mit dem Rad ein Katzensprung -
und doch eine Weltreise.
12.November 1989.
Über mir ungetrübter Herbsthimmel.
Unter mir löchriger Beton.
Vor mir der aufregendste Tag meines ganzen Lebens.
Ich wohnte in der schönsten Einöde.
Bahnhof Endstation: Sehnsucht.
Alles weit weg.
Sehr weit weg.
Aber die Grenze nicht.
Ich, Jörg.
Das Kind vom Zonenrandgebiet.
Der Grenzer kontrollierte.
Wortlos.
Mein Pass trug jetzt einen Stempel.
Und meine Kindheit war verschwunden.
Verschwunden mit dem Land,
das von „blühenden Landschaften“ ersetzt werden sollte.
Auf einem Campingplatz gaben sie mir einen Joghurt.
Und 100 D-Mark Begrüßungsgeld.
Ich durfte damit machen,
was ich wollte – unerklärlich.
„Das Gras war hier viel grüner.“
So ging ich in den Supermarkt.
Mich erwarteten:
Viele Preise, die auf Komma 99 endeten.
Musik,
Menschenmassen,
Hektik,
Glitzerlicht und
volle Einkaufswagen.
So hatte ich in die überschäumende Wahl,
und binnen Sekunden wurde aus mir ein
konsumschwacher,
hilfloser,
zielloser,
orientierungsloser,
fremdgesteuerter
Verbraucher.
Schnell begriff ich,
die 100 D-Mark würden nicht für alle Wünsche reichen.
Ich ignorierte tapfer
die Überraschungseier,
die Spielzeugabteilung und
die Süßigkeiten.
Dann sah ich sie,
und musste sie kaufen.
Die ganze Ananas.
Am Lenker flatterte die Plastiktüte.
In ihr meine Ananas.
Dann stand ich wieder in der Küche.
War zu Hause.
Was nun?
Ich stach das Messer in die Ananas hinein.
Drehte und wendete sie hin und her.
Sichelte mit mehreren Messern herum.
Mühsam schnitt ich die Schale von der Frucht.
Da wurde mir gleich klar,
der Westen würde kein Spaziergang sein.
Es wurde ein hartes, aber lehrreiches Stück Arbeit.
In den nächsten Jahren tat ich viele Dinge zum ersten Mal:
Leistungskurse belegen,
BAföG beantragen,
Beziehungen mit Westfrauen führen.
Manches ging schief.
Und es erforderte ein zweites Mal.
Manchmal schämte ich mich für mein Verhalten.
Manchmal musste ich lange warten.
Manchmal drehte sich das merkwürdige Gemisch aus zu viel auch um.
Manches war jetzt
zu bunt,
zu naiv und
zu extrem.
Manchmal wurde die neue Freiheit nicht nur in Maßen ausprobiert.
Manchmal wurde sie missbraucht,
und das in vollen Zügen.
Dreizehn Jahre Sozialismus,
25 Jahre Kapitalismus,
zwei Kinder aus der gesamtdeutschen Produktion,
und ein Leben, das ich nicht mehr tauschen will.
Ein gutes Leben.
Denn,
wenn die DDR die Ostsee war,
war alles, was dann kam, der Ozean.
Und ich bin froh,
ihn jetzt zu kennen.
Die erste Ananas war nur der Vorgeschmack.