Читать книгу Horstheide bei Nacht - Anja Kuemski - Страница 3

Kapitel 1

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Es knallt und prasselt. Irgendwo unter ihm. Silvester? Erbsen auf der heißen Herdplatte? Das hatte er als Kind lustig gefunden. Besser, er geht einmal nachsehen. Warum funktioniert das Licht nicht? Ah, da unten leuchtet es. Jemand hat klugerweise schon ein paar Kerzen angezündet. Aber er wohnt doch allein! Ist da jemand? Er hört sich selber nicht über den Lärm des Prasselns. Für Silvester ist es zu warm. Die Kerzen sind sehr hell. Er sieht das Licht flackern, aber er sieht die Kerzen nicht. Das Licht läuft vor ihm weg. Jemand muss die Kerzen tragen, um ihm den Weg zu leuchten. Die Hitze ist unangenehm. Da vorne, das müssen die Kerzen sein. Nein, viel zu hell. War der Korridor schon immer so ewig lang? Na endlich, die Lichter. Sehr große Lichter. Fackeln? Da sind Menschen. Die Menschen leuchten. Die Hitze ist unerträglich. Warum ist es so heiß? Warum leuchten die Menschen? Die Hitze raubt ihm den Atem. Die Luft schmeckt nach Asche. Eine brennende Hand greift nach ihm.

*

„Tut mir leid, Herr Kattenstroth, dass ich Ihnen keine andere Auskunft geben kann, aber solange die Angelegenheit mit Ihrer Versicherung noch nicht geklärt ist, können wir bedauerlicherweise auch keine neuen Kredite in Erwägung ziehen. Das verstehen Sie doch sicher?“

„Jaja“, murmelte Kattenstroth und stand auf. Er schüttelte seinem Finanzberater die Hand und verließ die Bank.

Vor der Tür blieb er stehen und atmete ein paar Mal tief durch. Die kalte Morgenluft tat ihm gut. Wenn das so weiterging, würde er sich einen komfortablen Platz unter einer Brücke suchen müssen. Besser, er gewöhnte sich also schon mal an die Kälte.

Er holte sein Telefon hervor und rief seine Schwester an, um ihr mitzuteilen, dass er auch weiterhin für Handlanger-Tätigkeiten zur Verfügung stand.

„Das trifft sich gut, Johannes, denn ich habe einen neuen Auftrag reinbekommen und wollte doch über Ostern eigentlich mit Richie wegfahren.“

Kattenstroth seufzte. Eigentlich wäre es ihm lieber gewesen, Kerstin hätte nichts für ihn gehabt. Er mochte den Job als Aushilfs-Privatdetektiv nicht besonders. Aber da seine Berufsaussichten derzeit alles andere als rosig waren, hatte er keine Wahl.

„Worin besteht denn der Job?“

„Wir sollen jemanden beschatten.“

„Bestatten wäre mir lieber.“

„Tja, damit ist es aber erst mal vorbei. Wollte die Bank dir kein Geld geben?“

„Nicht, solange die Versicherung nicht zahlt.“

„Kann man ja auch verstehen. Warum sollten die dir deinen Neubau finanzieren, wenn sie befürchten müssen, dass du die alte Bude selber abgefackelt hast.“

„Kerstin!“ Johannes blickte sich entschuldigend um, als ihn ein paar Passanten erschrocken anschauten.

„Ja, schon gut. Ich glaube ja nicht, dass du das getan hast. Aber solange die Versicherung es glaubt, hast du eben ein Problem. Also, machst du den Job?“

„Ja, mail mir mal die Einzelheiten.“

„Mache ich. Aber ich muss darauf hinweisen, dass ich den Fall überhaupt nur sehr zögerlich angenommen habe. Die Auftraggeber sind sehr anonym unterwegs und wollen - oder können - nicht so richtig sagen, was genau sie eigentlich erwarten.“

„Klingt nicht gerade vertrauenswürdig.“

„Nein.“

Es entstand eine kleine Pause und Kattenstroth verstand, dass seine Schwester den Fall nur ihm zuliebe angenommen hatte, damit er Geld verdienen konnte.

„Also schön, ich mache es. Wen sollen wir denn beschatten?“

„Der Mann heißt Schücking und wohnt in der Lessingstraße. Wir sollen ihn zwei Wochen lang rund um die Uhr beschatten und unsere Beobachtungen jeden Tag per Mail mitteilen.“

„Klingt sehr vage. Irgendetwas, worauf wir achten sollen?“

„Nein, das finde ich auch seltsam. Ich schlage vor, du fängst erst einmal an. Und wenn dir das alles zu merkwürdig vorkommt, dann gibst du den Fall zur Not eben wieder ab.“

„Einverstanden, dann gib mir mal die Adresse.“

*

Email:

Von: kattenstroth@web.de

An: hlaut@gmail.com

Betr. Observierung Schücking 1. Bericht/Ostersonntag

Die Zielperson bewohnt ein gut erhaltenes Haus aus der Gründerzeit, vor dem Haus steht ein gut gepflegter Sportwagen. Das Klingelschild weist lediglich den Namen 'Schücking' auf, keinerlei Hinweise auf weitere Bewohner oder Familie. Der Garten hinter dem Haus wird offenbar wenig benutzt, Modell 'Elegant verwildert'.

8:13 Uhr: Die Zielperson scheint aufgestanden zu sein, es werden in rascher Folge verschiedene Jalousien aufgezogen und Lichter im Haus gehen an und aus.

Da Sonntag, keine Post.

Keine weiteren Vorkommnisse. Zielperson verlässt nicht das Haus, erhält keinen Besuch.

Der Sportwagen (Corvette C3, silber, BJ '77) weist keinerlei Hinweise auf seinen Besitzer auf, keinen einzigen persönlichen Gegenstand, keine Krümel auf den Sitzen.

Nach Einbruch der Dunkelheit: Die Abfolge des Licht Ein- und Ausschaltens lässt darauf schließen, dass sich sowohl die Küche als auch das Wohnzimmer im Erdgeschoss befinden.

22:34 Uhr: Zielperson lässt alle Jalousien herunter, das letzte Licht, das gelöscht wird, befindet sich im 1. Stock, wahrscheinlich das Schlafzimmer.

Bemerkung:

Wenn Sie mir mitteilen könnten, worauf ich genau achten soll, könnte ich gezielter vorgehen.

Mit freundlichen Grüßen

J. Kattenstroth

Email:

Von: hlaut@gmail.com

An: kattenstroth@web.de

Betr. AW: Observierung Schücking 1. Bericht

Sehr geehrter Herr Kattenstroth,

wie bereits erklärt, können wir Ihnen zu diesem Zeitpunkt keine weiteren Angaben machen. Gehen Sie bitte zunächst davon aus, dass jedes Detail von Bedeutung ist.

Wäre es möglich, die Berichte nicht am Ende des Tages, sondern jede Information zu seiner Zeit zu erhalten? Falls es an den nötigen technischen Voraussetzungen scheitert, zögern Sie nicht, uns dies mitzuteilen. Ein mobiles, internetfähiges Gerät kann Ihnen zur Verfügung gestellt werden.

Mit freundlichen Grüßen

hlaut

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meinten Sie 'Haut'?

*

Kattenstroth war nicht sonderlich glücklich mit diesem Auftrag. Zum Einen behagte es ihm nicht, den Auftraggeber nicht zu kennen, zum Anderen erwies es sich als recht schwierig, das Haus zu beobachten. Die Straße war nicht sehr belebt, es fiel auf, wenn jemand länger hier herumlungerte. Er musste also häufiger den Standort wechseln, konnte nicht mit seinem Leichenwagen ständig in der Straße parken und einfach so herumstehen ging auch nicht. Zumal von einer Beschattung rund um die Uhr nicht die Rede sein konnte, solange er das allein machte. Immerhin würde Kerstin morgen wieder da sein und ihm dabei helfen können. Schließlich war sie die Fachfrau, er war nur der Handlanger.

Er verbrachte den gesamten Ostermontag in der Nähe des Hauses, konnte aber nichts feststellen, was auch nur ansatzweise berichtenswert gewesen wäre. Das Zielobjekt verließ sein Haus den ganzen Tag nicht.

*

Email:

Von: kattenstroth@web.de

An: hlaut@gmail.com

Betr. Observierung Schücking

(Vielen Dank für die schnelle Lieferung des Tablets)

Datum: Dienstag, 22.04.2014

6:30 Uhr: Zielperson steht auf, Aktivität in verschiedenen Räumen, die auf einen geregelten morgendlichen Ablauf schließen lassen.

8:30 Uhr: Zielperson verlässt das Haus und geht zu dem Sportwagen. Schwarze Ledertasche. Personenbeschreibung:

männlich, Anfang 40, schlank, ca. 1,80 m, Brille, kurze schwarze Haare, sorgfältig frisiert und rasiert. Gut sitzender dunkler Anzug und Krawatte.

(Wenn das nicht Ihr Zielobjekt ist, sollten Sie mir das umgehend mitteilen. Bisher war nicht erkennbar, ob sich mehr als eine Person im Haus aufhält.)

8:52 Uhr: ZP parkt vor einem Haus in Vilsendorf, Aurikelweg. Eine Frau ca. Anfang dreißig, leicht zerzauste Kurzhaarfrisur, öffnet, wirkt nervös. ZP deutet zur Begrüßung eine Verbeugung an, alte Schule. Aus dem Haus hört man ein Kind schreien.

9:07 Uhr: ZP verlässt das Haus, ein Mann Ende dreißig verabschiedet ihn freundlich. Kind schreit immer noch. Ledertasche sieht zumindest nicht schwerer aus als vorher.

9:22 Uhr: ZP steuert Supermarkt Nähe Wache West an. Kauft im Laden frisches Gemüse (wählt sehr sorgfältig), Schweineschnitzel an der Fleischtheke, Milch, Eier und Butter, Mineralwasser und Toilettenartikel.

9:41 Uhr: ZP betritt mit der Ledertasche und der Einkaufstüte das Haus, öffnet zuvor den Briefkasten außen am Haus: ein brauner Briefumschlag, ca. Din A 4.

Rest des Tages, keine Besuche, ZP verlässt das Haus nicht mehr.

*

Die Rückmeldung des Auftraggebers zu seinem ersten Bericht war mehr als dürftig gewesen, mehr kam nicht. Nach wie vor ließ man ihn im Dunkeln über die Gründe für die Observierung. An sich war das leicht verdientes Geld, aber es behagte Kattenstroth nicht. Eigentlich gehörte es zu den Grundsätzen einer seriösen Agentur, keine anonymen Aufträge anzunehmen. Aber bisher war nichts zu erkennen, was auch nur ansatzweise auf illegale Machenschaften hindeutete, daher war er geneigt, das Geld noch ein klein wenig länger einzustreichen. Kerstin würde ab morgen wieder einsteigen und dann wäre ihm schon etwas wohler bei der ganzen Angelegenheit. Seine kleine Schwester war gut in ihrem Job, ganz im Gegensatz zu ihm selber, aber er hatte es sich ja auch nicht wirklich ausgesucht. Er schrieb ihr eine Email, dass sie am nächsten Tag gleich nach ihrer Ankunft loslegen könnte und die Adresse in Vilsendorf etwas genauer unter die Lupe nehmen sollte.

*

Email:

Von: kerstin-the-blob@t-online.de

An: jokatte@gmail.com

Betr. Vilsendorf

Hallo Henner!

