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Die schwarze Witwe

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Bella saß an ihrem Schreibtisch. Sie hatte sich wie so oft am Abend in ihr Refugium zurückgezogen. Das lag in erster Linie daran, dass Bernd ihre Anwesenheit immer weniger wahrnahm. Sie war zu einem Möbelstück geworden, dafür hatten die vergangenen 29 Jahre gesorgt. Bella gab sich selbst durchaus ihren Anteil an diesem unerträglichen Zustand. Immer hatte sie versucht, ihrem Mann alles Recht zu machen. Die Lieblingsspeise am Abend, wenn er heimkam, stets frisch gebügelte Hemden, die sie ihm am Morgen aus der Vielzahl auswählte, jede Art von Bequemlichkeit und Sparsamkeit, kaum einmal eigene Ansprüche, die Bella stellte. So war die Sprachlosigkeit zwischen ihnen das Ergebnis eines fast dreißig Jahre währenden Stillhaltens.

„Hätte ich es doch gewagt, einmal aufzubegehren“, sinnierte Bella vor sich hin. „Jetzt ist es vermutlich zu spät. Die Chance ist vertan.“

Während sie sich der Melancholie ihrer Überlegungen hingab, fiel ihr Blick auf ein winziges Spinnennetz in der Zimmerecke. Sie erschrak unwillkürlich. Hatte sie nicht am Vormittag alle Ecken des Hauses penibel gereinigt? Bernd hasste Staub und verabscheute Spinnen geradezu.

Wie hieß noch gleich diese Angst vor Spinnen? Der Gedanke kam unwillkürlich.

Bella zog das Internet zurate. „Arachnophobie“, las sie leise vom Bildschirm ab, als die Suchmaschine ihr das Ergebnis präsentierte.

Da stand, dass etwa 10 % der deutschen Bevölkerung unter dieser Art der Angst litten. Eine wahrhafte Bedrohung war dafür scheinbar gar nicht nötig – allein die Vorstellung, sich einer Spinne Auge in Auge gegenüberzusehen, reichte aus, um die Ängste auszulösen.

In Ordnung, da stand auch, dass Frauen davon häufiger betroffen waren, als Männer. Ihr Bernd war wohl eine Ausnahme.

Etwas verächtlich sanken Bellas Mundwinkel herab. Er hatte sich auch so im Laufe der Zeit als Weichei erwiesen. Den starken und unbeugsamen Mann gab er nur in den heimischen vier Wänden. Im Büro saß er still und emotionslos hinter seinem Schreibtisch, widersprach weder dem Chef noch den Kollegen, die ihm häufig genug ihren Anteil an Arbeit zuschusterten. Bernd wehrte sich nie. Seinen Frust lud er stattdessen bei Bella ab.

Bellas Finger auf der Computermaus ließ die Seite der Suchmaschine herabscrollen. Ihr Blick ankerte an einem Wort, das etwas in ihr auslöste. Es folgte ein Klick auf den Link und sie tauchte seltsam fasziniert in den erklärenden Text des Internetlexikons ein.

[… erkannte man schon im 15. Jahrhundert den Tarantismus, eine durch den Biss der europäischen Schwarzen Witwe (Latrodectus tredecimguttatus) ausgelöste Krankheit, bei der die Betroffenen unter Halluzinationen und Zuckungen des ganzen Körpers leiden. Erleichterung verschaffte man den Kranken mit einer Schwitzkur oder fragwürdigen Behandlungsmethoden mit tierischen Exkrementen. Besonders zu erwähnen ist, dass die Tanzform der Tarantella dazu geschaffen wurde, den vom Spinnenbiss Betroffenen mit den veitstanzähnlichen Bewegungen Linderung von ihren Leiden zu verschaffen ...]

Bella grinste. Bernd hasste es, zu tanzen. Veranstaltungen, bei denen man mit Musik und einer Tanzfläche die Teilnehmer zu Bewegung und Spaß einlud, waren somit seit Jahren absolut ausgeschlossen. Wie wäre es, wenn sie Bernd um den Tisch und durch das ganze Haus tanzen lassen würde? Sein Blutdruck würde in schwindelnde Höhen klettern. Auf Bellas Gesicht zeichnete sich eine gewisse Nachdenklichkeit ab, während sie den Text weiterverfolgte.

