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Kapitel 2

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Von: kattenstroth@web.de

An: hlaut@gmail.com

Betr. Schücking

Die Zielperson hat offenbar ein großes Interesse an kostbaren Büchern und anderen Kunstgegenständen, mit denen er handelt. Jedoch besitzt Schücking auch eine umfangreiche Bibliothek. Auf eine weitere Person im Haushalt fand sich bisher keinerlei Hinweis. Sein Wesen und Verhalten sind wenig einnehmend, was ihn jedoch nicht zu bekümmern scheint. Größeres Interesse an Geld ist nach eigener Aussage so gut wie nicht vorhanden. Die Lebensumstände lassen diese Aussage jedoch eher unwahrscheinlich erscheinen.

Email:

Von: hlaut@gmail.com

An: kattenstroth@web.de

Betr. AW: Schücking

War es Ihrer Ansicht nach erforderlich, die Zielperson persönlich aufzusuchen? Das nimmt Ihnen die Möglichkeit für eine spätere Kontaktaufnahme unter geeigneteren Umständen. Eine unvoreingenommene Beurteilung der Zielperson ist gefährdet. Bitte halten Sie sich präziser an die getroffenen Abmachungen. Verfolgen Sie die Dörmann-Sache.

*

Steffen Dörmann hatte ihn früh am Morgen angerufen und ihm mitgeteilt, dass er die Adresse des Buchhändlers nicht mehr hatte, von dem er einige Monate zuvor das rätselhafte Kinderbuch bekommen hatte. Mit dieser schlechten Nachricht machte Kattenstroth sich auf den Weg zu Schücking. Zunächst hatte er erwogen, das nicht zu tun, aber ihm war bewusst, dass er dessen Hilfe benötigte, um dem Buch auf die Spur zu kommen. Außerdem musste Kerstin auch mal schlafen und konnte die Observierung nicht dauerhaft allein übernehmen, während er versuchte, den anderen Fall zu lösen.

Er hatte mit Steffen Dörmann außerdem ausgemacht, den behandelnden Psychologen zu treffen, aber das machte erst Sinn, wenn es brauchbare Untersuchungsergebnisse gab und Janice wieder ansprechbar war. Wie lange das dauern würde, war derzeit noch nicht abzusehen.

Schücking erwartete ihn bereits. In einem weiteren dunklen Anzug und hellblauem Hemd stand er in der Tür und beschimpfte einen Paketboten, als Kattenstroth ankam.

„Ah, da sind Sie ja. Langschläfer, was?“ Während Kattenstroth sich noch überlegte, ob er darauf überhaupt antworten sollte, nutzte der Bote die Gelegenheit, riss Schücking den Scanner aus der Hand und eilte zu seinem Fahrzeug zurück.

„Kommen Sie rein. Haben Sie Neuigkeiten?“

Er beachtete Kattenstroth nicht weiter, sondern öffnete beinahe ungeduldig das kleine Paket, das der Bote gebracht hatte. Kattenstroth versuchte einen Blick auf das Adressetikett zu erhaschen, aber leider war ihm Schückings Rücken dabei im Weg.

„Ihnen auch einen guten Morgen. Geht es Ihnen gut? Oh, danke der Nachfrage, ich finde es etwas früh und für Ende April ziemlich kalt heute Morgen, aber nichts, was ein anständiger Kaffee nicht wettmachen würde“, maulte Kattenstroth und ging einfach weiter Richtung Küche.

Da Schücking noch immer nicht reagierte, begann er, die Schranktüren zu öffnen, vorgeblich auf der Suche nach dem Kaffee.

Nach einer Weile des Suchens und Hantierens wurde ihm bewusst, dass das Rascheln hinter ihm schon länger nicht mehr zu hören war. Mit einem entschuldigenden Grinsen drehte er sich um. Schücking stand im Türrahmen und beobachtete ihn einigermaßen perplex, das geöffnete Paket in seinen Händen vorübergehend vergessen.

„Ich dachte, Sie brauchen vielleicht noch einen Moment und ich könnte ja schon mal Kaffee kochen.“

„Dass Sie das dachten, ist ziemlich offensichtlich. Ich frage mich jedoch, wo Sie waren, als andere Eltern ihren Kindern Benimmregeln beigebracht haben.“

„Hey, nichts gegen meine Eltern, klar?“

Schücking schüttelte in gespielter Fassungslosigkeit den Kopf und wandte sich wieder dem Paket zu.

„Die frischen Bohnen sind in dem Schrank über Ihrem Kopf“, murmelte er.

Während der Kaffee-Vollautomat seine Tätigkeit aufnahm, sah Kattenstroth endlich, was Schücking in dem Paket hatte. Enttäuscht stellte er fest, dass es sich um ein Buch handelte. Irgendwie naheliegend.

„Was Kostbares?“, fragte er ohne rechtes Interesse.

„Eine antiquarische Ausgabe von Dickens' „Drood“. Ich lese auch zum reinen Vergnügen, stellen Sie sich das mal vor.“

„Schwerlich. Aber jeder hat so seine Laster.“

„Über Ihres muss ich wohl nicht lange nachdenken.“

„Was soll das denn heißen?“

„Was immer Sie wollen. Gibt es also Neuigkeiten bezüglich des Buches?“

Kattenstroth war verärgert und wollte das Thema eigentlich noch nicht wechseln, aber streng genommen war es ihm egal, was der Kerl von ihm dachte.

„Steffen Dörmann konnte die Adresse nicht wiederfinden. Aber er hatte bei dem Händler im Internet bestellt. Über so ein zentrales Verzeichnis.“

Schücking stöhnte auf. „Haben Sie eine Vorstellung, wie viele Buchhändler und Antiquariate sich in diesem zentralen Verzeichnis tummeln? Tausende. Wann war der Kauf?“

„Im Sommer.“

„Dann sollte er mit einem einzigen Blick auf seine Kontoauszüge doch einen Schritt weiter sein“, maulte Schücking und rollte genervt mit den Augen.

„Oh, gute Idee. Ich rufe ihn mal an.“

Während Kattenstroth mit Steffen Dörmann telefonierte, nahm sich Schücking die Tasse Kaffee und ging hinüber ins Wohnzimmer. Kattenstroth brühte seufzend eine weitere Tasse auf, schaute ungebeten in den Kühlschrank auf der Suche nach Milch und folgte ihm schließlich.

Schücking hatte an einem kleinen antiken Sekretär Platz genommen und startete sein Notebook. Kattenstroth seufzte erneut. So etwas hätte er auch gern dauerhaft. Aber dafür reichte sein Einkommen derzeit nicht aus. Er musste mit einem uralten PC auskommen, den seine Lebensgefährtin Sabine ihm nach dem Brand überlassen hatte, und der jede Internetrecherche zu einer wahren Geduldsprobe werden ließ. Vielleicht würden seine Auftraggeber das geliehene Tablet nicht zurückfordern, wenn er ihnen lieferte, wonach sie suchten.

Er zog den Klavierstuhl heran und setzte sich neben Schücking.

„Haben Sie die Milch wenigstens wieder in den Kühlschrank zurück gestellt?“

„Woher wissen Sie, dass ich …?“

Schücking deutete mit einem verächtlichen Schnauben auf die Tasse, die Kattenstroth in der Hand hielt.

„Ist verdächtig blass, Ihr Kaffee.“

„Oh, hehe. Klar. Und da dachte ich schon für einen Moment, Sie könnten hellsehen.“

„Sie haben ein sehr kindliches Gemüt, Herr Kattenstroth. Sind Sie sicher, dass Sie den Anforderungen Ihres Berufes gewachsen sind?“

„Komisch, dasselbe fragt meine Freundin mich auch manchmal.“

Schücking musterte ihn ungeniert von der Seite, ausgiebig und nachdenklich.

Wieder irritierte Kattenstroth etwas an dem Blick.

„Was?“, fragte er schließlich, als es ihm zu unbehaglich wurde.

„Ich war mir sicher, Sie wären Single.“

„Wieso? Meinen Sie, mit mir hält es keine Frau aus?“

„Nein, für jeden Topf findet sich ein Deckel. Aber Ihre Kleidung ist ziemlich unordentlich, das Hemd nicht gebügelt, die Farbe passt nicht zu Ihrer Hose und erst recht nicht zu der Jacke. Die Schuhe sind nicht geputzt und die Haare haben länger keinen Kamm oder Frisör gesehen. Nicht gerade die Erscheinung, die man von einem Bestatter erwarten würde. Zwar gehe ich davon aus, dass all Ihre Kleidung bei dem Brand vernichtet wurde, aber das ist immerhin zwei Monate her, Sie hätten die Sachen zumindest teilweise ersetzen können. Stattdessen lassen Sie sich gehen. Ich wette, es gibt nicht viele Freundinnen, die es ihrem Freund erlauben würden, so das Haus zu verlassen. Steht nicht gut um Ihre Beziehung, was?“

Kattenstroth fühlte sich wie vom Bus überfahren. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Mit großen Augen sah er an sich herunter und fuhr sich verlegen mit den Fingern durch das dünne Haar. Schuldig in allen Punkten der Anklage.