Ich war in Vilsendorf und habe mir die Familie genauer angeschaut, die dieser Schücking besucht hat. Sie heißen Dörmann, Steffen und Lydia, Tochter Janice. Laut Aussage der Nachbarin sind es anständige Leute, gutes Einkommen, allerdings scheint das Kind seit vier Tagen ununterbrochen zu schreien und zu wimmern, was sie dazu veranlasst hat, das Jugendamt anzurufen. Die sind aber unverrichteter Dinge wieder abgezogen und seither herrscht dicke Luft in der Nachbarschaft. Was dieser Schücking da wollte, konnte die alte Nachbarin mir auch nicht sagen, aber sie hat gesehen, wie er angekommen ist. Sie hat dich übrigens auch gesehen und vermutet, du wärst von der Polizei, wegen dem Kindergeschrei, sozusagen inkognito vom Jugendamt geschickt. Ich bin dann zu den Dörmanns rüber und habe mich ebenfalls als Mitarbeiterin vom Jugendamt vorgestellt. Die wollten nicht mal meinen Ausweis sehen. Waren ziemlich verzweifelt, wenn du mich fragst. Das Kind schreit wie am Spieß, wenn es nicht gerade wimmernd vor sich hin dämmert. Es macht aber absolut nicht den Eindruck, als würde es vernachlässigt oder misshandelt. Die Eltern erwähnten ein Buch, das dem Mädchen gehörte und das nun verschwunden ist. Deshalb schreit die Kleine so. Merkwürdig, wenn du mich fragst. Jedenfalls wollen sie das Buch unbedingt wieder haben, dann würde das Geschrei auch wieder aufhören. Ich habe behauptet, einen Privatdetektiv zu kennen, der ihnen behilflich sein könnte und das war ja nicht gelogen ;-). Ich komme dich gleich ablösen, dann kannst du offiziell bei den Leuten vorstellig werden. Außerdem gibt dir das die Gelegenheit, auch mit Schücking direkt zu sprechen, wenn du behauptest, im Auftrag der Dörmanns zu kommen. Da fällt dir schon was ein.

Bis gleich

Kerstin

*

Kattenstroth fuhr am nächsten Morgen raus nach Vilsendorf. Als Kind war er öfter hier gewesen, aber der Vorort hatte sich seither stark verändert. Der ländlich-dörfliche Charakter war einer typischen Vorstadtsiedlung gewichen. Zugegeben, die Häuser waren etwas bunter als sonst üblich, aber das Wort, was ihm dazu einfiel, war 'Ghetto'. Das Dorf war in verschiedenen Abschnitten erweitert und bebaut worden, aber mit jeder neuen Bauphase, fand Kattenstroth, war Vilsendorf hässlicher geworden.

Er bog in die Blumensiedlung ein und parkte das Auto vor einem Einfamilienhaus im Aurikelweg. Schon von draußen konnte er das Geschrei des Kindes hören. Im Nachbargarten stand eine ältere Dame und zupfte hier und da Unkraut aus ihrem ansonsten perfekten Rasen. Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu und nickte Richtung Geschrei.

„So geht das seit fünf Tagen. Ohne Pause“, erklärte sie und schüttelte missbilligend den Kopf.

Kattenstroth zuckte vage mit den Schultern und öffnete das kleine Gartentor, das zum Haus der Dörmanns führte. Das Geschrei zerrte jetzt schon an seinen Nerven.

Er hatte gerade erst geklingelt, da wurde die Haustür auch schon aufgerissen. Ein Mann um die dreißig öffnete ihm. Er wirkte gehetzt und abgespannt.

„Herr Dörmann? Mein Name ist Kattenstroth. Sie möchten einen Privatdetektiv anheuern?“

„Oh, gut, dass Sie da sind, kommen Sie rein.“

Kattenstroth sah sich noch einmal um, bevor er das Haus betrat. Sein Blick fiel auf die Nachbarin, die noch immer kopfschüttelnd in ihrem Garten stand. Er hatte ein ganz und gar ungutes Gefühl bei dieser Sache.

Herr Dörmann führte ihn durch den Flur ins Wohnzimmer.

„Entschuldigen Sie die Unordnung, aber wir haben im Augenblick andere Sorgen als aufzuräumen“, erklärte er.

Kattenstroth winkte ab. Das war nun wirklich nicht sein Problem. Das Geschrei jedoch war mehr als unangenehm.

Steffen Dörmann schien seine Gedanken zu erraten.

„Unsere Tochter.“ Er nickte Richtung erste Etage. „Meine Frau ist bei ihr und versucht sie zu beruhigen. Aber so geht das schon seit fünf Tagen. Seit das Buch geklaut wurde.“

„Ja, meine, ähm, Bekannte erwähnte das Buch, aber ich fürchte ich verstehe nicht ganz.“

„Unsere Tochter Janice ist ganz vernarrt in dieses Buch. Ein Bilderbuch mit sehr merkwürdigen Zeichnungen. Nicht ganz kindgerecht, wenn Sie mich fragen, aber sie liebt es heiß und innig. Sie nimmt es überall mit hin. Aber bitte nehmen Sie doch Platz.“

Er räumte ein paar Sachen vom Sessel und machte eine einladende Geste. Zögernd setzte Kattenstroth sich.

„Korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege, aber wollen Sie damit sagen, dass Ihre Tochter seit fünf Tagen ununterbrochen schreit, weil ihr Buch weg ist?“

Dörmann nickte verzweifelt.

„Warum kaufen Sie ihr dann nicht ein Neues?“

„Würde ich tun, aber das geht nicht.“

„Wieso nicht?“

„Das Buch hatte weder einen Titel noch stand der Name des Autors beziehungsweise des Zeichners drauf. Keine Bestellnummer, kein Verlag. Einfach gar nichts.“

„Woher haben Sie es denn?“

Etwas verlegen blickte Dörmann zu Boden. „Aus meiner Bibliothek. Aber wo genau ich es her bekommen habe, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich, dass es einer Bestellung beigelegen hat, die ich im letzten Sommer mal bekommen habe. Ich hatte es definitiv nicht bestellt.“

„Und dann haben Sie es einfach behalten?“

„Nein, ich weiß noch, dass ich es an den Absender zurück geschickt habe, aber es kam als unzustellbar zurück.“

Zweifelnd schaute Kattenstroth den Mann an.

„Ja, ich weiß, das klingt unglaubwürdig, aber genau so war es. Und da habe ich es einfach zu den anderen Büchern gestellt. Janice muss es da gefunden haben.“

„Und wer könnte es nun an sich gebracht haben?“

„Vielleicht eine ihrer Freundinnen? Sehen Sie, unsere Tochter geht seit letztem Sommer in den Kindergarten. Und wenn sie eine ihrer neuen Freundinnen besucht, dann wandern Dinge hin und her. Mal landet eines ihrer Kuscheltiere bei ihrer Freundin Michaela, dann finden wir bei Janice die Wachsmalkreide von Tini und so weiter. Aber Janice würde es nicht freiwillig dagelassen haben. Und zu den Eltern hinzugehen und danach zu fragen, das war mir ehrlich gesagt zu peinlich. Immerhin würde man den Mädchen damit ja Diebstahl unterstellen. Und streng genommen wäre es auch kleinlich, wegen eines Buches so einen Aufstand zu machen.“

Das Geschrei im ersten Stock schwoll ein wenig ab und ging in ein jammervolles Wimmern über. Fragend schaute Kattenstroth zu Dörmann.

„Sie ist erschöpft. Dann wimmert sie nur noch. Wir haben sogar schon den Notarzt zu Rate gezogen, aber der wollte ihr kein Beruhigungsmittel verabreichen. Er meinte, das würde sich schon geben, wenn sie erst mal müde wird und einschläft.“

„Und?“

„Sie schläft nicht ein. Zwar nickt sie kurz ein, aber nach ein paar Minuten ist sie wieder wach und das Geschrei geht von vorne los.“

„Sind Sie sicher, dass es mit dem verschwundenen Buch zu tun hat? Vielleicht ist sie einfach krank oder es tut ihr was weh?“

„Meinen Sie nicht, dass wir daran auch schon gedacht haben?“, fuhr Dörmann ihn an, hob dann aber entschuldigend die Hände.

„Tut mir leid, ich wollte Sie nicht anschreien. Aber Sie müssen verstehen, dass unsere Nerven wirklich blank liegen. Es ist so, dass wir natürlich schon vorher mal versucht haben, Janice das Buch wegzunehmen, wenn sie baden sollte oder beim Essen. Aber das Geschrei war jedes Mal dasselbe. Wenn sie gezwungen war, das Buch wegzulegen, musste es wenigstens in Sichtweite bleiben und niemand durfte es anfassen, sonst gab es auch wieder Geschrei.“

„Das klingt bedenklich, in der Tat. Haben Sie mal einen Psychologen hinzugezogen?“

„Wegen eines Buchs? Der hätte uns doch ausgelacht.“

„Ganz ehrlich, Herr Dörmann, mir ist gerade nicht nach Lachen zumute und ich wette, Ihren Nachbarn auch nicht.“

„Deshalb will ich Sie ja anheuern. Finden Sie dieses verdammte Buch, ich flehe Sie an.“

Kattenstroth seufzte schwer. „Also schön. Wann haben Sie es denn zum letzten Mal gesehen?“

„Am Karsamstag. Wir haben draußen im Garten gesessen. Janice hat auf der Wiese gelegen und in dem Buch geblättert. Meine Frau war kurz ins Haus gegangen und dann klingelte das Telefon. Da meine Frau offenbar nicht dran ging, bin ich selber ins Haus gegangen, um den Anruf entgegenzunehmen. Kurz darauf hörten wir von draußen unsere Tochter schreien. Wir sind natürlich sofort rausgerannt. Da stand sie vorne am Gartentor und schrie wie am Spieß.“

„Aber sie ist nicht rausgelaufen?“

„Sie kann das Tor nicht öffnen, wir haben eine Kindersicherung eingebaut. So kann sie im Garten spielen, ohne dass wir sie ständig im Auge behalten müssen.“

„Und war noch jemand in der Nähe?“

„Nein, ich habe niemanden gesehen.“

„Wie kommen Sie dann darauf, dass das Buch gestohlen wurde?“

„Wir haben den ganzen Garten und die Straße abgesucht, aber es nirgends gefunden. Und Janice würde sich freiwillig niemals davon trennen.“

Das Wimmern über ihnen schwoll wieder zu einem wütenden Brüllen an, verstummte dann kurz und wurde wieder zu einem Wimmern. Es klang geradezu unmenschlich. Dass ein vierjähriges Mädchen zu solchen Lauten fähig war, erschreckte Kattenstroth.

„Herr Dörmann, ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich Ihnen wenig Hoffnung machen kann. Wenn das Buch nicht im Garten war, wo sollte es sonst sein? Oder anders gefragt, wer sollte ein Interesse haben, Ihrer Tochter ein Bilderbuch zu stehlen?“

„Das weiß ich nicht. Aber dieses Buch war von Anfang an irgendwie merkwürdig, ich sagte es ja schon. Ich hatte die ganze Zeit so ein ungutes Gefühl.“

Kattenstroth fand das alles etwas vage, sagte aber nichts.

„Was für Bilder zeigt es denn überhaupt?“

„Tja, das ist nicht so leicht zu sagen. Ich habe es nur einmal durchgeblättert und dann nie wieder angeschaut. Es hatte so was …, so was …“ Er suchte händeringend nach Worten.

„Ja, was denn?“

„Etwas Unheiliges“, kam die Antwort von der Tür. Eine schmächtige Frau mit zerzaustem blondem Haar und tiefen Ringen unter den Augen stand da und starrte ihn mit beinahe leerem Blick an. Kattenstroth stand auf, reichte ihr die Hand und stellte sich vor.

„Lydia Dörmann. Danke, dass Sie gekommen sind. Hat mein Mann Ihnen schon das Problem geschildert? Nun, es ist ja nicht zu überhören“, seufzte sie und ließ sich auf den Sessel fallen, den Kattenstroth verlassen hatte. Von oben war noch immer leises Wimmern zu hören.

„Ich kann nicht mehr. Wir haben ihr Beruhigungsmittel in den Tee gerührt, aber sie trinkt ihn gar nicht erst. Wenn ich mit der Tasse komme, schlägt sie sie mir wütend aus der Hand. Ich weiß nicht, was ich noch machen soll.“

„Wie ich schon Ihrem Mann sagte, sollten Sie einen Psychologen einschalten. Vielleicht kann man mit den richtigen Medikamenten zumindest dafür sorgen, dass das Kind mal schläft. Das kann ja auf Dauer nicht gesund sein, wenn Ihre Tochter sich so verausgabt.“ In Gedanken fügte er hinzu, dass auch alle anderen davon profitieren würden, aber er ging davon aus, dass die Dörmanns auf diesen Gedanken auch von allein kommen würden.