[… Alpha-Latrotoxin ist der Hauptbestandteil des Giftes, das der Biss der Schwarzen Witwe überträgt. Daraus resultieren neuromuskuläre Entladungen, Kopfschmerzen, Bluthochdruck und Krämpfe, die in Einzelfällen und bei entsprechender gesundheitlicher Vorbelastung durchaus tödlich sein können. Da der Spinnenbiss nur selten erkannt wird, werden Patienten fast immer falsch behandelt …]

Bella nutzte die halbe Nacht, um im Internet zu recherchieren. Als Bernd ins Bett ging, hatte er nur kurz den Kopf zur Tür hereingesteckt.

„Was ist mit dir?“, hatte er sich unwirsch erkundigt, ob sie nicht auch ins Bett käme.

„Ich bin gleich so weit. Ich muss hier noch etwas nachschauen, dann komme ich.“ Bella hatte keine Lust auf seine Annäherungsversuche, die ihm abends plötzlich das bringen sollten, was er am Tag nicht haben konnte: Befriedigung. Das Spiel hatte sie nun lange genug mitgespielt …

Die Tür schloss sich hinter Bernd und es wurde still im Haus. Bella warf einen Blick auf die Uhr. Zeit genug, um eigene Pläne zu verfolgen.

Zunächst starrte sie gebannt auf das Video einer Spinne, die sich putzte und ihre sechs Beine nacheinander an den Beißwerkzeugen vorbeiführte, um daran herumzuknabbern. Die hochauflösende Kamera hatte Bilder geschossen, die den Eindruck vermittelten, dass Bella wenige Zentimeter vor der Spinne hockte. Gab es wirklich Menschen, die das für ein Hobby hielten? Bella schüttelte sich angewidert. Die Spinnen, denen sie bisher begegnet war, machten ihr zwar keine Angst, aber sympathisch waren sie ihr auch nicht und eine Spinne zum Haustier zu erwählen, war ihr bisher noch nicht in den Sinn gekommen. Und das lag nicht an Bernds Phobie.

Doch sie wollte sich von ihrem eigentlichen Ziel dieser Nacht nicht ablenken lassen. Endlich hatte sie eine Seite gefunden, auf der Schwarze Witwen zum Verkauf angeboten wurden.

„Achtzig Euro?“, murmelte sie. „Dafür reicht das Haushaltsgeld niemals.“

Sie stand auf und ging ins Wohnzimmer. Dort lag – Bügelfalte auf Bügelfalte – die Hose, die Bernd heute getragen hatte. Morgen würde sie wieder bügeln müssen. Bernd trug keine Hose zweimal hintereinander, denn die Falten in den Kniekehlen drückten in seine empfindliche Haut, so behauptete er. In der Hosentasche steckte wie erwartet das Portemonnaie ihres Mannes. Regelmäßig musste sie es ihm am Morgen, hektisch mit den Händen rudernd, auf dem Weg zur Garage nachtragen. Es war die einzige Nachlässigkeit, die man Bernd in seiner Ordnungsliebe vorwerfen konnte. Ja, die Kreditkarte war an ihrem Platz, daneben ein Zettelchen mit dem Pin-Code. Gut, dass Bernd ein schlechtes Zahlengedächtnis hatte.

Das Online-Geschäft war schnell abgewickelt. Trotz der seltenen Gattung hatte man ihr eine Lieferung per Express versprochen. Morgen Mittag würde die Spinne in einem artgerechten Karton bei Bella und Bernd Einzug halten. Ein Terrarium benötigte Bella nicht.

Nun wurde es Zeit, ins Bett zu gehen. Bella rieb sich müde die Augen und begab sich ins gemeinsame Schlafzimmer. Bernd lag wie seit Jahren schon auf dem Rücken. Sein Mund war halb geöffnet, die Zunge stand ein wenig hervor. Er schnarchte laut auf, als Bella den Raum betrat. Sie ahnte, dass ihr trotz der Müdigkeit eine weitere schlaflose Nacht bevorstand. Mit einem tiefen Atemzug legte sie sich nieder und träumte mit offenen Augen von besseren Zeiten.

Der Postbote trug die kleine Kiste mit ausgestreckten Armen vor sich her und läutete. Auf dem Paket war die Abbildung eines Insekts zu sehen, das ihm nicht wirklich sympathisch war. Doch er glaubte, dass in der kleinen Kiste nicht das war, was er vermutete. Was sollte die nette Frau Kaminski schon mit einer Spinne anfangen?