Und Sabine hatte in der Tat in den letzten Wochen ziemlich oft bei ihrer Freundin Silly übernachtet. Wenn sie sich sahen, hatten sie fast nur noch gestritten oder sich gar nichts zu sagen gehabt. Nach fast sieben Jahren in einer Beziehung war ihm das nicht mal aufgefallen, das war doch meistens so. Aber nun, da er so mit der Nase drauf gestoßen wurde …. Er fühlte sich bloßgestellt von Schücking, der ihm aber inzwischen keinerlei Beachtung mehr schenkte, sondern sich voll und ganz seinem Notebook widmete.

„Und? Haben die Kontoauszüge etwas ergeben?“

„Ja, ähm …“, stammelte er. „www-punkt-salembooks-punkt-co-punkt-uk. Das hat er als Empfänger bei der Überweisung angegeben. Eine Kontonummer bei einer Bank in London.“

„Ach, herrje, mehr Klischee geht aber auch nicht, großartig. Und auch noch international. Fehlt nur noch, dass die Betreiberin der Seite sich als moderne Hexe bezeichnet. Na, wenigstens gibt es den Link noch.“

Während die Seite sich auf dem Bildschirm aufbaute, nahm Schücking einen großen Schluck Kaffee und schaute Kattenstroth versöhnlich an.

„Machen Sie sich nichts draus. Ihre Gefühle für die Dame scheinen ja immerhin auch recht erkaltet zu sein.“

„Wie kommen Sie denn da jetzt wieder drauf?“ Schückings Themenwechsel machten ihn schwindelig.

„Wären Sie noch immer Feuer und Flamme für die Dame, hätten Sie mir für meine Bemerkung eben Eine reingehauen.“

„Guter Punkt. Vielleicht sollte ich es noch tun.“

„Nur zu.“

„Ach, Sie meinen, ich traue mich nicht?“

„Doch, ich bin sicher, Sie können das. Aber warum sollten Sie? Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass Sie die Wahrheit nicht vertragen können. Sie haben also keinen Grund, mich zu schlagen, nur weil ich etwas ausgesprochen habe, das Sie längst wussten.“

Kattenstroth schwieg. Schücking hatte ja recht. Aber es so platt serviert zu bekommen, war niederschmetternd. Es war wohl an der Zeit, ein klärendes Gespräch mit Sabine zu führen.

„Also, was gibt die Homepage denn her?“

„Sie lenken ab, Herr Kattenstroth.“

„Nein, es gibt nur zu dem Thema weiter nichts mehr zu sagen.“

„Wie Sie meinen. Ah, das sieht doch interessant aus.“ Er öffnete die Seite zum Impressum und fand den Namen des Inhabers. „Godefroy Warlock“, las er und lachte ungläubig. „Keine Hexe, sondern ein Hexenmeister. Na, immerhin. Wenn das kein Pseudonym ist, will ich Adalbert heißen.“

„Und eine postalische Adresse gibt es auch nicht“, fügte Kattenstroth hinzu, der den Rest der Angaben schnell überflogen hatte. „Auch keine Telefonnummer.“

„Schauen wir mal, was Mr. Warlock so im Sortiment hat“, murmelte Schücking und kehrte auf die Startseite zurück.

Sie mussten schnell feststellen, dass Salembooks in erster Linie esoterische Literatur von zweifelhaftem Nutzen verkaufte, Druidengebetsbücher, Hexenkochbücher, Pendelauslegungen und so weiter.

„Was hat Herr Dörmann dort gekauft?“

„Keine Ahnung.“

„Rufen Sie ihn noch mal an.“

„Na schön, wie Sie meinen“, murrte Kattenstroth.

„Sagen Sie nicht, dass ich Ihnen helfe.“

„Warum nicht?“

„Würde ihm das nicht merkwürdig vorkommen? Immerhin habe ich mich für seine Bücher interessiert, Sie haben mich des Diebstahls verdächtigt. Das könnte ihn auf falsche Gedanken bringen.“

„Gut, wie Sie wollen.“

Er stand auf und ging zurück in die Küche. Während er sich einen weiteren Kaffee aufbrühte, rief er mit dem Handy erneut Steffen Dörmann an. Der wunderte sich zwar über die ständigen Anrufe, gab aber auch bereitwillig Auskunft.

„Einige Schriften von und über Helena Blavatsky. Seine Frau schreibt ihre Doktorarbeit über die Dame, wer immer sie auch ist“, erklärte er bei seiner Rückkehr ins Wohnzimmer.

„Esoterikerin, Begründerin der modernen Theosophie, Okkultismuskram, falls Ihnen das was sagt. Ansonsten googeln Sie es einfach. Da haben wir es ja schon.“

Während er sprach, hatte er schnell den Namen in die Suchfunktion des Antiquariats eingetippt und das Ergebnis war umfangreich. „Keine Überraschung, dass die Dame in diesem Sortiment reichlich vertreten ist.“

„Hilft uns das weiter?“, fragte Kattenstroth ein wenig ratlos.

„Ich glaube nicht. Lag das Kinderbuch der Lieferung bei oder lag es in einem der anderen Bücher?“

„Keine Ahnung, wo ist der Unterschied?“

„Wenn es beigelegt wurde, war es vielleicht Absicht. Wenn es irgendwie zwischen die Seiten geraten ist, dann sollte es nie in die Hände der Dörmanns gelangen.“

„Aber hätte der Händler sich dann nicht gemeldet? Oder zumindest die Rücklieferung angenommen?“

„Wurde die Annahme verweigert oder konnte es einfach nicht zugestellt werden, weil die Adresse unbekannt war? Kattenstroth, das sind alles Fragen, die Sie längst hätten klären müssen!“

Wortlos reichte Kattenstroth Schücking sein Handy.

„Ich rufe da nicht noch ein drittes Mal an.“

„Aber ich sagte Ihnen doch ….“

„Das ist mir egal. Rufen Sie an oder lassen Sie es bleiben.“

Offenbar hatte Kattenstroth den richtigen Tonfall getroffen, denn tatsächlich nahm ihm Schücking das Handy ab und drückte die Wahlwiederholung. Mit der Tasse in der Hand ging er Richtung Küche und erklärte Herrn Dörmann, warum nun er anrief und nicht Herr Kattenstroth.

Während Schücking telefonierte, stöberte Kattenstroth noch eine Weile ziellos auf der Homepage, fand aber nichts, was auch nur ansatzweise Ähnlichkeit aufwies mit ihrem Kinderbuch.

Alles in allem schien diese Sache immer merkwürdiger zu werden. Wenn er das Geld nicht so dringend gebraucht hätte, dann wäre er dem Fall inzwischen lieber aus dem Weg gegangen. Das ungute Gefühl im Magen ließ ihn nicht mehr los.

Gerade als er erwog, auch Schückings alte Emails zu durchforsten, kehrte dieser zurück. Er ließ sich schwer seufzend neben ihm auf den Stuhl fallen.

Erwartungsvoll sah er ihn an. „Und?“

„Folgendes: Das Buch war sehr wahrscheinlich mit Absicht beigelegt und die Annahme wurde verweigert. Daran erinnerte sich Herr Dörmann ganz genau.“

„Das heißt, die Adresse existiert wahrscheinlich gar nicht mehr.“

„Er hat es postwendend retourniert. Ein Laden dieser Größenordnung löst sich nicht so schnell auf. Wir könnten es zumindest über die Adresse versuchen.“

„Wir haben keine Adresse.“

„Wir könnten aber eine bekommen“, schlug Schücking mit einem Nicken Richtung Notebook vor.

Mit einem aufgeregten Funkeln in den Augen machte er sich daran, etwas aus dem Sortiment zu bestellen, was ihn so gar nicht interessierte. „'Modern Druidism – Merlin's Heritage', wie klingt das? Grauenhaft, wenn Sie mich fragen. Das nehmen wir.“

„Wie lange wird es dauern, bis das Paket hier eintrifft?“

„Ein paar Tage mindestens. Könnte auch länger dauern, wer weiß das schon so genau. Andererseits, mit einem internationalen Paketdienst könnten wir es auch schon übermorgen haben, wenn Mr. Warlock jeden Tag gewissenhaft seine Bestellungen abarbeitet. Immerhin bietet er diese Versandmöglichkeit an.“

„Na, dann? Auf geht’s.“

Schücking schaute ihn tadelnd an. „Und natürlich gehen Sie davon aus, dass ich diese horrenden Kosten übernehme?“

Kattenstroth zuckte mit den Schultern. Zugegeben, das war ein wenig voreilig und anmaßend.

„Wie sind Sie bisher ohne mich zurechtgekommen, wenn ich fragen darf? Also schön, wenn es der Verbrechensbekämpfung dient, dann will ich natürlich nicht die Ermittlungen unnötig ausbremsen.“

Er klickte sich durch den Bestellvorgang und lehnte sich anschließend mit einem zufriedenen Grinsen zurück.