Er verfluchte im Stillen seine Schwester, die ihn gedrängt hatte, diesen Fall anzunehmen, wobei er immer noch nicht genau wusste, worin der Fall nun bestand.

„Also, werden Sie uns helfen?“, unterbrach Frau Dörmann seine Gedanken.

„Das würde ich wirklich gerne tun“, log er, „aber ich sehe nicht, was ich tun kann. Sind Sie sicher, dass das Buch nicht doch irgendwo hier im Haus oder im Garten ist?“

„Ich sagte doch schon, wir haben alles mehrmals abgesucht. Natürlich war das auch unser erster Gedanke. Aber die Tatsache, dass Janice draußen am Gartentor stand, lässt uns darauf schließen, dass es da irgendwie verschwunden sein muss.“

„Also, Sie meinen, jemand ist vorbeigekommen, in Ihren Garten gegangen und hat es Ihrer Tochter aus der Hand genommen?“

„So in etwa.“

„Ich frage nochmal: warum sollte jemand so etwas tun?“

Das Ehepaar Dörmann schaute ihn ratlos an.

„Na gut, nehmen wir an, Ihre Tochter hat das Buch mal einer Freundin gezeigt und die wollte das dann auch unbedingt haben. Und diese Freundin ist nun am letzten Samstag hier vorbeigekommen und hat es sich einfach geholt. Wäre das denkbar?“ Kattenstroth fand es schwer, sich in die Psyche von Vierjährigen zu versetzen.

„Schon, aber keine Vierjährige spaziert einfach so hier durch die Siedlung. Ihre Mutter wäre doch wohl dabei gewesen und hätte mit Sicherheit geklingelt und uns Bescheid gesagt.“

„Trotzdem ist das ein Anhaltspunkt. Ich bräuchte also die Namen und Adressen der Freundinnen Ihrer Tochter.“

„Gott, wie peinlich“, murmelte Herr Dörmann, aber seine Frau nickte energisch und nahm Papier und Kuli zur Hand.

„Und was sagt eigentlich Ihre Tochter zu der Sache? Wenn ihr jemand das Buch weggenommen hat, dann müsste sie die Person ja gesehen haben.“

Das Ehepaar Dörmann tauschte einen vielsagenden Blick.

„Sie spricht nicht mehr. Sie schreit nur noch. Sie hört nicht zu, wenn wir mit ihr reden. Sie hat seither fast nichts mehr gegessen und nur sehr wenig getrunken. Ich weiß nicht mehr weiter“, erklärte Frau Dörmann.

„Ihr Kind braucht professionelle Hilfe“, erklärte Kattenstroth erneut und wunderte sich, wie man so unvernünftig sein konnte, nur weil die Situation vielleicht irgendwie merkwürdig oder peinlich war.

„Sie haben recht“, gab Herr Dörmann schließlich zu. „Ich werde sie ins Krankenhaus bringen. Das Kind gehört in psychologische Behandlung. Und ich brauche meinen Schlaf.“

Für einen Moment schien es, als wolle Frau Dörmann widersprechen, aber dann nickte sie müde und reichte Kattenstroth den Zettel. Vier Namen und Adressen standen darauf.

„Gut, dann werde ich die Kinder befragen. War sonst irgendwas anders am Samstag? Oder in den Tagen davor?“

„Nein, eigentlich nicht. Oh, wir hatten am Freitag Besuch, aber das kann ja damit nichts zu tun haben“, erklärte Frau Dörmann.

„Wer war denn zu Besuch? Hat Ihre Tochter den Besuch gesehen?“

„Sicher, aber der Besuch galt den Büchern meines Mannes. Herr Schücking war hier, weil er sich für einige von Steffens Büchern interessierte.“

Kattenstroth bemühte sich um ein neutrales Gesicht.

„Wer ist Herr Schücking? Und hat er auch mit Ihrer Tochter gesprochen?“

„Nein, sie sind sich vielleicht mal im Haus begegnet, aber Herr Schücking hat sich in erster Linie im Arbeitszimmer meines Mannes aufgehalten.“ Sie wies mit dem Arm zur Tür und stand auf.

Kattenstroth folgte ihr in ein geräumiges Arbeitszimmer, das ringsum mit Bücherregalen bestückt war, die wiederum vollgestopft waren mit Büchern aller Art. Kattenstroth war davon wenig beeindruckt, er hatte kein allzu großes Interesse an Büchern.

„Und dieser Schücking war deswegen hier?“, fragte er zweifelnd und wies in die Runde.

„Allerdings“, erklärte Herr Dörmann, der ihnen gefolgt war. „Ich besitze ein paar recht wertvolle Erstausgaben, die er sich ansehen wollte.“

„Warum?“

„Ich habe vor, sie zu verkaufen.“

„Und dieser Herr Schücking wollte sie kaufen?“

„Eventuell. Jedenfalls war er deswegen hier. Mehrmals in der letzten Woche.“

„Woher wusste er davon?“

„Ich hatte inseriert.“

„Na gut, dann geben Sie mir die Adresse von diesem Schücking auch noch. Kann ja nicht schaden.“ Er fragte sich, was sein eigentliches Observationsziel im Schilde führte, sah aber ein, dass es der Ermittlung dienen könnte. Jemand, der sich so sehr für Bücher interessierte, kam ihm als potentieller Dieb wahrscheinlicher vor als ein Kindergartenkind. Vielleicht war es das, was seine Auftraggeber suchten.

„Wenn er Ihrer Tochter hier im Haus begegnet ist, dann hat er doch sicherlich auch das Buch zur Kenntnis genommen?“

Frau Dörmann tauschte mit ihrem Mann einen fragenden Blick.

„Sicher. Aber wie gesagt, er kam für die Erstausgaben, nicht für ein Kinderbuch.“

„Wobei Ihr Mann eben gesagt hat, dass es eigentlich nicht wirklich für Kinder geeignet war. Und was genau darin abgebildet ist, haben Sie mir auch nicht gesagt.“

„Das ist auch gar nicht so einfach. Es sind Zeichnungen von Tieren, die aber keine echten Tiere sind, und von Pflanzen, die zwar echten Pflanzen ähnlich sehen, aber irgendwie auch wieder nicht.“

„Und gar kein Text?“

„Kein einziges Wort.“

„Na schön. Dann werde ich jetzt gehen. Sobald ein Arzt sich Ihrer Tochter angenommen hat, kann man sie vielleicht ja noch befragen. Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch was einfällt. Oh, und die Adresse von diesem Schücking bräuchte ich noch.“

*

Email:

Von: kattenstroth@web.de

An: hlaut@gmail.com

Betr. Schücking Zwischenbericht

Die Zielperson hat offenbar mehrfach in der vergangenen Woche die Familie Dörmann in Vilsendorf aufgesucht. Er hat sich für die Bücher des Herrn Dörmann interessiert. Außerdem vielleicht von Bedeutung: Ein Kinderbuch ist offenbar entwendet worden, das bei den Eltern Unbehagen und bei der Tochter Schreikrämpfe ausgelöst hat. Ob die Zielperson Interesse an genau diesem Buch hatte, ist noch unklar.

Weitere Infos folgen.

J. Kattenstroth

*

Die vier Freundinnen von Janice Dörmann waren ihm keine wirkliche Hilfe. Die Eltern waren ein wenig verwirrt, was genau er eigentlich wollte, die Mädchen bestätigten immerhin, dass Janice das Buch nie aus den Händen legte, was im Kindergarten immer mal wieder zu Streit bis hin zu Handgreiflichkeiten geführt hatte. Kattenstroth fragte sich, warum die Dörmanns nicht schon längst einen Kinderpsychologen aufgesucht hatten. Aber dem Buch brachte ihn das alles keinen Schritt näher. Auch im Kindergarten fragte er nach, aber dort erhielt er die selbe Auskunft wie von den Freundinnen des Mädchens.

Blieb ihm nur noch Schücking. Er fragte sich, ob es wirklich eine so gute Idee war, sich so frühzeitig in der Observierung der Zielperson persönlich zu nähern, aber nun hatte er sich einmal dazu entschieden und würde es durchziehen. Außerdem hatte Kerstin das selber vorgeschlagen und sie war der Boss. Eigentlich half er nur ungern als Detektiv aus, er war schließlich Bestatter mit Leib und Seele. Aber da sein Beerdigungsinstitut ein Raub der Flammen geworden war, musste er eben vorübergehend einen anderen Job machen.

Auch nach wiederholtem Anblick war die Villa an der Lessingstraße, vor der er schließlich hielt, ziemlich beeindruckend. Die Corvette stand vor dem Haus, er konnte Kerstin in ihrem klapprigen Opel ein paar Autos weiter sehen und nickte vage in ihre Richtung. Schücking musste wirklich ziemlich reich sein. Kattenstroth war überzeugt, dass man sich das alles nicht leisten konnte, wenn man mit ein paar gebrauchten Büchern handelte.

Er ging die drei Stufen zur Haustür hinauf. 'Schücking' stand auf dem schlichten Messingschild neben der Klingel. Von drinnen war klassische Musik zu hören. Kattenstroth musste dreimal klingeln, bis endlich jemand die Tür öffnete. Vor ihm stand seine Zielperson, auch heute in dunklem Anzug und passender Krawatte, und starrte missmutig auf ihn hinunter. Er überragte Kattenstroth um einen halben Kopf.

„Ja?“, fragte er ungeduldig.

„Mein Name ist Kattenstroth. Sie waren in den letzten Tagen bei Familie Dörmann zu Besuch?“

Die Augen seines Gegenüber verengten sich zu schmalen Schlitzen.

„Wenn Sie glauben, dass Sie mir den Mann vor der Nase wegschnappen können, dann haben Sie sich geschnitten.“

Er war im Begriff, die Tür wieder zuzuschlagen, aber Kattenstroth kam ihm zuvor. Er machte zwei Schritte auf Schücking zu, der überrascht zurückwich.

„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Und sicherlich habe ich es nicht auf Herrn Dörmann abgesehen. Ich stehe im Allgemeinen nicht auf Männer.“

Nun war es an Schücking, ihn ratlos anzusehen. „Wovon reden Sie?“

„Von Herrn Dörmann.“

„Na bitte. Sie sind schwer verwirrt, guter Mann. Ich rede von Heinrich Mann. Herr Dörmann besitzt einen Erstdruck vom 'Untertan'. Nichts Außergewöhnliches, aber dennoch etwas für Sammler.“

„Und Sie sind ein Sammler, oder was?“ Der arrogante Ton seines Gegenübers machte ihn selber sofort aggressiv.

„Nein, nicht direkt. Ich beliefere Sammler, wenn Sie so wollen. Ich betrachte mich als Zwischenhändler.“

Kattenstroth unterdrückte ein spöttisches Lachen. Das klang eher nach Strohmann als nach Bibliothekar. Sein Gegenüber war alles andere als abenteuerlich. Sein gebügelter dunkler Anzug saß akkurat, das Gesicht war glatt rasiert, jedes einzelne schwarze Haar seiner Kurzhaarfrisur lag genau da, wo es der Frisör hingefönt hatte; was Kattenstroth bisher vom Haus und vom Auto gesehen hatte, wirkte beinahe keimfrei. Kaum vorstellbar, dass dieser Mensch mit irgendwas Gebrauchtem handelte, selbst wenn es nur Bücher waren.

„Und was wollen Sie jetzt von mir, Herr Kattenstroth? Da Sie nun schon widerrechtlich in mein Haus eingedrungen sind, habe ich wohl ein Recht, das zu erfahren.“

„Sicher, deswegen bin ich ja hier. Aber könnten wir das vielleicht nicht gerade hier im Flur besprechen?“

„Ich werde mich hüten und Ihnen mein Haus zeigen. Am Ende sind Sie ein Einbrecher, der mich ausspionieren will.“

„Dann würde ich vielleicht nicht vorher meine Fingerabdrücke auf der Klingel hinterlassen und mein Gesicht in die Kamera draußen halten, meinen Sie nicht?“

„Die haben Sie bemerkt? Respekt. Also schön, kommen Sie mit ins Wohnzimmer.“ Er wies ihm den Weg, ging aber nicht voraus.