Bella öffnete ihm und auf ihrem Gesicht zeigte sich ein vorsichtiges Lächeln. Sie nahm die Kiste entgegen. „Danke, Herr Burger. Sie sind aber wieder einmal besonders pünktlich heute.“ Ihre zwanglose und freundliche Art ließ den Postboten die beängstigende Abbildung auf der kleinen Kiste vergessen.

„Ja, heute geht mir das Austragen zügig von der Hand, Frau Kaminski. In der Ferienzeit ist doch weniger los. Zumindest sind weniger Rechnungen in der Post. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Bis morgen dann.“

„Den werde ich haben, danke sehr. Bis morgen, Herr Burger.“ Bella schloss die Tür. Sie platzte fast vor Neugierde und Ungeduld. In weniger als einer halben Stunde würde Bernd aus dem Büro kommen. Ob sie ihm noch was Nettes kochen sollte?

Bernd war pünktlich wie immer. Auch seine Laune war so schlecht wie nach jedem Arbeitstag. Sein Kollege hatte es wie immer verstanden, ihm den Großteil der unangenehmen Aufgaben auf den Schreibtisch zu transferieren. Im Gedanken daran bekam er schon wieder einen hochroten Kopf vor lauter Ärger. Das war nicht gut für seinen Blutdruck.

Er betrat das Haus, rief nach Bella, damit sie ihn bedauerte, und ließ sich dann schwer in das Sofa fallen.

Bella war heute ungewohnt verständnisvoll. Sie trat hinter die Sofalehne und massierte mit beiden Händen seine Schläfen.

Bernd atmete tief ein und aus.

„Was gibt es zu essen? Hoffentlich nicht schon wieder Eintopf?“ Er nörgelte schon, bevor Bella antworten konnte.

„Ach, Liebling, bleib noch ein wenig sitzen und entspann dich. Das mit dem Essen hat doch Zeit.“

Bernd schloss die Augen und sah die Spinne nicht, die sich langsam aber sicher zu ihm abseilte und Sekunden später auf seiner Schulter landete. Bernd bemerkte davon nichts. Er folgte Bellas Rat und versuchte, sich zu entspannen. Schon spürte er, dass seine Frau ihre Hände zurückzog. Vermutlich ging sie in die Küche und kümmerte sich endlich um das Abendessen. Bernd machte sein verdientes Nickerchen.

Nach einer Weile öffnete er die Augen. Das Licht fiel grell in seine Pupillen. Er sah Sterne vor seinen Augen aufleuchten, die sich stetig drehten wie grelle Sonnen in einem psychedelischen Rhythmus. In ihrem Zentrum stand eine dicke, rot-schwarze Spinne, die ihn böse anzugrinsen schien. Bernd sprang auf und schrie wie am Spieß.

Kaum stand er auf seinen Beinen, begann er zu zucken, ohne dass er eine Veranlassung dazu hatte. Bella stand mit einem kalten Lächeln in der Tür und beobachtete ihn, wie er zuckte und sich wand, als würde er von heftigen Stromstößen gequält. Schnell war er völlig außer Atem. Seine Augen quollen aus dem Kopf hervor, und obgleich er kaum einen klaren Gedanken fassen konnte, sah er, dass Bella mit einem Gefäß auf ihn zutrat, das sie über die ekelerregende Spinne stülpte. Doch es war nicht die Angst vor dem sechsbeinigen Monster, die ihn herumhüpfen ließ, wie einen Irrwisch. Bernd konnte einfach nicht aufhören.

Bella und die Spinne verließen den Raum. Das Letzte, was Bernd wahrnahm, ehe er bewusstlos zusammenbrach, war die Toilettenspülung. Etwas explodierte in seinem Kopf und er sah und hörte nichts mehr, als er bewusstlos auf dem Boden aufschlug.

Wenige Minuten später kniete der Notarzt neben Bernd und schloss mit der rechten Hand die Augenlider des Toten.

„Es tut mir leid, Frau Kaminski. Ihr Mann hat einen tödlichen Schlag erlitten, ich kann nichts mehr für ihn tun.“

Bella schlug die Hände vor das Gesicht. Dahinter verbarg sich ein Lächeln. Ab morgen würde sie als Schwarze Witwe unterwegs sein.

Thrill before you die

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