Kattenstroth wollte aber nicht zwei Tage untätig bleiben.

„Und nun? Gibt es noch andere Möglichkeiten? Vielleicht ein Forum, wo man die Bilder online stellen kann? Möglicherweise kennt jemand das Buch?“

„Was für ein Forum sollte das denn sein? Für hässliche Kinderbücher? Oder gruselige menschenfressende Pflanzen?“

„Ich dachte, im Internet findet man einfach alles?“

„Möglich, aber nur wenn man weiß, wo man suchen muss. Das ist die eigentliche Herausforderung.“

Er stand auf, machte eine einladende Geste Richtung Notebook und verließ ohne ein weiteres Wort das Wohnzimmer.

Kattenstroth ließ sich nicht lange bitten und begab sich erneut auf die Suche im Internet.

Bevor er wieder nicht dazu kam, durchsuchte er schnell Schücking Posteingang, musste aber feststellen, dass der Ordner mit den alten Emails neben zahlreichen Buchbestellungen auch einen Unterordner enthielt, der passwortgeschützt war. Was sich sonst noch auf dem Notebook befand, konnte er nur überfliegen. Allerdings schien nichts davon in irgendeiner Weise verdächtig. Die Tatsache, dass es fast keine privaten Dokumente oder Dateien gab, ließ ihn jedoch vermuten, dass es noch einen zweiten Computer und möglicherweise auch einen zweiten Email-Account geben musste oder eine virtuelle Datencloud. Damit würde er sich später befassen.

Also widmete er sich der Recherche über das merkwürdige Kinderbuch.

Es dauerte nicht lange und er hatte sich vollkommen in der Datenautobahn verloren. Um so heftiger erschrak er, als er plötzlich Klaviermusik hörte. Er fuhr herum und sah Schücking an dem Instrument sitzen, mit verträumtem Gesichtsausdruck und geschlossenen Augen. Kattenstroth verstand nichts von Klaviermusik außer den Stücken, die er für die Besucher im Aufbahrungsraum abspielte. Aber was immer der Mann da spielte, es gefiel ihm. Hatte etwas Beruhigendes. Er beobachtete ihn eine Weile, die entspannten Gesichtszüge, die gerade Haltung, die makellose Erscheinung.

Die ganze Situation erschien ihm einigermaßen skurril. Er saß am Computer eines ihm beinahe vollkommen unbekannten Mannes, den er beschatten sollte, in dessen Wohnzimmer, während besagter Mann ihm ein kleines Privatkonzert gab. Unter normalen Umständen wären sie sich nie begegnet. Zumindest hätten sie keine zwei Sätze miteinander gewechselt. Und das alles nur wegen eines Kinderbuches und unbekannten Auftraggebern. Oder nicht? Steckte wirklich mehr dahinter. Missmutig nahm er die Suche im Internet wieder auf.

Das Konzert wurde bald darauf abrupt unterbrochen, als das Telefon neben Kattenstroth klingelte. Er nahm es und ging hinüber zu Schücking. Der schaute auf das Display und runzelte die Stirn.

Kattenstroth grinste. Er hatte nicht verhindern können oder wollen, dass sein Blick ebenfalls auf das Display gefallen war, und hatte dort 'Annette' gelesen.

Es schien, als müsse Schücking sich noch einen Moment sammeln, rückte tatsächlich seine Krawatte zurecht und nahm dann mit entschlossener Miene das Telefon.

„Annette“, sagte er mit schlecht gespielter Freude in den Hörer.

Kattenstroth musterte ihn, sah das schnell wechselnde Mienenspiel und hörte die laute Stimme einer Frau, ohne jedoch ein Wort zu verstehen.

„Ja, Annette, habe ich …. Nein, das war nicht so abgemacht …. Natürlich, wenn du das möchtest …. Ich werde mich sofort darum kümmern …. Nein, das ist ja gar nicht nötig …. Aber ich bitte dich, Annette …. Ganz sicher, ja …. Gerade ganz schlecht, ich bin in einem Termin.“ Er schaute feixend zu Kattenstroth und rollte mit den Augen. „So machen wir es, das klingt vernünftig. Bis dann.“ Damit legte er auf und wischte sich mit dramatischer Geste den nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn.

Kattenstroth hob fragend eine Augenbraue.

„Die Dame Ihres Herzens?“

„Um Himmels willen! Meine Schwester“, erklärte Schücking. „Sie ist … anstrengend.“

„Das hörte sich in der Tat ganz so an. Wohnt sie hier in Bielefeld?“

„Meistens. Aber sie jettet auch viel um die Welt. Karrierefrau.“

„Was macht sie beruflich?“

„Fotos.“

„Sie ist Fotografin?“

„Das sagte ich doch gerade.“

„Klingt doch interessant.“

„Nicht so sehr, wenn man sich das bei jedem Familientreffen anhören muss.“

„Und wie denkt Ihre Schwester über Ihren Beruf?“

„Sie nimmt ihn nicht zur Kenntnis.“

Kattenstroth musste der Schwester insgeheim zustimmen, hütete sich aber, das laut zu sagen.

Schücking verstand ihn auch so.

„Ja ja, ich weiß, Sie halten auch nichts davon. Aber das ist mir egal.“

„Jeder so, wie er mag, würde ich sagen. Ich denke, ich mache mich dann mal wieder auf den Weg.“

„Nichts Spannendes ermittelt?“ Schücking nickte Richtung Notebook.

Für einen Moment fühlte sich Kattenstroth ertappt, aber dann fiel ihm ein, was Schücking gemeint haben musste.

„Nein, gar nichts. Ich frage mich, was dieser Mr. Warlock wohl damit bezweckt hat, Dörmann das Buch zu schicken, wenn es denn wirklich Absicht war. Könnte es mit dieser Blawatschek zu tun haben?“

„Blavatsky. Möglich. Die Dame ist schon lange tot, aber immer noch sehr umstritten.“

„Was dagegen, wenn ich dazu noch mal Ihr Notebook befrage? Mein PC ist ein Vorkriegsmodell.“ Kein Grund, das Tablet zu erwähnen, wenn es dazu diente, noch eine Weile hierzubleiben.

„Ah, verstehe, in schwarzweiß und mit Handkurbel, ja?“

Kattenstroth nickte lachend. „So in etwa.“

„Bitte, tun Sie sich keinen Zwang an. Stört es Sie, wenn ich derweil meinem gewohnten Leben in meinem Haus nachgehe?“

Der spöttische Unterton war für Schückings Verhältnisse erstaunlich milde, es schien ihm also nicht wirklich etwas auszumachen, wenn er noch eine Weile blieb. Beinahe hatte er ein schlechtes Gewissen, den Mann so zu hintergehen. Beinahe.

Die Recherche über Helena Blavatsky war eine langwierige Angelegenheit. Es gab eine unglaubliche Fülle von Material auf mehr oder weniger seriösen Seiten. Es dauerte eine ganze Weile, bis Kattenstroth sich einen Überblick über die Fakten verschafft hatte. Dann las er ein wenig in den Werken der Frau und schließlich schaute er sich Foreneinträge an, wo Leute ihre Meinung über Frau Blavatsky kundgetan hatten. Diese ganze Esoterikwelt war für ihn ein Buch mit sieben Siegeln, er war bodenständig und ging nur aus geschäftlichen Gründen auf religiös motivierte Wünsche der Kunden bei den Bestattungen ein. Manche Auswüchse von Glaubensbekundungen bereiteten ihm Unbehagen.

Das meiste, was er bei der Recherche fand, war ihm viel zu abgehoben, manchmal geradezu fanatisch. Das mochte er in keiner Erscheinungsform. Und nirgendwo war auch nur der geringste Hinweis auf ein merkwürdiges Bilderbuch zu finden.

Schücking hatte sich irgendwann aus dem Wohnzimmer zurückgezogen. Hin und wieder hörte er Geräusche irgendwo aus dem Haus, achtete aber nicht weiter darauf. Als ihm jedoch nach gefühlten Stunden der Duft nach frisch gebratenen Pilzen und Fleisch in die Nase stieg, ließ er das Notebook links liegen und ging in die Küche.

Dort stand tatsächlich Schücking am Herd, mit einer Kochschürze, die erstaunlicherweise nicht allzu peinlich aussah, und schaute grinsend zu ihm auf, als er neben ihm an den Herd trat.

„Ich dachte mir schon, dass Sie den Duft eines Schnitzels den geistigen Genüssen jederzeit vorziehen würden.“

„Ist das Ihre Art, mich zum Essen einzuladen?“

„Ich bin der Ansicht, dass man regelmäßige Mahlzeiten einhalten sollte. Und da Sie nun schon mal hier sind, kann ich Sie ja kaum vor die Tür setzen, sondern muss Sie eben verköstigen. Das gebietet die Höflichkeit. Aber davon verstehen Sie ja nichts.“

Kattenstroth verstand, dass das ein 'ja' war und bot an, sich nützlich zu machen.