Kattenstroth folgte der Aufforderung und betrat ein geräumiges, helles Wohnzimmer. Von innen wirkte die Gründerzeitvilla keinesfalls altbacken. Die Gemälde an den Wänden waren irgendwie abstrakt und wahrscheinlich sehr teuer gewesen, nur eines zeigte das Porträt eines Menschen, ein Mann im besten Alter, mit hoher Stirn und wachen, freundlichen Augen. Vielleicht ein Vorfahre.

„Poggio Bracciolini“, antwortete Schücking auf die nicht gestellte Frage.

„Urahn?“

„Im Geiste. Er war Humanist und hat sich sehr darum verdient gemacht, verschollene Schriften zu finden.“

„Hm“, machte Kattenstroth. Er blickte sich weiter um, was den Hausherrn nicht zu stören schien.

Die Glasvitrine im Wohnzimmer war blank geputzt und zeigte nicht einen einzigen Fingertupfer. Kattenstroth musste zweimal hinsehen, um zu erkennen, was darin ausgestellt war. Alte Tintenfässer und Federkiele, außerdem alte Münzen und eine Gewehrpatrone, in Epoxidharz eingefasst. Sehr merkwürdig. Ein schwarz glänzender Flügel krönte den Eindruck der bürgerlichen Spießigkeit, die Kattenstroth in der Tat hier erwartet hatte, wenn auch weitaus weniger keimfrei als vermutet. Das helle Zimmer sah tatsächlich bewohnt aus und wirkte erstaunlich einladend. Er setzte sich ungefragt auf das dunkelbraune Ledersofa und schaute sich noch ein wenig um. Was um alles in der Welt machte diesen Mann interessant für seine Auftraggeber?

„Ich nehme an, Sie sitzen nun bequem genug, um mir endlich zu sagen, was Sie eigentlich wollen, wenn nicht den 'Heinrich Mann'.“

Schücking hatte es sich ihm gegenüber in einem der beiden Sessel bequem gemacht. Er wirkte nicht sonderlich besorgt darüber, dass ein Fremder in seinem Wohnzimmer saß, sondern eher neugierig. Kattenstroth hätte es leichtsinnig genannt, aber es sollte ihm recht sein.

„Ja, also, ich bin Privatdetektiv und die Dörmanns haben mich beauftragt, ein Buch wiederzufinden.“

Schücking schnaubte verächtlich und maß ihn dann skeptisch von oben bis unten. „Als ob Sie etwas von Büchern verstünden.“

Kattenstroth grinste und nickte. „Das Schwarze sind die Buchstaben, oder? Aber in diesem Fall ist das ein wenig anders. Sie waren also in den letzten Tagen mehrfach im Haus der Dörmanns?“

Schücking nickte, dann schien er zu verstehen, was damit impliziert wurde.

„Wollen Sie etwa unterstellen, ich hätte ein Buch widerrechtlich entwendet? Das ist eine bodenlose Frechheit!“, empörte er sich und sprang auf. „Hat Dörmann das etwa behauptet? Das wird ja immer schöner!“

„Nun beruhigen Sie sich mal wieder und setzen sich hin. Ich will nur ein paar Dinge klären. Ist Ihnen die Tochter aufgefallen?“

Schücking schien tatsächlich darüber nachdenken zu müssen. Er hockte sich auf den Rand des Sessels und zupfte sich am glatt rasierten Kinn.

„Hm“, machte er. „Ja, da war ein Kind.“

„Ihre Aufmerksamkeit wird eher von Büchern als von Menschen gefesselt, was?“

„Meistens.“

„Dann ist Ihnen sicherlich nicht entgangen, dass dieses Kind immer ein Buch bei sich trug?“

„Kann sein. Hören Sie, ich habe dem Kind keinerlei Beachtung geschenkt. Ich war ausschließlich wegen des 'Untertans' da.“

„Denken Sie nach, Mann. Es ist wichtig.“

„Moment mal! Das ist aber jetzt nicht Ihr Ernst? Es geht um ein Kinderbuch? Sie unterstellen allen Ernstes, ich hätte ein Kinderbuch gestohlen?“

„Es ist sehr speziell. Sehen Sie, ich unterstelle gar nichts. Aber ich dachte, wenn Sie so ein Bücherspezialist sind, dann können Sie mir vielleicht sagen, um welches Buch es sich gehandelt hat und man könnte den Eltern helfen, ein neues Exemplar zu bekommen und dann hört das Geschrei auf.“

„Was für ein Geschrei?“

„Sie müssen es doch auch gehört haben. Sie waren vorgestern dort.“

Wieder schien Schücking darüber nachdenken zu müssen, dann nickte er.

„Es war in der Tat ziemlich unmöglich, ein normales Gespräch zu führen.“

„Das Kind schreit wie am Spieß, seit das fragliche Buch am Samstag verschwunden ist.“

„Ich war nicht am Samstag bei den Dörmanns, wenn Sie es genau wissen wollen, sondern letzte Woche Montag, Mittwoch und zuletzt am Karfreitag. Und vorgestern natürlich.“

„Danke, das weiß ich auch. Aber Sie könnten heimlich hingegangen sein und es dem Kind weggenommen haben. Es scheint recht mysteriös zu sein, vielleicht wertvoll. Wer könnte das besser als Sie beurteilen, nicht wahr?“

„Höre ich Spott in Ihrer Stimme? Ich kann Ihnen nicht helfen. Und nun möchte ich Sie bitten, mein Haus zu verlassen, sonst rufe ich die Polizei. Das ist ja ungeheuerlich, was Sie hier unterstellen.“

Er stand auf und machte eine energische Geste Richtung Tür. Kattenstroth blieb nichts anderes übrig als tatsächlich zu gehen. Aber vielleicht würde er noch einmal wiederkommen. Dieser Schnösel war jedenfalls der einzige Anhaltspunkt, den er überhaupt hatte. Nicht zu vergessen, dass er den Mann eigentlich rund um die Uhr beschatten sollte. Manchmal war es zum Haare raufen. Da hatte seine Schwester wochenlang nicht einen einzigen Fall für ihn und jetzt hatte er gleich zwei auf einmal am Hals. Und wenn ihn nicht alles täuschte, dann hatten die beiden auch noch miteinander zu tun.

Auf der Straße blieb er neben seinem Auto stehen und schaute zum Haus zurück. Hinter einer Gardine glaubte er eine Bewegung zu sehen, aber Schücking zeigte sich nicht. Er war ratlos. Die Dörmanns hatten das Buch offenbar von einem Händler bekommen, der danach nicht mehr aufzufinden war. Zufall? Er sollte dem nachgehen. Und wer wusste alles davon? Dass das Buch wirklich gestohlen worden war, glaubte Kattenstroth eigentlich immer noch nicht so richtig, aber solange seine Geldgeber das glaubten, wurde er wenigstens bezahlt. Und merkwürdig war die ganze Sache in der Tat. Zumindest das Verhalten der Kleinen war mehr als rätselhaft. Er musste mehr über das Buch selber herausfinden. Also machte er sich auf den Weg zurück zu Familie Dörmann und überließ seiner Schwester weiterhin die Observierung.

*

„Und Sie meinen, das könnte hilfreich sein?“, fragte Steffen Dörmann zweifelnd. Kattenstroth nickte. „Wenn Ihre Tochter das Buch nie aus der Hand gelegt hat, dann müsste es auf so ziemlich jedem neueren Foto zu sehen sein, dass auch Ihre Tochter zeigt.“

„Das nehme ich an. Wir sind diesen Anblick schon so sehr gewohnt, dass es uns wahrscheinlich einfach nicht auffällt.“ Er schaltete sein Notebook ein und setzte sich damit zu Kattenstroth auf das Sofa. „Hier, schauen Sie selbst. Ich drucke Ihnen alle Bilder aus, die Ihnen weiterhelfen könnten.“

„Sagen Sie, den Herrn Schücking, kannten Sie den schon vorher?“

„Nein, wieso fragen Sie?“

„Ach, nur so. Sie haben also wegen dem Heinrich Mann inseriert und er hat sich gemeldet?“

„Ja, so war das.“

„Wo haben Sie inseriert?“

„In der Samstagsausgabe der NW.“

„Ja klar, wo sonst. Und hat er auch nach anderen Büchern gefragt?“

„Nein, ich meine, natürlich hat er sich meine Bücher aufmerksam und interessiert angeschaut, aber das ist immerhin sein Beruf, nicht wahr? Obwohl ich schon finde, dass er den Begriff 'Kunsthändler' recht weit fasst, wenn er mit Büchern handelt. Es hörte sich aber so an, als handle er mit allem, was alt ist und Geld bringt. Verdächtigen Sie ihn etwa? Er machte einen sehr seriösen Eindruck, wenn Sie mich fragen.“

„Hm hm“, machte Kattenstroth eher geistesabwesend und deutete auf zwei Fotos. Es zeigte Janice, wie sie versuchte, dem Fotografen auszuweichen, indem sie das Buch vor ihr Gesicht hielt.

„Drucken Sie mir diese Bilder aus? Oder schicken Sie sie mir per Mail, bitte.“

„Natürlich, kein Problem.“

In dem Augenblick wurde sich Kattenstroth des Umstandes bewusst, dass es absolut still war.

„Wo ist Ihre Tochter?“

„Meine Frau ist mir ihr nach Bethel gefahren. Sie haben keine Vorstellung davon, wie schwer es war, sie überhaupt ins Auto zu bekommen.“

„Dann wünsche ich Ihnen, dass die Ärzte Ihrer Tochter helfen können. Und am Ende erweist es sich als Segen, dass das Buch verschwunden ist. Vielleicht ist es besser so.“

„Sie glauben ja gar nicht, wie oft ich mir gewünscht habe, dass das verdammte Ding einfach verschwindet. Ich habe selber mal versucht, es einfach verschwinden zu lassen, aber Sie können sich ja denken, was für ein Geschrei das ausgelöst hat.“

„Die Ärzte wissen sicher Rat“, behauptete Kattenstroth ohne allzu große Überzeugung.

„Sicher“, antwortete Steffen Dörmann ebenso halbherzig und verzog den Mund zu einem müden Lächeln.

„Im Übrigen konnte ich feststellen, dass das Buch bei keiner der vier Freundinnen Ihrer Tochter gelandet ist. Haben Sie noch die Adresse von dem Händler, der es Ihnen geschickt hat?“

„Da müsste ich suchen, ist ja schon ein paar Monate her.“

„Bitte tun Sie das. Und war die Wirkung auf Ihre Tochter von Anfang an so? Da hätten Sie doch gleich intervenieren müssen.“

„Nein, wenn ich mich recht erinnere, dann war es am Anfang nicht so schlimm. Als ich sie das erste Mal mit dem Buch gesehen habe, hat sie es mir ja noch freiwillig gegeben, damit ich hineinschauen konnte. Erst nach und nach wurde sie so besessen davon.“

„Vielleicht hat der Vorbesitzer es doch wiederhaben wollen.“

„Dann hätte er sich doch nur melden müssen. Ich hätte es umgehend zurückgeschickt.“

„Haben Sie, nachdem es postwendend zurückkam, nochmal versucht Kontakt mit dem Händler aufzunehmen?“

„Nein, es erschien mir nicht wichtig genug. Und auch nicht so ungewöhnlich. Wenn man bei Antiquariaten größere Mengen Bücher bestellt, dann gibt es hin und wieder kleine Beigaben.“

„Sind die Bilder auf dem Cover repräsentativ für die Bilder in dem Buch?“, fragte Kattenstroth und hielt Dörmann überflüssigerweise die ausgedruckten Fotos unter die Nase. Er hatte Bilder gefunden, auf denen sowohl die Vorderseite als auch die Rückseite des Buches recht gut erkennbar waren.

„Ja, schon. Pflanzen und Tiere, die es nicht gibt. So ist das ganze Buch. Nur irgendwie ….“

„Unheilig. So nannte es Ihre Frau. Was hat sie damit gemeint?“

„Tja, schwer zu beschreiben. Es hat Unbehagen ausgelöst. Meine erste Reaktion war, es wegzuwerfen. Hätte ich das bloß getan. Aber man schmeißt Bücher nicht einfach in den Müll.“

Kattenstroth schaute sich die Fotos noch einmal genauer an. Das Buch war kleiner als er erwartet hatte, höchstens DIN A5, eher DIN A6 und sehr dünn. Die Zeichnungen auf dem Buchdeckel waren einigermaßen gut zu erkennen. Pflanzen, die er nicht kannte, und Tiere, die es nicht gab. Die Verfremdungen lösten auch bei ihm ein wenig Unbehagen aus. Nicht die Tatsache an sich, dass es sich um Fantasietiere und -pflanzen handelte, sondern die Art der Gestaltung. Es war rein objektiv nicht ungewöhnlich für ein Kinderbuch. Aber dass das Buch keinen Titel hatte, der Autor oder Zeichner nicht genannt wurde und es weder eine Nummer noch ein Verlagslogo gab, ließ eigentlich nur einen einzigen Schluss zu. Das Ding war ein Unikat. Und da er von Büchern an sich nicht viel und von Raritäten erst recht nichts verstand, fragte er sich, ob es wohl eine gute Gelegenheit wäre, damit zu Schücking zurückzugehen. Wenn er den Mann richtig einschätzte, würde er nicht wegen erneuter Belästigung die Polizei rufen, sondern seiner Neugier nachgeben.

*

„Sie schon wieder? Ich habe jetzt keine Zeit, bitte gehen Sie“, maulte Schücking und drängelte sich an Kattenstroth vorbei. Er zog die Tür ins Schloss, drehte zweimal den Schlüssel um und schaute ihn auffordernd an. „Ich sagte, gehen Sie bitte.“

„Ich hätte da aber noch ein paar Fragen.“

Schücking lachte auf. „Wer sind Sie? Columbo? Ich muss schon sehr bitten. Nach Ihnen.“

„Gibt es eigentlich viele wie Sie?“, fragte Kattenstroth ungerührt.

„Wie mich? Was wollen Sie denn damit sagen?“ Für einen Moment erschien etwas wie Panik auf Schückings Gesicht, war aber sofort wieder der kalten, abweisenden Arroganz gewichen, die er schon kannte.

„Na, so Kunstzwischenhändler.“

„Ich höre doch schon wieder Spott in Ihrer Stimme. Betrachten Sie es doch mal folgendermaßen: Dort steht meine Corvette. Und hier steht Ihr Wagen, ein klappriger Kombi, den Sie ganz offensichtlich einem Bestatter abgekauft haben. Was denken Sie, über wen wird man lauter lachen?“

„Kommt drauf an, wen Sie fragen.“

Schücking seufzte und rollte genervt mit den Augen. „Ich habe wirklich keine Zeit, ich habe einen Termin. Wenn Sie unbedingt Ihre Fragen stellen müssen, dann steigen Sie in Gottes Namen ein.“ Er wies auf die Beifahrertür des Sportwagens und Kattenstroth ließ sich nicht lange bitten.

Er war kein Meister der gepflegten Konversation, aber immerhin ergab sich während der Fahrt die Gelegenheit, diesem Schücking ein wenig auf den Zahn zu fühlen.

„Und Sie verdienen Ihr Geld ausschließlich mit gebrauchten Büchern?“

Schücking lachte laut auf und maß ihn mit einem langen Seitenblick.

„Würde es Ihnen etwas ausmachen, auf die Straße zu schauen?“, fragte Kattenstroth ein wenig besorgt. Schücking tat es mit breitem Grinsen. Es begann zu nieseln, er schaltete den Scheibenwischer ein. Das einsetzende nasskalte Wetter verschlechterte Kattenstroths Laune nur noch mehr.

„So wie Sie es sagen, klingt es in der Tat irgendwie unglaubwürdig. Aber ich habe schon versucht, es Ihnen zu erklären. Nennen wir es Devotionalienhandel. Von der Heiligenreliquie bis zur Popstar-Haarlocke, sozusagen. Bücher nehmen da einen nicht unerheblichen Platz ein. Ich spüre kostbare Raritäten auf, egal was, oft im Auftrag von reichen Sammlern. Die bezahlen eben gut. Was ein echter Sammler ist, der lässt es sich etwas kosten, das Objekt seiner Begierde in seinen Besitz zu bringen.“

„Klingt ziemlich dramatisch.“

„Ob Sie es glauben oder nicht, es gibt Menschen, die würden für so manches Objekt über Leichen gehen.“

Kattenstroth war der absolut ernste Tonfall Schückings nicht entgangen.

„Und Sie?“

Es dauerte für seinen Geschmack ein wenig zu lange, bis der Andere antwortete. Vielleicht hatten seine Auftraggeber doch ein berechtigtes Interesse an den Machenschaften dieses Mannes.

„Ich bin kein Sammler, nur ein Vermittler. Das ist etwas völlig anderes.“

„Sie haben das Mädchen und das Buch sehr wohl wahrgenommen.“ Es war eine Feststellung und Schücking nickte langsam, als würde er sich selber jetzt erst dieser Tatsache bewusst.

„Es waren ihre Augen.“

„Was?“

„Der Blick des Mädchens. Den habe ich schon oft gesehen. Allerdings niemals bei einem Kind. Absoluter Fanatismus, ohne jedes Maß, ohne Bezug zur Realität.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

Schücking fuhr die Corvette auf einen Seitenstreifen und stellte den Motor ab. Er wandte sich Kattenstroth zu und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als müsse er eine böse Erinnerung wegwischen. Für einen Moment hörte man nichts als den nun heftig prasselnden Regen.

„Als ich das erste Mal ins Haus der Dörmanns kam, begegnete ich im Flur dem Mädchen. Sie trug das Buch vor sich her wie einen Schutzschild. Ich kann nicht besonders gut mit Kindern, also habe ich nur höflich gegrüßt und bin weitergegangen. Aber ich konnte sehen, dass das Kind sich mit dem Buch immer so drehte, dass ich niemals in Reichweite kam. Nicht, dass ich das gewollt hätte, aber es war auffällig. Die Eltern taten so, als wäre nichts, also fragte ich auch nicht. Bei meinem zweiten Besuch starrte das Mädchen mich feindselig an. Ihre Eltern hatten ihr erklärt, dass ich Bücher kaufe. Rückblickend vermute ich, dass sie wohl befürchtete, ich wollte ihr Buch auch kaufen. Nichts lag mir ferner. Aber ich gebe zu, ich war neugierig, was so toll an ihrem Bilderbuch sein sollte. Als ich das Thema bei den Eltern anschnitt, warnten sie mich, nur ja nicht den Versuch zu machen, das Buch in die Hand zu nehmen. Bei meinem dritten und letzten Besuch war das Mädchen erst nirgends zu sehen, was mich ehrlich gesagt beinahe beruhigte. Aber als ich schon gehen wollte, traf ich sie im Flur, sie ging ganz nah an mir vorbei, hielt das Buch hoch, beinahe wie ein Kruzifix, und zischte mir irgendetwas zu. Ich habe kein Wort verstanden, aber ich erinnere mich, dass ich eine Gänsehaut hatte. Es kam mir vor, als hätte sie mich verflucht.“

Schücking hielt inne und starrte an Kattenstroth vorbei auf den Regen, der an den Scheiben herunterlief, oder auch nur ins Leere.

„Warum haben Sie mir das nicht gleich erzählt?“

„Wieso hätte ich das tun sollen? Sie dringen in mein Haus ein, stellen merkwürdige Fragen. Außerdem hatte ich beschlossen, die Sache zu vergessen. Sie müssen zugeben, es klingt doch ziemlich albern. Ich war sicher, ich hätte überreagiert. Manchmal besitze ich eine blühende Fantasie und habe eine Schwäche für schräge Ideen.“ Er zuckte mit den Schultern und lächelte schief.

Kattenstroth war relativ beeindruckt, wie freimütig der Mann seinen Charakter offenlegte. Er hätte sich einem Fremden gegenüber niemals so offen gezeigt. Oder aber er bekam gerade eine oscarreife Leistung vorgeführt.

„Würden Sie sich diese Fotos einmal ansehen?“ Er holte die Bilder aus seiner Jackentasche.

Einen Moment lang starrte Schücking auf die Fotos. Er hielt sie mal etwas weiter weg, dann stieß er beinahe mit der Nase auf das Papier. Kattenstroth ließ ihn schweigend gewähren.

„Kein Autor, kein Verlag, gar nichts“, murmelte der Kunsthändler schließlich.

„Das ist merkwürdig, nicht wahr?“

„Allerdings. Und irgendwie sind die Zeichnungen auf dem Cover …, sie sind ….“

„Unheilig?“, schlug Kattenstroth vor.

„Verstörend. Irgendwie nicht richtig. Krank. Verstehen Sie, was ich meine?“

„Ich glaube schon. Mich haben die Bilder auch eher abgestoßen. Die Eltern haben mir das bestätigt. Wieso fühlt sich eine Vierjährige dann davon so dermaßen angesprochen, dass es derart krankhafte Züge annimmt?“

„Keine Ahnung, da müssen Sie wohl einen Psychologen fragen“, erklärte Schücking beinahe abweisend, reichte ihm die Fotos und startete den Motor wieder. Er fädelte in den Verkehr ein und fuhr auf die Jöllenbecker Straße.

„Wo fahren wir eigentlich hin?“, fragte Kattenstroth nach einigen Minuten des Schweigens.

„Ich sagte doch, ich habe einen Termin. Sie können jederzeit aussteigen und zu Ihrem Leichenwagen zurückgehen.“

Kattenstroth musterte Schücking von der Seite. Das Gesicht war kalt und abweisend. Was für ein unsympathischer Mensch, dachte er. Und dennoch irgendwie auch interessant. Nicht, dass er das je laut gesagt hätte. Menschen wie Schücking schnitten sich seiner Meinung nach ohnehin schon einen viel zu großen Batzen vom Kuchen ab, da musste man ihnen nicht auch noch sagen, dass man sie interessant fand. Unsympathisch und interessant. Merkwürdige Mischung.

„Ich glaube, ich möchte wirklich aussteigen. Wenn ich noch Fragen habe, melde ich mich.“

„Tun Sie, was Sie nicht lassen können.“ Er hielt an.

Kattenstroth stieg aus und hatte die Tür noch nicht ganz zugeschlagen, als Schücking schon wieder rasant anfuhr. Kerstin folgte ihm zwei Autos dahinter und winkte ihm im Vorbeifahren grinsend zu.

„Mistwetter“, murmelte er, klappte den Kragen seiner Jacke hoch und machte sich zu Fuß auf den Weg durch den strömenden Regen zu seinem Auto.

Email:

Von: kattenstroth@web.de

An: hlaut@gmail.com

Betr. Observierung Schücking

Am Nachmittag hat die Zielperson einen Allgemeinmediziner an der Jöllenbecker Str. aufgesucht. Laut Sprechstundenhilfe ein jährlicher Check-Up. Die ZP ist anschließend direkt wieder nach Hause zurückgekehrt.

SMS

WOW! Du hast mir nicht gesagt, wie sexy die ZP im Maßanzug aussieht (*@O@*) KK

Untersteh dich! Das ist unprofessionell. JK

*

„Herr Kattenstroth, wenn Sie noch ein weiteres Mal an meiner Türe klingeln, muss ich annehmen, dass Sie das verlorene Buch nur als fadenscheinige Ausrede benutzen und es in Wirklichkeit auf mich abgesehen haben. Ist das vielleicht Ihre plumpe Art, mir den Hof zu machen?“

Kattenstroth fand diese Bemerkung Schückings so absurd, dass er es nicht für nötig hielt, darauf zu antworten. Statt dessen drängelte er sich ungebeten an dem Schnösel vorbei in den Hausflur.

„Ich habe da noch ein paar Fragen, Herr Schücking“, murmelte er und ging gleich durch bis ins geräumige Wohnzimmer.