„Sie könnten schon mal eine Flasche Wein holen, wenn es Ihnen nicht zu gefährlich erscheint, meinen dunklen Keller zu betreten.“

„Einfach nur nett sein können Sie wohl nicht.“

„Ich finde es ziemlich nett von mir, Sie seit dem Vormittag zu beherbergen und zu verköstigen.“

Dem war nichts hinzuzufügen, also schwieg Kattenstroth und machte sich auf den Weg in den Keller.

Hell erleuchtet war die schmale Treppe hinunter gar nicht mehr so beängstigend. Schnell verschaffte er sich einen Überblick, ob etwas für seine Auftraggeber von Interesse sein könnte, fand aber nichts. Der Keller war ziemlich unspektakulär, wenn auch nicht so aufgeräumt, wie der Rest des Hauses, aber auch nicht zugemüllt. Schücking schien ein sehr ordentlicher Mensch zu sein, etwas, das Kattenstroth außerhalb seiner Tätigkeit als Bestatter für reine Zeitverschwendung hielt.

Er fand das Regal mit den Weinflaschen und nahm eine heraus. Da er nichts davon verstand, nahm er sie, ohne weiter auf das Etikett zu achten. Wenn es Schücking nicht passte, sollte er doch selber gehen.

Er wusste, dass er undankbar war. Immerhin beschattete er ihn nicht nur, sondern verdächtigte ihn außerdem, irgendwie in die Sache mit dem merkwürdigen Buch verstrickt zu sein und gleichzeitig ließ er sich von ihm bekochen. Sehr seltsam. Er würde nie ein guter Detektiv werden. Kerstin hatte sich selbst vielleicht keinen Gefallen getan, ihn anzuheuern.

Er kehrte in die Küche zurück und hielt Schücking die Flasche hin. Der schaute kurz auf das Etikett und nickte.

„Gläser sind da oben links im Schrank, Teller und Besteck finden Sie da hinten.“

„Kein bissiger Kommentar zu meiner Auswahl?“

„Ich habe keine Kostbarkeiten in meinem Weinregal, und die Auswahl ist auch nicht spektakulär. Da können selbst Sie nichts falsch machen.“

Kattenstroth ließ das unkommentiert und begann stattdessen, den Tisch zu decken.

Sie aßen in genussvollem Schweigen und er musste zugeben, dass es ausgezeichnet schmeckte.

„Wirklich gut“, lobte er, und schob den leeren Teller von sich weg. Er rechnete mit einer spöttischen Antwort, die zumindest sein Urteilsvermögen bezüglich kulinarischer Finessen in Frage stellte, aber Schücking lächelte nur und deutete eine Verbeugung an.

„Ist schon was anderes, als aus Pappschachteln vom Chinesen um die Ecke zu essen“, fügte Kattenstroth also selber hinzu.

„Ich habe nichts gesagt“, meinte Schücking.

„Aber gedacht.“

„Oh, Sie denken, Sie können Gedanken lesen? Ich fürchte, da muss ich Sie enttäuschen. Ich habe nichts dergleichen im Sinn gehabt.“

„Sondern was?“

„Mir kam der Gedanke, dass es zur Abwechslung durchaus angenehm ist, nicht allein zu essen.“

Kattenstroth hätte erwidern können, dass sicher gern öfter Besucher zum Essen blieben, wenn sie nicht die spitze Zunge des Gastgebers fürchten müssten, aber er schwieg. Denn im Grunde musste er Schücking beipflichten. Allein zu essen, war nicht schön. Sabine fiel ihm ein und die angenehme Stimmung war dahin. Er spürte Schückings prüfenden Blick auf sich und grinste schief. Er ging davon aus, dass man ihm ansah, woran er dachte.

„Wie geht es nun weiter?“, fragte Schücking.

„Ich werde mich morgen noch mal mit Frau Dörmann unterhalten. Und vielleicht sollte ich einen Blick in diese Bücher werfen, mit denen das Kinderbuch zusammen verschickt wurde.“

„Ich werde Sie begleiten.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

„Haben Sie Langeweile?“

„Finden Sie es nicht spannend?“

„Es ist ein Fall wie jeder andere.“

„Das kann ich kaum glauben.“

Und es stimmte auch nicht. Er suchte nur nach einer Möglichkeit, Schücking höflich loszuwerden.

Andererseits konnte er den Fall mit ihm wenigstens besprechen und ihn gleichzeitig im Auge behalten. Entschlossen stand er auf.

„Vielen Dank für das Essen. Ich werde dann jetzt gehen.“

„Soll ich Sie morgen früh abholen?“

Er seufzte. „Meinetwegen. Aber nicht vor neun.“

„Halb neun.“

„Althoffstraße, das letzte Haus rechts.“

*

Email:

Von: kattenstroth@web.de

An: hlaut@gmail.com

Betr. Tagesbericht Schücking

Die ZP hat einige Kenntnisse im Bereich Esoterik aufzuweisen, kann gut kochen und Klavier spielen. Der Weinkeller ist gut sortiert, aber angeblich nicht spektakulär. Schücking hat eine Schwester namens Annette, eine erfolgreiche Fotografin, mit der er aber offenbar nicht allzu gut auskommt. Er möchte sich an den Ermittlungen in der Dörmann-Sache beteiligen. Auch auf die Gefahr hin, damit den Bock zum Gärtner zu machen, werde ich das zulassen. So habe ich ihn im Auge. Sollten Sie berechtigte Einwände haben, bitte ich Sie, mir das mitzuteilen. Ansonsten gehe ich davon aus, dass sie meiner Vorgehensweise zustimmen.

*

SMS

Hi Sabine! Können wir morgen reden? JK

SMS

Hey, Bruder<3! Keine besonderen Vorkommnisse in der Nacht. zzZ zzZ - KK

*

Natürlich klingelte Schücking um Punkt acht an der Tür.

Für einen Moment erwog Kattenstroth, nicht aufzumachen, aber eigentlich hatte er nichts dagegen, so schnell wie möglich aus dem Haus zu kommen. Er hatte sich mal wieder mit Sabine gestritten. Sie hatte ihn heute morgen um sieben aus dem Bett geklingelt. Seither flogen die Fetzen.

Dass es immer so enden musste, verstand er nicht. Konnte man nicht einfach getrennte Wege gehen, wenn die Beziehung zu Ende war? Die gegenseitigen Vorwürfe halfen niemandem.

„Guten Morgen, Herr Kattenstroth. Oh, Sie sehen ein wenig mitgenommen aus“, grüßte Schücking, während er die letzten Stufen herauf kam. Neugierig beäugte er den Flur und trat ein.

Kattenstroth wurde sich der Unordnung in der kleinen Wohnung peinlich bewusst.

Sabine kam aus der Küche und baute sich mit verschränkten Armen vor ihm auf. Das schien den Mann jedoch nicht zu beeindrucken.

„Einen wunderschönen guten Morgen auch Ihnen, werte Dame. Schücking mein Name, Clemens Conrad Schücking.“ Er lächelte gewinnend und deutete eine Verbeugung an.

Erst jetzt wurde Kattenstroth sich bewusst, dass er den Vornamen offiziell nie erfahren hatte. Er war zum Essen und Reden den halben Tag gestern bei ihm gewesen und hatte nie nach seinem Vornamen gefragt. Merkwürdig, dass es Schücking nicht aufgefallen war. Er musste besser aufpassen, dass er sich nicht verriet.

„Klingt wie ein verhinderter Dichter“, spottete Sabine und schaute sie beide vorwurfsvoll an. „Das heißt, du haust mal wieder ab, wie gewöhnlich?“

„Du hast mir doch selber geraten, jeden Fall anzunehmen. Und ich will dir eben nicht immer auf der Tasche liegen.“ Es war ihm mehr als unangenehm, das vor Schücking diskutieren zu müssen.

„Aber du wolltest dich doch unbedingt heute Morgen mit mir unterhalten.“

„Nicht unbedingt heute Morgen. Was kann ich dafür, dass du unangekündigt hier um sieben auf der Matte stehst?“

„Unangekündigt? Ich glaube, ich höre wohl nicht richtig! Das hier ist immer noch meine Wohnung, Johannes.“

Schückings Augen huschten zwischen ihnen hin und her wie bei einem Tennismatch. Er wirkte einigermaßen amüsiert, aber es entging Kattenstroth nicht, dass er bei Sabines lauter, schriller Stimme schmerzlich das Gesicht verzog. Er musste grinsen.

„Was gibt es jetzt zu grinsen?“, sprang sie sofort darauf an.

„Ach, gar nichts, vergiss es. Also, ich muss jetzt los, Sabine. Wir können doch nachher noch reden.“

„Ich denke, es gibt nichts mehr zu reden.“

Das dachte er auch, fand es aber besser, wenn sie es aussprach.