Obwohl alles blitzblank und aufgeräumt war, wirkte es dennoch nicht unbedingt steril oder ungemütlich. Kattenstroth musste zugeben, dass Schückings Wohnzimmer trotz der peniblen Ordnung etwas heimeliges ausstrahlte, womit er nicht gerechnet hätte, wenn man den Mann dazu betrachtete. Er fragte sich kurz, ob der Rest des Hauses ebenso wirkte, verwarf diesen Gedanken dann aber als wenig hilfreich. Er war schließlich aus einem einzigen Grund hergekommen. Nun ja, aus zwei Gründen. Und da konnte es eigentlich nicht schaden, wenn er mehr von der Wohnung sehen würde. Immerhin wollten seine Auftraggeber, dass er ihn abhörte.

„Ich würde gern Ihre Bibliothek sehen. Ich nehme doch an, Sie haben eine.“ Es war ihm schon beim letzten Besuch aufgefallen, dass sich im Wohnzimmer erstaunlich wenige Bücher befunden hatten angesichts des angeblichen Berufes dieses Mannes.

Schücking musterte ihn einen Moment über den Brillenrand hinweg, wie man ein lästiges aber unerforschtes Insekt betrachtet. Dann lächelte er spöttisch und schüttelte langsam den Kopf.

„Sie glauben mir nicht und vermuten, dass ich das gestohlene Kinderbuch in meiner Bibliothek verstecke? Schön, wie Sie wollen. Da ich vermute, Sie würden sonst illegal des Nachts in mein Domizil eindringen, um Antworten auf Ihre Fragen zu bekommen, sehe ich ein, dass ich Sie am schnellsten wieder loswerde, indem ich Ihrem Wunsch nachkomme. Ich frage mich allerdings, wie Sie bisher Ihrem Beruf nachgehen konnten, ohne von den Hütern des Gesetzes gefasst worden zu sein. Ihre Auffassung von Arbeitsethos lässt doch arg zu wünschen übrig. Hier entlang, Columbo.“

„Den Spott können Sie sich sparen“, knurrte er den Rücken Schückings an. „Es bedarf eben einer gewissen Hartnäckigkeit, um Leuten wie Ihnen auf die Schliche zu kommen.“

„Leuten wir mir?“, fragte Schücking erstaunt, blieb mitten auf der Treppe nach oben stehen und schaute über die Schulter zu ihm hinab. „Was genau meinen Sie damit?“

Kattenstroth wusste, dass er übers Ziel hinausgeschossen war. Es bestand eigentlich nicht mehr als ein vager Verdacht gegen diesen Mann, ein äußerst vager Verdacht. Eigentlich mehr ein unbestimmtes Gefühl im Bauch. Und selbst das konnte man vielleicht eher auf den etwas schimmeligen Käse vom Frühstück zurückführen. Er konnte nur einfach seine überhebliche Borniertheit nicht ausstehen und wollte unbedingt schlecht von ihm denken. Etwas, das Schücking ihm mit seiner Art ziemlich leicht machte. Er sollte sich eigentlich nicht von solchen Dingen beeinflussen lassen, das war mehr als unprofessionell und diente seinem Auftraggeber sicher nicht. Das kam davon, wenn man sonst nur mit Leichen zu tun hatte. Der Umgang mit den Lebenden gehörte nicht zu seinen Stärken. Er winkte ab.

„Vergessen Sie es. Die Bibliothek?“, erinnerte er dann an den Grund seines Besuches.

Schücking grinste.

„Ich muss mich doch sehr wundern, Herr Kattenstroth. Mit Ihrer charmanten Art stoßen Sie sicherlich hier und da auf Widerstand, nehme ich an?“

„Hä?“

„Wenn Sie so patzig zu den Leuten sind, gibt es doch bestimmt manchmal auch aufs Maul“, erklärte Schücking in schlichteren Worten, was er gemeint hatte.

„Wollen Sie mir drohen? Sie?“ Er schnaubte verächtlich. Den Schnösel steckte er doch mit links in die Tasche.

„Mitnichten. Ich hatte eher den Eindruck, dass Sie mir gedroht haben. Ich bin Ihren Machenschaften ja hilflos ausgeliefert.“ Er wirkte jedoch nicht sonderlich besorgt.

Kattenstroth rollte mit den Augen, sagte aber nichts. Unbeeindruckt und widerlich gut gelaunt setzte Schücking seinen Weg in den ersten Stock fort.

Die Bibliothek nahm den Großteil der gesamten ersten Etage ein. Hätte Kattenstroth sich auch nur ansatzweise für Bücher interessiert, wäre das hier das reinste Paradies gewesen. So aber nahm er zwar die gemütliche Atmosphäre des großen, hohen Zimmers zur Kenntnis, bewunderte kurz die Aussicht in den verwilderten Garten, sah aber auch gleichzeitig die Sinnlosigkeit seines Unterfangens. Er würde hier Tage oder gar Wochen zubringen müssen, um dann wahrscheinlich am Ende doch mit leeren Händen dazustehen. Der Verdacht war vielleicht doch einfach zu absurd und verzweifelt gewesen. Neben den Büchern sah er auch weitere in Epoxidharz eingelassene Dinge, die auf die anderen Geschäftsbereiche des Mannes hindeuteten. Er wollte lieber nicht so genau wissen, was das alles war, es sah irgendwie unappetitlich aus. Er sah einen Zahn, einen Zeh und bei einem der Exponate war er sich ziemlich sicher, dass es sich dabei um Hoden handelte. Angewidert wandte er sich ab.

„Ich dachte, Sie sind nur Vermittler und kein Sammler?“

„Das können Sie als Kulturbanause eben nicht nachvollziehen. Die Leidenschaft für Kunst im Allgemeinen und Bücher im Besonderen ist etwas sehr Intimes. Man teilt nicht gern. Man will besitzen.“

Kattenstroth musterte den anderen Mann skeptisch. Die Erregung in dessen Stimme war ihm nicht entgangen. Von wegen nur Zwischenhändler! Vielleicht war er hier doch auf der richtigen Fährte.

„Wie viele sind das?“, fragte er und machte eine Geste, die den gesamten Raum einschloss.

Schücking folgte der Handbewegung mit seinem Blick und schaute seine Bücherregale an, als sehe er sie zum ersten Mal.

„Tausende“, erklärte er ungerührt. „Viel Spaß dann beim Suchen. Soll ich Ihnen einen Schlafsack bringen? Bewirtung würde ich Ihnen allerdings in Rechnung stellen.“

Damit machte er Anstalten, die Bibliothek zu verlassen. Kattenstroth packte ihn am Arm und hielt ihn auf, ehe er auch nur darüber nachdenken konnte, was er tat. Es war ein Reflex. Schücking zuckte zusammen und versteifte sich. Dann bemerkte Kattenstroth den eigentümlichen Blick, mit dem Schücking seine Hand musterte, die noch immer seinen Oberarm festhielt, und ließ los. Schückings Blick wanderte langsam zu seinem Gesicht. Er sah aus, als hätte er Mühe, sich zu beherrschen.

„Sie sollten die möglichen Konsequenzen bedenken, bevor Sie die Grenzen des üblichen gesellschaftlich akzeptierten Körperkontakts unter Fremden überschreiten.“

Als Kattenstroth ihn nur verwirrt ansah, seufzte Schücking.

„Um es für Sie verständlich zu formulieren: Wenn Sie mich nochmal anfassen, trete ich Ihnen in die Eier. Klar soweit?“

Kattenstroth konnte sich nicht überwinden, eine Entschuldigung zu äußern, obwohl das mehr als angebracht gewesen wäre. Er überschritt hier in der Tat eindeutig Grenzen. Und das wegen eines Kinderbuches und eines ihm unbekannten Auftraggebers mit unbekanntem Ziel.

„Sie müssen sehr verzweifelt sein“, kommentierte Schücking scheinbar zusammenhanglos.

„Wovon reden Sie?“, knurrte Kattenstroth. Er hatte ein schlechtes Gewissen und gab Schücking dafür die Schuld.

„Sie sind Privatdetektiv, richtig? Und anstatt Industriespionage aufzudecken oder wenigstens untreuen Ehemännern nachzuspüren, suchen Sie ein verloren gegangenes Kinderbuch, und noch dazu ziemlich hartnäckig, anstatt den Fall einfach zu den Akten zu legen oder ihn gar nicht erst angenommen zu haben. Das nenne ich verzweifelt. Fehlt das Geld für die Miete, hm?“

Kattenstroth fühlte sich durchschaut und starrte sein Gegenüber finster an. Er konnte den Kerl mit jeder Minute weniger leiden.

„Kommen Sie, ich spendiere Ihnen einen Kaffee“, sagte Schücking beinahe versöhnlich.

Sie verließen den ersten Stock und kehrten zurück ins Erdgeschoss. Die Küche war nicht sonderlich groß, sehr ordentlich und sauber, mit sämtlichen Hightech-Geräten ausgestattet, die man sich nur wünschen konnte. Kattenstroth musste erstaunt feststellen, dass die Küche keineswegs nur optisch Eindruck machen sollte, sondern tatsächlich auch benutzt wurde. Zumindest wiesen Gebrauchsspuren am Herd und an den Pfannen, die an der Wand hingen, darauf hin. Er hatte nicht erwartet, dass jemand wie Schücking den Koch am heimischen Herd geben würde, obwohl er es ja besser wusste, nachdem er dessen Einkauf beobachtet hatte. Aber vielleicht gab es auch noch eine Frau Schücking irgendwo, obwohl seiner Meinung nach bisher nichts auf die Anwesenheit einer Frau gedeutet hatte.

Ein extrem teuer aussehender Kaffeevollautomat wurde aktiviert und er setzte sich schweigend an den großen Holztisch in der Mitte der Küche. Auch hier war es heimelig. Der Hausherr wurde mehr und mehr zu einem Rätsel für ihn. Zumindest erweckte er nicht den Eindruck, als habe er irgendetwas zu verbergen, sonst würde er ihn wohl kaum zum Kaffee einladen. Oder es war ein guter Bluff? Was konnten seine Auftraggeber nur von ihm wollen?

„Wohnen Sie hier ganz alleine?“, fragte er das erste, was ihm in den Sinn kam. Schücking schenkte ihm einen seiner prüfenden Blicke über den Brillenrand hinweg.

„Tue ich. Wieso?“

„Nur so.“

„Smalltalk ist nicht gerade Ihre Stärke, was?“

„Und Sie halten sich nicht gerade mit Höflichkeiten auf.“

„Das kommt auf die Situation an. Aber Sie haben recht, meistens ist es reine Zeitverschwendung.“

Kattenstroth hatte die Bemerkung einfach nur so gemacht und nicht damit gerechnet, einen sehr aufrichtigen, wenn auch ziemlich arroganten Kommentar dazu zu bekommen. Überhaupt war das ein sehr auffälliges Merkmal dieses Mannes, dass er sich kaum die Mühe machte, etwas vorzutäuschen oder unbequemen Wahrheiten auszuweichen. Erstaunlich. Die meisten Menschen verbargen immer irgendetwas, waren zumindest Fremden gegenüber viel zurückhaltender. Oder aber er wurde gerade nach Strich und Faden manipuliert.

„Sie fragen sich, in welche Kategorie Mensch ich passe?“, bemerkte Schücking beinahe amüsiert. Seine blauen Augen blitzen vor Vergnügen. Irgendetwas daran irritierte Kattenstroth. Er fühlte sich ertappt und nippte an dem heißen Kaffee, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Aber es fiel ihm keine Ausrede ein, also nickte er einfach.

„Und wie lautet das Ergebnis?“, wollte Schücking wissen.

„Keine Ahnung.“

„Oh, das ist nicht gerade eloquent. Und auch ein wenig enttäuschend. Sollten Sie als Privatdetektiv nicht in der Lage sein, Menschen schnell und sicher beurteilen und einschätzen zu können?“

„Vielleicht liegt das Problem bei Ihnen“, schlug Kattenstroth vor.