Er verließ eilig mit Schücking die Wohnung. Hinter der Türgardine der Nachbarwohnung war eine Bewegung erkennbar. Natürlich hatten sie ungebetene Zuhörer, wie gewohnt. Die alten Damen hier im Haus nahmen regen Anteil an seinen Beziehungsproblemen.

„Das war also Sabine“, meinte Schücking, als sie in sein Auto eingestiegen waren.

„Seien Sie froh, dass Sie nicht auch noch ihre beste Freundin Silly kennengelernt haben. Die hat Haare auf den Zähnen.“

„Mir scheint, Sie haben da kein glückliches Händchen bewiesen in der Auswahl Ihrer Lebensabschnittsgefährtin.“

„War nicht immer so. Die Probleme gingen eigentlich erst los, als ich eingezogen bin. Ich war ihr natürlich dankbar, dass sie mich nach dem Brand aufgenommen hat, aber unserer Beziehung hat es eher nicht so gutgetan. Früher war es nett.“

„Nett? Mein lieber Herr Kattenstroth, alte Damen im Café sind nett, Sonntage im Zoo sind nett, der Mensch, mit dem man sein Leben verbringen möchte, sollte doch etwas mehr sein, meinen Sie nicht?“

Schücking hatte vollkommen recht, das sollte es wohl. Aber so sehr er auch darüber nachdachte, die Beziehung zu Sabine war selbst zu Anfang immer in erster Linie nett gewesen. Er verzog das Gesicht.

„Haben Sie sie je gefragt, was sie von der Beziehung erwartet hat? Wollte sie heiraten und Kinder? Ein Haus im Grünen? Wissen Sie das?“

„Sie hat hier und da mal davon geredet, sich zu verändern“, antwortete Kattenstroth und es klang selbst in seinen Ohren lahm. „Von wegen der biologischen Uhr und so.“

Ihm kam der Gedanke, dass er diese Anspielungen absichtlich überhört haben könnte, wie auch schon damals bei seiner Frau.

Schücking setzte seine Lehrstunde unbarmherzig fort.

„Ich habe den Verdacht, dass die meisten Beziehungen daran scheitern, dass die beteiligten Parteien nicht dieselben Erwartungen daran haben und offenbar unfähig sind, sich klar darüber auszudrücken.“

„Klingt, als hätten Sie der Sache komplett abgeschworen.“

„Allerdings. Reine Zeitverschwendung.“

„Aber es ist doch auch nett, jemanden um sich zu haben.“

„Da ist es wieder, dieses furchtbare Wort.“

„Sie haben gestern selber gesagt, dass es nett ist, nicht allein zu essen.“

„Mitnichten. Ich sagte, es sei zur Abwechslung recht angenehm. Das ist nicht dasselbe.“

„Reine Haarspalterei. Geben Sie es doch zu, dass es nicht schön ist, immer allein zu sein.“

„Aber nur weil ich gern in Gesellschaft esse, muss ich doch nicht gleich eine Beziehung zu einer Frau eingehen, von der ich viel zu wenig weiß.“

„Man kann sich ja kennenlernen, bevor man das tut.“

„Ein Ratschlag, den Sie selber offenbar nicht beherzigt haben, sonst wären Sie nun nicht in diesem Dilemma.“

„Auch wieder wahr. Können wir über etwas anderes reden? Das führt ja zu nichts.“

Schücking lächelte. „Sehr gern. Worüber?“

„Äh, weiß ich auch nicht. Machen Sie einen Vorschlag.“

„Nun, ich denke, wir könnten über das Wetter reden oder die Arminia?“

„Sie verstehen was von Fußball?“

Schücking tat beleidigt.

„Sie könnten ruhig etwas weniger überrascht klingen, meinen Sie nicht? Außerdem muss man nichts von Fußball verstehen, um über die Arminia zu reden. Lokalpatriotismus reicht dafür vollkommen aus.“

Dem musste Kattenstroth beipflichten und machte daher eine Bemerkung über das nasskalte Wetter, was ihm eine spöttisch hochgezogene Augenbraue Schückings einbrachte und jedes weitere Gespräch wirkungsvoll im Keim erstickte.

*

Lydia Dörmann schien überrascht, als sie beide vor der Tür standen, bat sie aber umgehend ins Haus. Sie ließen sich die Bücher zeigen, mit denen das Kinderbuch zusammen geliefert worden war, konnten aber nichts feststellen, was ihnen weitergeholfen hätte. Es gab einfach keine Hinweise auf den Lieferanten oder einen Zusammenhang zwischen Helena Blavatsky und den unheilvollen Zeichnungen.

„Wie geht es Ihrer Tochter?“, fragte Kattenstroth, während Schücking auch das letzte der Bücher gewissenhaft durchblätterte.

„Sie schläft viel. Als ob sie alles nachholen müsste. In ein paar Tagen kann sie vielleicht wieder nach Hause. Die Ärzte haben uns ziemliche Vorwürfe gemacht, dass wir so lange gewartet haben. Und ich glaube, sie hatten auch den Verdacht, dass wir Janice misshandeln oder so. Aber das ist Gott sei Dank vorbei. Der Arzt meinte, sie würde wieder gesund werden. Allerdings hat er auch nicht wirklich verstanden, wo das Problem lag. Aber wie soll man auch, wenn man das nie selbst mitbekommen hat? Ich glaube, wenn sie nun aufhört zu schreien und wieder normal redet und isst, dann wäre ich froh, wenn das Buch nicht wieder auftaucht.“

„Sie meinen, es ist eine Art Sucht, von der sie entzogen hat?“

„So stelle ich es mir vor.“

„Meinen Sie damit, ich soll aufhören, danach zu suchen? Ist der Auftrag damit beendet?“

Kattenstroth wäre nicht böse gewesen, die ganze Angelegenheit war einfach zu merkwürdig. Aber Schückings verächtliches Schnaufen verriet ihm ohnehin, dass für ihn der Fall keineswegs abgeschlossen war, egal was die Dörmanns dazu meinten. Dies wiederum weckte Kattenstroths Misstrauen. Das musste es einfach sein, was seine Auftraggeber verfolgen wollten. Aber auch Frau Dörmann hatte keineswegs die Absicht, die Sache ruhen zu lassen.

„Nein, ich denke, es kann nicht schaden, wenn Sie es wiederfinden. Denn erstens besteht immer noch die Gefahr, dass die Ärzte Janice nicht helfen können und dann brauchen wir das Buch unbedingt. Und wenn sie doch geheilt wird, dann sollte sich jemand das Buch vielleicht einmal genauer ansehen, nicht wahr? Jemand, der sich damit auskennt.“

„Vollkommen richtig“, pflichtete Schücking ihr bei. Es war offensichtlich, dass er sich in der Rolle desjenigen sah, der sich damit auskannte.

*

Da ihre Suche bei den Dörmanns ergebnislos geblieben war, fuhren sie zurück zu Schückings Haus.

Erst als sie beide mit einer Tasse Kaffee am Küchentisch saßen, kam Kattenstroth der Gedanke, wie seltsam sein eigenes Verhalten war. Am liebsten arbeitete er allein, erst recht als Bestatter, und als Aushilfs-Detektiv kooperierte höchstens mit seiner Schwester. Er konnte Schücking nicht mal leiden. Und dennoch schien er jeden weiteren Schritt in dieser Angelegenheit wie selbstverständlich mit dem Mann gemeinsam zu planen.

Wenn er ehrlich war, hatte das nur zum Teil damit zu tun, dass er den Mann nebenbei noch beschatten wollte. Er hatte eine Art sich aufzudrängen, die es Kattenstroth irgendwie unmöglich zu machen schien, ihn abzuwimmeln. Und ab einem gewissen Punkt hätte das nur noch mehr Verdacht erregt. Schücking schien das alles keinesfalls merkwürdig zu finden, zumindest sagte er nichts dergleichen. Aber er ahnte natürlich auch nichts von Kattenstroths doppeltem Spiel. Zumindest ging er davon aus.

„Wir müssen einfach abwarten, bis wir die Bestellung von Salembooks bekommen. Danach sehen wir weiter“, fasste der Kunsthändler die Lage zusammen.

„Soll die nicht morgen erst eintreffen? Was können wir bis dahin tun?“

Wieder erntete er einen spöttischen Blick. „Das sollten Sie doch wohl besser wissen als ich.“

„Meine Berufserfahrung richtet sich eher auf Leichen und untreue Ehemänner.“

„Nur Ehemänner? Was ist mit untreuen Ehefrauen?“

Schückings Ton zeigte nur ein Mindestmaß an höflicher Neugier.

Kattenstroth fragte sich kurz, ob der Mann aus eigener Erfahrung sprach. Seine erklärte Abneigung gegen jegliche Beziehung, seine zurückgezogene Lebensweise, das alles ließ darauf schließen, dass er mal sehr unangenehme Erfahrungen gemacht hatte. Oder aber, dass es niemand lange genug mit dem Schnösel aushielt, um ihm jedwede Erfahrung überhaupt zu ermöglichen. Woran fraglos wiederum alle anderen Schuld waren nur nicht der feine Herr Schücking.

„Sprechen Sie aus Erfahrung?“, fragte er daher.

Schücking musterte ihn einen kurzen Moment verständnislos, dann lächelte er verstehend.

„Sie wollen mir unbedingt eine gescheiterte Beziehung anhängen, was?“

„Erzählen Sie mir nicht, Sie hätten da eine weiße Weste. Niemand hat das.“

„Und es ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, dass diese vermutete Beziehung nicht scheiterte, sondern durch andere Umstände beendet wurde?“

„Also habe ich Recht? Was für Umstände sollten das sein?“

„Nun, immerhin könnte die beteiligte Person verstorben sein.“

Kattenstroths Grinsen verflüchtigte sich sofort.

„Oh“, meinte er und schaute an Schücking vorbei. „Tut mir leid.“

Erst als er ein leises Kichern hörte, blickte er wieder auf.

Schücking schüttelte ungläubig den Kopf.

„Mann, Sie sind aber wirklich leicht zu manipulieren. Eine einzelne Andeutung und Sie kneifen. Kein Wunder, dass Sie keine Industriespionage verfolgen.“

Kattenstroth spürte, dass er rot wurde. Er mochte es nicht, so vorgeführt zu werden.

„Machen Sie doch, was Sie wollen.“ Damit stand er auf und ging.

*

SMS:

Übernehme den Rest des Tages. Lös mich um 22 Uhr ab. JK

Kocht er heute nicht für dich? ;-) KK

*

Email:

Von: kattenstroth@web.de

An: hlaut@gmauil.com

Betrifft: Schücking

Keine neuen Erkenntnisse. Keine Hinweise auf vergangene Beziehungen. Fragwürdiger, manipulativer Charakter.

*

Eigentlich hatte Kattenstroth sich fest vorgenommen, die weiteren Ermittlungen zum Buch ohne Schücking durchzuführen und ihn außerdem wieder mehr aus der Distanz zu beobachten. Aber da war die Sache mit diesem Mr. Warlock, die er ohne Schücking wohl nicht klären konnte. Und irgendetwas war an dem Mann höchst merkwürdig und weckte immer wieder seine Neugier. Er musste der Schlüssel zu dem Fall sein. Und das Buch musste der Grund sein, warum seine Auftraggeber ihn beschatten ließen. Vielleicht hatte er das Buch tatsächlich entwendet und wartete nur darauf, dass es jemand bei ihm abholte?

Er machte sich also beizeiten am nächsten Vormittag auf den Weg zu Schücking und wurde ohne Umschweife eingelassen. Die Debatte vom Vortag wurde von beiden nicht erwähnt.

„Ist das Buch schon eingetroffen?“

„Ihr Vertrauen in die Serviceleistungen der Deutschen Frachtpost entbehrt jeglicher Grundlage. Und das gilt noch um ein Vielfaches mehr für die Royal Mail.“

„Immerhin haben Sie einen großen Batzen Geld ausgegeben, damit das Buch per Express geliefert wird.“

„Das ist in der Tat richtig. Und daher werde ich keinesfalls heute das Haus verlassen, um den Boten nur ja nicht zu verpassen.“

„Ja, macht Sinn.“ Und es würde ihm die Arbeit erleichtern.

„Das bedeutet aber, dass Sie für mich einkaufen gehen werden. Wir haben keine Milch mehr.“

Kattenstroth fiel die Kinnlade nach unten.

„Das ist jetzt aber nicht Ihr Ernst?“

„Wenn Sie Ihren Kaffee für den Rest des Tages nicht schwarz trinken wollen, dann ist es mein voller Ernst. Und denken Sie ja nicht, ich bekoche Sie heute wieder.“

„Ich gehe einfach und Sie rufen mich an, sobald das Paket da ist.“

„Wie Sie meinen.“

Kattenstroth ließ den feixenden Schücking in der Küche sitzen und verließ das Haus. Er beobachtete es eine Weile aus der Distanz für den Fall, dass Schücking ihn nur hatte loswerden wollen, um sein eigenes Süppchen zu kochen.

Als er sicher war, dass der Mann wirklich zu Hause blieb, ging er in den nächsten Supermarkt und kaufte Milch. Er fand es eine kluge Entscheidung, seine Handlungsweise nicht zu hinterfragen. Stattdessen nahm er auch noch etwas frisches Gemüse und ein anständiges Stück Fleisch mit. Konnte ja nicht schaden.

Als er mit den Einkäufen bald darauf bei Schücking klingelte, rechnete er mit einer spöttischen Bemerkung. Aber der Mann hielt ihm einfach die Tür auf und winkte ihn durch, als hätte er mit nichts anderem gerechnet. Und er konnte mal wieder Gedanken lesen.

„Sie mögen nicht nach Hause gehen.“

„Wie kommen Sie denn darauf?“

„Weil Sie eine weitere Konfrontation mit Ihrer Sabine befürchten. Früher oder später kommen Sie wohl nicht drum herum. Aber es ist nachvollziehbar, dass Sie nach der letzten Szene vorerst genug davon hatten.“

„Eigene Erfahrung?“, versuchte Kattenstroth es erneut.

„Man muss nicht selber eine steile Klippe hinunterspringen, um zu verstehen, dass das lebensgefährlich ist.“

Kattenstroth lachte lauthals, was ihm einen irritierten Blick einbrachte.

„Der Vergleich gefällt mir, wirklich. Nur zehn Minuten Sabine mit Ihnen in einem Raum und wir hätten einen Gewinner.“

„Ich nehme doch an, Sie würden auf meine Wenigkeit setzen.“

„Und ob.“

„Ich hoffe aber, Sie unterstellen mir keine Gewalttätigkeiten?“

„Nein, keineswegs.“

„Oh, dann neigt Ihre Freundin dazu?“ Er sah ernsthaft besorgt aus bei dem Gedanken und schien in Kattenstroths Gesicht nach Spuren häuslicher Gewalt zu suchen.

„Nein, Blödsinn. Ich meinte das eher im übertragenen Sinne. Sie würden sie glatt zur Raserei bringen. Sie würde am Ende mit Sachen schmeißen, nehme ich an.“

„Hm, heißt das, Sie wollen mich demnächst mal zu sich einladen?“

Wieder lachte Kattenstroth herzhaft. Er hätte gar nicht vermutet, dass Schücking einen so trockenen Humor haben könnte.

„Ich werde das im Hinterkopf behalten, falls ich Sabine dringend loswerden möchte.“

„Heißt das, sie möchten gar nicht?“

„Ich glaube, die Entscheidung hat sie mir abgenommen.“

„Und nun?“

„Werde ich versuchen, mit Anstand aus der Sache rauszukommen.“

„Was genau heißt das?“

„Ich suche mir eine neue Wohnung und ziehe aus.“

„Ah, richtig, die Wohnung gehört ihr.“

„Allerdings. Und einen langjährigen Mietvertrag bei der Freien Scholle gibt man nicht freiwillig auf. Warum sollte sie auch. Es war ja mein Haus, das abgefackelt ist, nicht ihres. Also ist es mein Problem, woanders unterzukommen.“

Schücking stand auf und kramte in einem Karton, der im Schrank unter der Spüle stand. Offenbar das Altpapier. Dann reichte er ihm eine Zeitung.

„Hier, die letzte Samstagsausgabe. Vielleicht steht ja etwas Passendes drin. Ich werde dann mal sehen, was sich aus den Sachen, die Sie gekauft haben, so zaubern lässt.“

„Ich dachte, Sie wollten nicht kochen?“

„Und Sie wollten keine Milch kaufen.“

Er studierte die Wohnungsannoncen, während Schücking sich am Herd zu schaffen machte. Die häusliche Gemütlichkeit gefiel Kattenstroth ausgesprochen gut. Vor allem die Stille. Sabine hatte immer reden wollen. Schücking konnte wider Erwarten auch einfach mal ruhig sein.

„Und, was dabei?“, fragte der Hausherr nach einer Weile und platzierte einen Teller vor ihm.

„Nicht so richtig. Entweder kann ich es mir nicht leisten oder es ist winzig oder die Gegend ist eher weniger ansprechend.“

„Gut Ding will eben Weile haben. Jetzt essen wir erst mal. Und dann kommt hoffentlich endlich das Paket, sonst rufe ich diesen Expressdienst nämlich an und das wünschen die sich sicher nicht.“

Kattenstroth ging davon aus, dass so mancher Dienstleister diese leidvolle Erfahrung bereits hinter sich hatte.

Noch während sie aßen, klingelte es an der Tür. Schücking eilte hin und kehrte mit einem kleinen Paket zurück.

„Und?“

„Eine Absenderadresse in London.“ Er ging gleich durch ins Wohnzimmer und schaltete das Notebook ein.

„Was tun Sie?“, fragte Kattenstroth, der ihm gefolgt war.