„Oder es ist der Grund, warum Sie verlorene Bücher suchen für ein paar Euro die Stunde.“

„Machen Sie das immer so oder sind Sie nur zu mir so?“

„Was meinen Sie?“

„Sie entdecken bei einem Menschen eine Schwachstelle und reiben immer wieder Salz in die Wunde? Macht Ihnen das Spaß?“ Er klang bitter. Seine finanzielle Situation war in der Tat prekär. Er hatte derzeit ohnehin schon das Gefühl ein Versager zu sein, er brauchte nicht noch diesen Schnösel, der ihm das unter die Nase rieb.

Schücking schien tatsächlich einen Moment über den Vorwurf nachzudenken. Dann legte er den Kopf schief und lächelte herausfordernd.

„Machen Sie sich keine Sorgen, das ist nichts Persönliches. Aber ich gebe zu, es macht auch Spaß, Sie zu foppen, denn Sie haben so eine unterhaltsame Art, darauf anzuspringen.“

„Schön, wenn ich zu Ihrer Unterhaltung beitragen konnte“, seufzte Kattenstroth.

Schücking blickte ihn prüfend an und wechselte dann schwungvoll das Thema.

„Kattenstroth. Sagen Sie, sind Sie verwandt mit dem Beerdigungsinstitut an der Detmolder Straße, das kürzlich abgebrannt ist?“

„Das war meines“, erklärte Kattenstroth leise. Das war ein sehr wunder Punkt, den er eigentlich nicht ausgerechnet mit diesem Schnösel besprechen wollte.

„Nun, das erklärt immerhin, warum Sie von ihrem Schnüfflerjob so wenig verstehen. Wie sind Sie nur auf diese abwegige Ausweichstätigkeit gekommen?“

„Die Detektei gehört meiner Schwester.“

„Was wird denn aus dem Bestattungsgeschäft?“

„Wenn die Versicherung irgendwann mal bezahlt, fange ich wieder an.“

„Sie hatten Glück, überhaupt lebend da rauszukommen, oder? Vom Haus ist ja wirklich nicht mehr viel übrig.“

Kattenstroth nickte. Er wollte das nicht diskutieren, wollte nicht an die Alpträume erinnert werden, die ihn seither ständig verfolgten. Und dennoch ertappte er sich dabei, weiterzusprechen.

„Ich hatte nichts als meinen Schlafanzug und meinen Leichenwagen. Ein paar Kleinigkeiten haben die Flammen unversehrt gelassen.“

„Weiß man inzwischen, was die Ursache für den Brand war?“

„Fahrlässigkeit. Eine Gruppe von Möchtegern-Satanisten wollte da mitten in der Nacht eine Schwarze Messe abhalten, eine Kerze ist umgefallen, die Deko hat angefangen zu brennen. Die sind einfach abgehauen, anstatt wenigstens die Feuerwehr anzurufen.“

„Und ich nehme an, die Versicherung wundert sich, dass Sie von dieser Schwarzen Messe nichts wussten und will nun nicht zahlen?“

„Ich weiß von Kollegen, dass so etwas hin und wieder vorkommt. Die brechen ein, weil sie mal eine Leiche sehen wollen, diese Spinner. Aber ansonsten war das alles harmlos. Von irgendwelchem Ritualkram war bei den Kollegen nie die Rede gewesen.“

„Zeigen Sie mir noch mal die Fotos“, sagte Schücking schließlich mit vollkommen veränderter Miene.

Kattenstroth fragte nicht, was das jetzt wieder sollte, sondern reichte ihm einfach die Bilder. Er war wirklich sehr verzweifelt. Und langsam gingen ihm auch die Ideen aus, warum er noch länger in diesem Haus verweilen sollte.

Schücking holte eine große Lupe aus dem Wohnzimmer, schaltete die Designerlampe über dem Küchentisch ein und betrachtete die beiden Ausdrucke eingehend. Kattenstroth beobachtete ihn still und wartete. Der Kunsthändler ging vollkommen in der Betrachtung der Bilder auf. Er kaute gedankenverloren auf seiner Unterlippe, runzelte mehr und mehr die Stirn und brummte gelegentlich leise wie eine dicke Hummel. Schließlich legte er die Lupe und die Bilder beiseite, nahm die Brille ab und rieb sich langsam, beinahe übervorsichtig, die Augen.

„Und?“, fragte Kattenstroth mit einem Funken Hoffnung.

„Die Bilder auf dem Cover erinnern mich an etwas. So was Ähnliches habe ich schon mal gesehen. Und das nicht zu knapp.“

Schücking stand auf und holte sein Notebook aus dem Wohnzimmer. Nach wenigen Momenten des Suchens im Internet drehte er es um und zeigte es Kattenstroth.

„Was sehe ich hier?“, fragte der irritiert.

Er versuchte, schnell ein paar Infos über Schückings Internetzugang aufzuschnappen, ohne gleichzeitig das Thema aus den Augen zu verlieren. Auf der Seite waren Bilder von einem alten Buch, Texte, Zeichnungen von Pflanzen, nackte Frauen in einem Bad oder See. Und wieder jede Menge Text, den er allerdings nicht lesen konnte. Diese Buchstaben hatte er noch nie gesehen. Die Zeichnungen der Pflanzen wiesen aber in der Tat eine vage Ähnlichkeit mit denen auf dem Frontcover des Kinderbuches auf.

„Das ist das sogenannte Voynich-Manuskript. Ein Text in einem vollkommen unbekannten Alphabet, der bisher nicht entschlüsselt werden konnte. Man ist sich nicht einmal sicher, ob es sinnvolle Worte ergibt. Die Pflanzen, die darin abgebildet sind, sehen echten Pflanzen ähnlich, weisen aber auch Abweichungen auf, die keinen Sinn ergeben. Die Röhrenkonstruktionen in den Bildern mit den nackten Frauen sind absolut rätselhaft. Die Forschung ist sich inzwischen sicher, dass es im fünfzehnten Jahrhundert entstanden sein muss, aber zu welchem Zweck, ist bisher vollkommen unklar.“

„Eine Fälschung?“

„Es ist wirklich so alt, falls Sie das meinen; die Kette von Vorbesitzern ist zwar etwas lückenhaft, aber die Untersuchungen haben eindeutig ergeben, dass es vor etwa fünfhundert Jahren geschrieben worden ist, nicht später. Aber für wen? Und warum? Falls es sich um einen sinnfreien Scherz handelt, hat sich jemand verdammt viel Arbeit gemacht. Der Kodex besteht aus über hundert Seiten, das macht man nicht aus einer Laune heraus, ohne dass es Sinn ergibt. Und es hat durchaus Methode. Der Text weist Regelmäßigkeiten auf, allerdings nicht durchgängig. Manche Buchstabenkombinationen machen keinen semantischen Sinn, andere erscheinen sprachlich stringent. Ein absolutes Rätsel, das die Wissenschaft seit Jahren in Atem hält.“

Schückings Augen glänzten beinahe fiebrig vor Begeisterung, der Mann war hier in seinem Element. Fast beneidete Kattenstroth ihn um die Leidenschaft, mit der er seinem Beruf nachging, aber es war auch ein wenig beunruhigend.

„Und Sie meinen, dieses Vollnich-Dingens hat mit unserem Kinderbuch zu tun?“

„Voynich-Manuskript. Nein, nicht direkt. Ich sagte nur, es erinnert mich daran. Die Zeichnungen der Pflanzen haben eine gewisse Ähnlichkeit. Vor allem diese hier.“

Er scrollte das Bild herunter zu einer Abbildung einer großen Blüte, die weit geöffnet war und ihre Stempel wie Tentakel von sich streckte, als wolle sie Insekten einfangen.

Kattenstroth griff noch einmal zu den Fotos und nahm die Lupe zur Hand. Schücking hatte recht. Das Bild auf dem Cover zeigte unter anderem eine Pflanze, die eine gewisse Ähnlichkeit aufwies. Mit dem Unterschied, dass die Kinderbuch-Blüte tatsächlich etwas mit den Tentakeln eingefangen hatte. Das Gefühl des Unbehagens kehrte mit Macht zurück. So genau hatte er bisher nicht hingeschaut, aber nun ließ es sich nicht leugnen.

„Sagen Sie, finden Sie nicht auch, dass das auf dem Bild hier aussieht, als hätte die Pflanze einen Menschen in ihrer Blüte verschlungen?“

„Ich habe mich schon gefragt, wann Ihnen das wohl auffallen würde.“

„Warum haben Sie nichts gesagt?“

„Sie hatten doch ohnehin schon so ein mulmiges Gefühl bei der Sache.“

„Das war erstaunlich sensibel für Ihre Verhältnisse, nehme ich an.“

Schücking zuckte ungerührt mit den Schultern. „Also, was denken Sie? Die Ähnlichkeit ist immerhin gegeben. Die blassen Farben, die Abweichungen in den Details, so dass es unmöglich echte Pflanzen darstellen könnte.“

„Zugegeben. Aber einen Unterschied gibt es.“ Er hatte Schückings ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Bei der Betrachtung der Fotos fühle ich mich unbehaglich. Die Abbildungen des Manuskriptes gehen mir am Arsch vorbei. Interessant sicherlich, aber keinesfalls irgendwie bedenklich.“

Schücking war bei seiner unflätigen Ausdrucksweise kurz zusammengezuckt, hatte dann aber seinen üblichen spöttischen Blick aufgesetzt.

„Das mag sein. Es war auch nur ein Gedanke.“

„Empfinden Sie das nicht?“ Er wedelte mit den Fotos vor Schückings Gesicht hin und her, so dass dieser ein wenig zurückwich.

„Ich sagte Ihnen doch bereits bei unserer zweiten Begegnung, dass ich den Anblick dieser Bilder als durchaus verstörend und krank empfinde. Und ich sagte Ihnen auch, dass ich den Eindruck hatte, das Mädchen habe mich in einer fremden Sprache verflucht.“ Er wies vielsagend auf den Text auf dem Bildschirm.

„Sie meinen, die kleine Janice Dörmann spricht in der Sprache, in der das Manuskript geschrieben ist? Mann, Sie haben aber eine blühende Fantasie.“

„Elvis lebt und der Mond wurde nie betreten“, antwortete Schücking ohne Zusammenhang. „Nein, ich bin kein Freund von Verschwörungstheorien, obwohl sie eine sehr kurzweilige Unterhaltung darstellen können. Immerhin leben wir beide in einer Stadt, die nicht existiert, wenn man diesen Theorien Glauben schenken darf.“

„Ich glaube, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.“

„Den Eindruck habe ich in der Tat auch. Was ich damit sagen möchte, ist, dass hinter dieser Kinderbuch-Sache möglicherweise viel mehr steckt, als wir bisher überblicken können. Oder das Kind ist aus einem ganz anderen Grund vollkommen verhaltensgestört. Eine Vermutung, die Sie nicht ausschließen dürfen.“

„Aber das Unbehagen, das von dem Buch ausgelöst wird, bilden wir uns alle nicht ein.“

„Ohne Frage. Aber was können Sie über die Ursache des Unbehagens sagen? Ist es wirklich das Buch selber oder ist es das Verhalten des Mädchens? Und wir übertragen es unbewusst auf das Buch, weil es immer in der Nähe ist oder die Eltern diese Interpretation vorgelegt haben?“

Kattenstroth nickte langsam. Das war ein interessanter Gedanke. Das Mädchen war vollkommen normal gewesen, das hatte der Vater bestätigt. Und anfangs hatte sie nicht so heftig reagiert, wenn ihr jemand das Buch wegnahm, gab es sogar freiwillig aus der Hand. Vielleicht war das Buch nur ein zufälliges Objekt? Das gestörte Verhalten des Kindes könnte in der Tat ganz andere Ursachen haben und das Buch war einfach am falschen Ort zur falschen Zeit und wurde instrumentalisiert, sowohl vom Kind als auch von den Eltern.

„Sie haben vollkommen recht. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Ich sollte mich mal mit dem Psychologen unterhalten, der die Kleine nun untersucht.“

„Ich nehme an, dass das nicht ohne Zustimmung der Eltern erlaubt ist.“

„Das werden sie doch wohl erlauben, wenn sie endlich wissen wollen, was eigentlich los ist. Immerhin haben sie mich angeheuert.“

„Was zumindest für die Unschuld der Eltern spricht.“

„Wie meinen Sie das?“

Ihm war nie der Gedanke gekommen, dass die Ursache für das Verhalten des Mädchens bei den Eltern liegen könnte, nicht nachdem Kerstin sich darüber ein Urteil gebildet hatte. Seine Schwester besaß ein gerüttelt Maß an Menschenkenntnis, auf das er sich stets verlassen konnte.

„Nehmen wir an, das Kind wurde misshandelt oder missbraucht. Die Folgen äußern sich auf vielfältige Weise. Aber die Eltern würden niemals die Aufmerksamkeit auf den Fall lenken, wenn sie etwas zu verbergen hätten. Nein, die Eltern nehmen wirklich an, dass die Ursache in dem Buch zu finden ist.“

Die sachliche Distanz, mit der Schücking dieses heikle Thema abhandelte, ließ Kattenstroth erschauern. Er hatte immer gehofft, niemals an einen solchen Fall zu geraten. Nun war er sichtlich erleichtert, dass der Gedanke hier schnell wieder verworfen wurde. Oder war es das, wonach seine Auftraggeber suchten?

„Welche Theorie haben Sie stattdessen?“, fragte er schnell.

Schücking musterte ihn prüfend.

„Sollten nicht eigentlich Sie derjenige sein, der Theorien äußert? Ich sollte eine finanzielle Beteiligung einfordern, wenn ich Ihnen helfe, den Fall zu lösen.“

„Vielleicht komme ich aber auf den Gedanken, dass Sie das alles veranstalten, um von sich selber abzulenken?“

Schücking wirkte von dem Verdacht vollkommen unbeeindruckt, wenn er überhaupt zugehört hatte. Manchmal schien er für kurze Augenblicke geistig weit entfernt zu sein.

„Also müssen wir zwei Spuren verfolgen. Das Verhalten des Mädchens, unabhängig von dem Buch, und das Buch selber, seine Herkunft und seinen Verbleib.“

„Ich habe das Wörtchen 'wir' gehört?“

„Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich 'wir' gesagt habe.“

„Das wüsste ich aber.“

Kattenstroth sah eine glänzende Möglichkeit, Schücking aus nächster Nähe zu observieren, musste sich aber ein wenig zieren, um glaubwürdig zu bleiben. Der Mann enttäuschte ihn nicht.

„Ach, kommen Sie, das müssen Sie doch verstehen, dass ich mir das nicht entgehen lassen kann. Ein mysteriöses Buch, das ist doch spannend.“

„Es ist mir egal, ob Sie das spannend finden. Sie sind nicht an diesen Ermittlungen beteiligt.“

„Sagen Sie.“

„Sage ich.“

„Und wer noch?“

„Hä?“

„Wir leben in einer Demokratie, ich kann tun und lassen, was ich will.“

„Aber nicht in meinen Ermittlungen.“

„Wie wollen Sie das verhindern?“

„Ich schlitze Ihnen die Reifen auf.“

„Hm.“

„Da sind Sie sprachlos, was?“

„Ich hätte mir ja denken können, dass Sie mir intellektuell nicht gewachsen sind und zu Gewalttätigkeiten neigen.“

„Schwätzer.“

„Ich sehe schon, das wird die Nummer 'Einsamer Cowboy'. Aber das halten Sie nicht durch. Am Ende brauchen Sie meine Hilfe.“

„Ach ja?“

„Nehmen wir an, das Buch ist wirklich die Ursache des Übels. Wie wollen Sie es finden?“

„Da fällt mir schon was ein.“

„Sie werden einen Spezialisten anheuern müssen.“

„Dann werde ich das zur Not tun.“

Schücking machte eine vielsagende Geste. Es dauerte einen Moment, bis Kattenstroth das verstanden hatte. Dann schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn und seufzte schicksalsergeben. „Sie sind der Spezialist.“ Es war erstaunlich leicht, Schücking etwas vorzumachen.

„Allerdings. Und daher sparen Sie eine Menge Zeit, wenn Sie mich an der Sache sofort beteiligen. Ich verspreche Ihnen, kein Honorar zu verlangen, ich will Ihnen ja nicht das schwer verdiente Geld aus der Tasche ziehen. Aber Sie müssen zugeben, dass es mehr Sinn macht. Sie reden mit dem Arzt und machen all das, was man so tut bei solchen Ermittlungen, vor allem viel Herumlaufen. Ich suche nach dem Buch.“

Kattenstroth musste zähneknirschend zugeben, dass der Vorschlag in der Tat sinnvoll wahr. Es sei denn, Schücking hatte wirklich damit zu tun und er machte gerade den Bock zum Gärtner. Außerdem würde er ihn gelegentlich allein lassen müssen. Seine Schwester musste also am Ball bleiben.

„Sie glauben immer noch nicht an meine Unschuld, oder?“

„Können Sie Gedanken lesen?“

„Bei Ihren schlichten Hirnwindungen erscheint mir das nicht sonderlich schwer.“

„Sie haben selbst gesagt, dass es Menschen gibt, die für Bücher über Leichen gehen. Was ist da schon die psychische Gesundheit einer Vierjährigen.“

„Grundsätzlich ein vollkommen berechtigter Verdacht. Aber nicht in meinem Fall, das sagte ich doch schon.“

„Nur weil Sie das Buch vielleicht nicht selber haben wollen, heißt das nicht, dass Sie nicht bereit wären, für viel Geld über Leichen zu gehen, oder?“

„Ja, das stimmt“, erklärte Schücking ungerührt.

„Das stimmt?“, fragte Kattenstroth entsetzt nach. Mit diesem freimütigen Eingeständnis hatte er nun wiederum nicht gerechnet.

„Nicht wirklich, aber theoretisch. Ja, wäre ich jemand anderes, wäre der Gedanke absolut gerechtfertigt. Aber in meinem Fall muss ich Sie enttäuschen. Ich messe Geld nicht allzu viel Bedeutung bei.“

Kattenstroth verschluckte sich beinahe an seinem Kaffee, riss hustend in übertriebenem Unglauben die Augen auf und wies auf die Einrichtung des Zimmers. Schücking lächelte schief.

„Ich sehe, was Sie meinen. Aber ich bleibe dabei: Geld hat nur eine geringe Bedeutung für mich. Ich habe eine Menge davon, aber es interessiert mich nicht.“

„Das ist dekadent.“

„In der Tat. Aber dennoch eine Tatsache.“

„Das würden Sie nicht sagen, wenn Sie keines hätten.“

„Wahrscheinlich nicht.“

„Woher haben Sie es?“

„Was?“

„Das viele Geld.“

„Was vermuten Sie?“

„Mit alten Büchern und Elvis' Haartolle kann man das einfach nicht verdienen. Ich weigere mich, das zu glauben. Sie haben geerbt.“

„Nein.“

„Börsenspekulation.“

„Nein.“

„Lottogewinn.“

„Nein.“

„Ich gebe auf. Behalten Sie Ihr Geld und Ihr Geheimnis.“

„Spielverderber. Da Sie sich hartnäckig weigern, die Wahrheit zu glauben ….“

„Nein, nein, nein“, rief Kattenstroth wütend und wedelte mit dem Finger vor Schückings Gesicht herum. „Niemand verdient ein Vermögen mit der Suche nach muffigen, alten Büchern und ein paar Haaren von toten Rockstars.“

Schücking seufzte und schaute ihn an wie ein Arzt ein bockiges Kind.

„Nehmen wir einmal an, Moses hätte vom Berg Sinai wirklich zwei Steintafeln mit den Zehn Geboten heruntergebracht. Würden nicht sehr viele Menschen auf der ganzen Welt ein Vermögen dafür bezahlen?“

„Sie wollen mir aber jetzt nicht weismachen, dass Sie die Zehn Gebote im Original verscherbelt haben!“

„Nein, natürlich nicht.“

„Also, was soll das dann?“

„Es sollte verdeutlichen, dass es durchaus Texte oder Gegenstände von historischer, kultureller oder religiöser Bedeutung gibt, die für manche Menschen derart wertvoll sind, dass sie bereit wären, erstens dafür ein Vermögen zu bezahlen und zweitens dafür zu töten. Oder zu sterben.“

Das war Kattenstroth alles viel zu dramatisch.

„Und welches Manuskript hat Sie reich gemacht? Und wessen Leiche ist dabei auf der Strecke geblieben?“, fragte er. Er war sich nicht mehr so sicher, ob er diesen Auftrag wirklich noch haben wollte.

„Das werden Sie schon selber herausfinden müssen“, erklärte Schücking vollkommen ernst.

Kattenstroth wollte sich nicht vorführen lassen.

„Sie machen sich lustig über mich.“

„Aber ganz sicher können Sie da nicht sein.“

„Sie spielen gern mit Menschen.“

„Die meisten kann ich dafür nicht einmal lange genug in meiner Nähe ertragen.“

„Das ist Blubberkacke.“

Schücking lachte lauthals. Ein irritierender Anblick. Er hatte nicht erwartet, dass dieser Mann zu einem solchen Heiterkeitsausbruch fähig wäre.

„Sie meinen, ich sollte mal einen Blick in Ihren Keller werfen?“

„Wenn Sie wollen. Was glauben Sie da zu finden? Die buchstäbliche Leiche?“

„Wer weiß?“

„Na, immerhin kennen Sie sich damit ja aus.“

Schücking machte eine einladende Geste Richtung Küchentür.

Kattenstroth stand auf und schaute sein Gegenüber provozierend an. Der aber blieb gelassen sitzen und schien abzuwarten, ob er wirklich in den Keller gehen würde. Eigentlich war das absurd. Aber er fühlte sich auf den Arm genommen und wollte nun nicht nachgeben. Außerdem ergab das eine gute Gelegenheit, sich ein wenig mehr im Haus umzuschauen. Also verließ er die Küche und sah sich im Flur um. Immerhin konnte er auf diesem Weg nach Alternativen suchen, um später vielleicht einmal unbemerkt in das Haus einzudringen.

Eine Tür unter dem Treppenaufgang nach oben schien der richtige Weg zu sein. Er öffnete sie und schaute eine dunkle, steile Treppe hinunter. Für einen Moment zögerte er. Ungebeten tauchten Bilder in seinem Kopf auf. Nächtliche Dunkelheit, ein langer Korridor, flackerndes Licht in der Ferne, Flammen, die ihm entgegenschlugen. Brennende Leichen, wie Fackeln in der Dunkelheit.

„Angst im Dunkeln?“, fragte Schücking sehr dicht hinter ihm. Kattenstroth hatte nicht einmal bemerkt, dass der Mann ihm gefolgt war.

„Lächerlich.“

„Ihr Verhalten oder meine Vermutung?“

Kattenstroth drehte sich um und schaute Schücking fest in die Augen.

„Beides, streng genommen.“

Er sah sich erneut für einen Moment dem prüfenden Blick ausgesetzt, aber dann lächelte Schücking unverbindlich und machte einen großen Schritt zurück.

„Wie genau sind wir in diese Situation gekommen?“, fragte Kattenstroth nach einem Moment unangenehmen Schweigens.

„Sie haben mir einen Mord aus Habgier unterstellt.“

„Sie haben das nicht eindeutig verneint.“

„Sie fangen schon wieder an.“

„Selber.“

„Wir alt sind wir denn, hm? Fünf?“

„Ich denke, ich werde jetzt gehen.“

„Streitkultur ist ein Fremdwort für Sie, ganz offensichtlich.“

„Mir egal. Tschüss.“

Er öffnete die Haustür und sah sich noch einmal um. Schücking stand da, lässig an den Rahmen der Kellertür gelehnt, der dunkle Anzug und das gestärkte weiße Hemd makellos. Was für ein Fatzke. Er verspürte nicht das geringste Bedürfnis, ihm jemals wieder zu begegnen.

„Bis morgen dann“, sagte Schücking.

Horstheide bei Nacht

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