„Überprüfen, ob die Adresse existiert. Und ob sie mit den Daten beim Expressdienst übereinstimmt.“

„Nicht schlecht, Schücking, gar nicht schlecht.“

„Oh, ein Lob aus Ihrem Munde, da platze ich ja vor Stolz.“

Während sich Schücking durch das Programm klickte, schaute Kattenstroth sich die Bestellung etwas genauer an. Der Adressaufkleber war handgeschrieben, der beigelegte Lieferschein immerhin ausgedruckt. Das Buch selber war ziemlich abgegriffen und roch ein wenig muffig. So richtig professionell wirkte dieser Händler seiner Meinung nach nicht.

„Und?“

„Die Adresse gibt es zumindest.“

„Dann brauchen wir jetzt nur noch eine Telefonnummer.“

Schücking brummte etwas Unverständliches und öffnete die Homepage von Salembooks.

„Was sagten Sie?“

„Ich sagte, wir waren dumm. Das hätten wir alles ganz anders machen können. Sehen Sie, es gibt hier eine Emailadresse, falls man Fragen zu einem Buch hat. Geben Sie mal die Fotos her.“

„Was haben Sie vor?“

Statt zu antworten, öffnete Schücking die Klappe des Sekretärs. Dahinter befand sich ein Drucker mit Scanner. Schücking nahm die Bilder und scannte sie ein. Dann schrieb er eine Email und hängte die Bilder als Datei an.

Email:

Von:ccs@gmx.net

An: salembooks@gmail.com

Betr. Shipment no. SN0236

Dear Mr. Warlock,

about ten months ago one of my customers purchased a few books about Helena Blavatsky. The parcel also contained a small volume he did not order. Since the return delivery had been refused, he asked me to contact you for further proceedings. You will find pictures of the book attached to this mail.

Yours sincerely

C. C. Schuecking

Schücking schaute ihn fragend an. „Einverstanden?“

„Und wenn er es nun plötzlich wiederhaben will? Es ist immerhin verschwunden.“

„Das sehen wir, wenn es soweit ist. Jetzt warten wir erst einmal ab, ob der gute Mr. Warlock überhaupt reagiert.“

„Also schön, schicken Sie es ab.“

Das tat Schücking und nahm sich dann das bestellte Buch vor.

„Habe ich mir alles schon angesehen. Riecht arg muffig, finden Sie nicht?“

„Papier nimmt im Allgemeinen schnell Gerüche an. Das lässt sich nicht vermeiden.“ Schücking schnupperte an dem Buch verzog angewidert das Gesicht. „So behandelt man allerdings keine Bücher. Es riecht nach Zigaretten. Das ist Frevel. Blasphemie geradezu.“

„Jetzt kriegen Sie sich mal wieder ein. Wie geht es nun weiter? Nur auf eine Antwort zu warten, das ist mir zu wenig.“

„Sie fragen mich aber nicht allen Ernstes schon wieder, wie Sie Ihren Job machen sollen? Wollten Sie nicht mit dem Psychologen der kleinen Janice reden?“

„Richtig. Das werde ich jetzt mal in Angriff nehmen. Und vielleicht ist das Mädchen ja inzwischen auch ansprechbar.“

„Und wenn Sie dann schon so in Plauderlaune sind, können Sie ja auch mit Ihrer Sabine reden.“

„Sie haben ein besonderes Talent, mir die Laune zu verderben.“

„So leicht, wie Sie es einem machen ….“

*

SMS

Bin in Sachen Dörmann unterwegs. Kannst du Schücking übernehmen? JK

War's denn wenigstens lecker? ;-) Und ich übernehme nicht, ich muss ja auch mal schlafen. KK

Aber dann ist er ohne Überwachung. JK

Pech für die anonymen Auftraggeber. Finde das ohnehin fragwürdig. KK

Du wolltest doch, dass ich den Job übernehme. JK

Ich will, dass du Geld verdienst. Wie, das musst du selber entscheiden. KK

Sehr witzig. JK

Wenn ER weiter für dich kocht, sparst du ne Menge Geld ;-) KK

Piss off. JK

*

Dr. Ellermann von der Kinderpsychiatrie war ein wenig erstaunt, als Kattenstroth vor ihm stand. Da aber Herr Dörmann ebenfalls anwesend war und ihm erlaubte, das Problem mit ihm zu erörtern, begann er mit der Schilderung der Symptome.

„Das klingt wirklich ein bisschen wie ein Drogenentzug, meinen Sie nicht?“

„In der Tat, so etwas ist mir bisher noch nicht begegnet. Allerdings sind die Ursachen dieser Störung bisher noch vollkommen unklar. Immerhin konnten wir ausschließen, dass der Auslöser im häuslichen Umfeld zu finden ist.“

Herr Dörmann verzog das Gesicht. Natürlich hatte der Arzt zunächst die familiäre Situation überprüfen müssen. Aber die Dörmanns hatten sich nichts zuschulden kommen lassen, sie waren sehr liebevolle Eltern.

„Ich habe versucht zu erklären, dass das Buch der Auslöser ist, aber Dr. Ellermann kann sich das nicht vorstellen.“

„Sie müssen zugeben, dass es sehr unglaubwürdig klingt. Aber welche Erklärung würden Sie denn für wahrscheinlich halten, Doktor?“

„Nun, wie gesagt, wir sind noch auf der Suche nach dem Auslöser. Allerdings sehe ich keinen Grund, warum Janice nicht in ein paar Tagen wieder heimkehren kann. Sie schläft und isst ausreichend.“

„Keine Heulkrämpfe mehr?“

„Nein.“

„Und spricht sie wieder?“

Dr. Ellermann wich seinem Blick aus.

„Bisher nicht“, antwortete Steffen Dörmann stattdessen.

„Was würde passieren, wenn man sie mit dem Anblick des Buches konfrontiert?“

„Haben Sie es gefunden?“, wollte Dörmann wissen. Es war ihm anzusehen, dass er nicht wusste, ob er Angst haben oder sich freuen sollte.

„Nein, aber wir haben ja die Fotos.“

„Ja, richtig, die Fotos. Haben Sie sie dabei? Dann könnte Dr. Ellermann sich selber ein Bild machen. Selbst auf den Fotos spürt man nämlich die unheilvolle Ausstrahlung.“

Kattenstroth holte die Bilder aus der Jackentasche und reichte sie dem Arzt.

Der warf zunächst einen kurzen skeptischen Blick darauf und schüttelte missbilligend den Kopf. Kattenstroth hatte den Eindruck, der Mann versuche zu verbergen, dass es ihn ebenfalls beeinflusste.

„Kommen Sie, Doktor. Die Bilder sind merkwürdig“, drängte er ihn.

„Zugegeben, das ist schon ein wenig unheimlich.“

„Könnten Sie sich also vorstellen, dass die eigenartige Ausstrahlung dieser Zeichnungen bei Janice eine Art Trauma ausgelöst haben könnte?“

„Nun, soweit würde ich nicht gehen wollen. Aber ein Kind ihres Alters hat natürlich eine ausgeprägte Fantasie, da ist schon einiges denkbar. Jedenfalls ich halte es zumindest für keine gute Idee, dem Kind diese Bilder zu zeigen. Es könnte einen Rückfall auslösen, falls hierin wirklich die Ursache liegt.“

„Heißt das, ich darf sie auch nicht danach fragen, wer es ihr weggenommen haben könnte?“

„Mal abgesehen davon, dass sie ja nicht spricht, halte ich es für zu riskant. Sie ist noch viel zu instabil, um sie weiterem psychischen Stress auszusetzen.“

Schlecht gelaunt zog Kattenstroth von dannen.

*

Als Kattenstroth nach Hause kam, fand er seine wenigen Habseligkeiten im Flur vor der Wohnung. Für einen Moment war er einfach sprachlos. Er wusste nicht, ob er wütend auf Sabine sein sollte, weil sie ihn so vor vollendete Tatsachen stellte, oder erleichtert, weil ihm weitere Streitereien erspart blieben.

Er klingelte. Sie öffnete und blieb mit verschränkten Armen im Türrahmen stehen.

„Hier ist der Schlüssel. Ich nehme an, es ist alles komplett?“

Sie nahm den Schlüssel und nickte.

„Ich habe nicht vor, mich an deinen Sachen zu bereichern. Hör mal, Johannes, ich weiß auch nicht, wie alles so furchtbar schieflaufen konnte. Aber ich denke, es ist besser, wir beenden es so, anstatt uns noch wochenlang an die Gurgel gehen.“

Sie wirkte müde. Kattenstroth konnte sie nur allzu gut verstehen.

„Du hast recht. Wir hätten früher reden sollen. Aber das ist nicht gerade meine Stärke.“

„Ach, weißt du, Schuldzuweisungen bringen uns auch nicht weiter. Ich wünsche dir alles Gute, Johannes.“

„Dir auch, Sabine.“

Die Tatsache, dass er keine Bleibe für die Nacht hatte, kam ihm erst jetzt zu Bewusstsein.

„Tja, ich bringe dann mal meine Sachen ins Auto.“

Er starrte auf die wenigen Dinge, die seine ganze Existenz repräsentierten. Armselig war noch milde ausgedrückt.

„Ich helfe dir. Hör mal, wenn du so gar keine Übernachtungsmöglichkeit hast, dann kannst du auch auf der Couch pennen. Ich bin ja kein Unmensch.“

„Nee, ist schon gut, ich kann bei einem Freund unterkommen“, log er.

„Etwa dieser geleckte Typ mit dem Dichternamen?“

„Schücking?“

Der Gedanke war ihm überhaupt noch nicht gekommen. Aber jetzt, da sie es erwähnte …. Warum nicht? Einen Versuch wäre es wert. Seine Kumpels, mit denen er alle paar Monate mal abends ein Bierchen trinken ging, waren keine Option. Ein Hotelzimmer konnte er sich nicht leisten. Und er würde sicher nicht bei seiner kleinen Schwester oder bei seiner Mutter einziehen, das wäre einfach zu demütigend.

„Woher kennst du so jemanden überhaupt?“, fragte Sabine, während sie den alten Computer die Treppe hinunter schleppte, den sie ihm überlassen hatte.

„Beruflich“, keuchte er, mit zwei Koffern beladen.

Und das war es dann auch schon gewesen. Mehr besaß er nicht.

„Na, sah immerhin nach Geld aus. Also wirst du zur Abwechslung mal anständig bezahlt für die Schnüffelarbeit? Was will er denn? Die untreue Gattin überführen? Obwohl, der sah eher irgendwie schwul aus.“

„Quatsch. Der ist nicht …, ach, ist doch auch egal. Merkwürdiger Typ, zugegeben, aber hat ein großes Haus.“

„Und der lässt dich da einfach übernachten? Bist du sicher?“

„Das wird sich gleich herausstellen.“

„Wie gesagt, bevor du unterm Ostwestfalendamm schlafen musst, komm halt vorbei.“

Sie wussten beide, dass er das nicht tun würde. Zur Not konnte er auch noch hinten im Auto schlafen. Für ein paar Nächte würde das schon gehen. Früher, als er frisch mit seiner Frau verheiratet gewesen war, hatten sie öfter Spritztouren unternommen und dann immer hinten im Leichenwagen geschlafen. Das war ihm lieber gewesen als zu zelten.

„Also, dann“, sagte sie noch einmal, als die wenigen Sachen im Auto verstaut waren.

Kattenstroth fand die ganze Situation einigermaßen verwirrend. In der letzten halben Stunde hatten sie sich vernünftiger miteinander unterhalten als in den vergangenen zwei Monaten.

„Ja, dann“, sagte auch er, weil ihm sonst nichts mehr einfiel.

„Wenn bei deinen Sachen noch was fehlt, sag Bescheid. Ich suche dann danach.“

„Mache ich. Bis dann.“

Er nickte ihr zu, setzte sich ins Auto und fuhr Richtung Lessingstraße.

Unterwegs überlegte er, wie er Schücking überreden konnte, ihn auf der Couch übernachten zu lassen, ohne dass er mit Spott überschüttet wurde oder Verdacht erregte. Aber wenn er den Mann richtig einschätzte, dann gab es keine Variante, die spottfrei war.

Er hatte nicht damit gerechnet, in seinem Alter wieder von vorne anzufangen, andererseits fragte er sich nun, wie er davon hatte ausgehen können, dass die Sache mit Sabine noch Jahre so weiter gelaufen wäre. Sie hatten sich gegenseitig das Leben schwer gemacht, anstatt vernünftig darüber zu reden. Schücking hatte vollkommen recht gehabt. Sie wussten nicht, was der Partner von der Beziehung erwartet hatte oder vom Leben an sich. Erstaunlich einsichtig für einen Mann mit Schückings Ego und seiner Weigerung, sich überhaupt einer Beziehung auszusetzen. Dass der Mann ihn bei sich übernachten lassen würde, erschien ihm unter diesem Aspekt vollkommen absurd. Aber fragen kostete ja nichts.

*

Schücking schien weit weniger überrascht, als er erwartet hatte. Oder er ließ sich zumindest nichts anmerken. Dass der Mann den halben Tag nicht observiert worden war, verschwieg er seinen Auftraggebern besser.

„Ich nehme an, es ist müßig zu fragen, warum Sie ausgerechnet zu mir kommen?“

„Meine Mutter wohnt in einer sehr kleinen Wohnung und, ganz ehrlich, das kann ich mir mit fünfundvierzig einfach nicht mehr vorstellen, zurück zu Mutti zu ziehen. Oder zu meiner Schwester, um dieser Frage gleich vorzubeugen.“

„Nachvollziehbar. Andere Verwandte haben Sie nicht?“

„Keine, bei denen ich auch nur eine Nacht verbringen wollte.“

„Das nehme ich mal als Kompliment. Oder Sie sind schier verzweifelt. Freunde?“

„Habe ich, falls Sie das meinen. Aber die haben Familien, denen ich mich nicht aufdrängen will. Und mit kleinen Kindern bin ich nicht kompatibel. Und bevor Sie fragen: Nein, ein Hotel kann ich mir nicht leisten. Hören Sie, ich weiß, wie seltsam Ihnen das vorkommen muss. Und Sie haben recht, ich bin ein wenig verzweifelt. Es wäre ja nur für ein paar Nächte, bis ich eine Wohnung gefunden habe. Ich verspreche, ich werde möglichst unsichtbar sein und nichts kaputt machen.“

Schücking seufzte, als ruhe die Last der Welt auf seinen Schultern. Jetzt würde sich zeigen, ob er den geringsten Verdacht schöpfte. Oder spielte er den doppelten Bluff nur einfach noch gekonnter als er selber?

„Na schön, für heute ist es ohnehin zu spät, noch eine andere Lösung zu finden. Also tragen Sie Ihre Sachen in Gottes Namen in den zweiten Stock.“

„Warum in den zweiten Stock? Ich könnte die Sachen auch im Keller abstellen.“

„Ich besitze ein Gästezimmer, Herr Kattenstroth. Und das befindet sich im zweiten Stock.“

Er machte eine ungeduldige Geste Richtung Treppe.

Das Gästezimmer entpuppte sich als eine Art Doppelzimmer mit türlosem Durchgang und einem kleinen Badezimmer nebenan. Alles war so aufgeräumt und ordentlich wie der Rest des Hauses.

Schücking lehnte im Türrahmen und beobachtete ihn, während er seine neue Unterkunft in Augenschein nahm.

„Eigentlich ist es eine glückliche Fügung. Sie dürfen mindestens eine Woche bleiben.“

„Ach ja?“, fragte Kattenstroth zweifelnd.

„Meine Schwester wird dann nicht auf den Gedanken kommen, hier einen ihrer furchtbar wichtigen Gäste einzuquartieren.“

„Muss ich nicht verstehen, oder?“

„Nein. Aber Sie müssen auf jeden Fall ein paar Tage hier wohnen bleiben. Und falls sie Sie fragen sollte, dann behaupten Sie, dass Sie mein Untermieter sind. Dauerhaft.“

„Was sind denn das für wichtige Gäste?“ Vielleicht war die Schwester der Schlüssel zu den Ermittlungen unbekannter Art.

„Irgendwelche Verlagsmenschen. Meine Schwester arbeitet freischaffend, aber hin und wieder schleppt sie irgendwelche Verleger an, die sie überreden will, ihr ein paar längerfristige Aufträge zu geben. Und dann quartiert sie die bei mir ein.“

„Warum nicht bei ihr zu Hause?“

„Weil meine Nichte in einem Alter ist, in dem sie jeden Geschäftsabschluss sprengen könnte durch pubertäres Verhalten. Behauptet zumindest meine Schwester. Ich hingegen glaube, dass Alina einfach klug genug ist, auf diese Weise fremde Gäste im Haus abzuwimmeln.“

„Warum sagen Sie Ihrer Schwester nicht einfach, dass es Ihnen nicht recht ist, wenn sie über Ihr Haus verfügt?“

„Warten Sie, bis Sie meine Schwester kennengelernt haben und dann stellen Sie die Frage einfach noch mal. Beziehungsweise, Sie stellen sie dann eben nicht mehr.“

„Das heißt, das Telefonat gestern war eine Zimmerreservierung?“

„So in etwa. Und nun werde ich ihr absagen.“ Schückings Augen leuchteten vor Begeisterung.

„Wird sie Ihnen das abkaufen?“

„Nein, sie wird spätestens morgen früh hier auf der Matte stehen und sich davon überzeugen wollen, dass ich nicht gelogen habe. Sie wissen also, was zu tun ist. Packen Sie alles aus, als wollten Sie hier dauerhaft wohnen.“

„Kein Problem, allzu viel ist es ja nicht.“

Horstheide bei Nacht

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