Читать книгу Krieg und König - Anja Von Ork - Страница 4

21.

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Brin wachte von dem durchdringenden Meckern der Ziege auf. Müde versuchte er, ihre Klage zu ignorieren und zog die Decke über den Kopf. Durch die Luke drang graues, weiches Licht hinauf. Die Sonne war sicherlich noch nicht aufgegangen. Seufzend wühlte er sich tiefer in das duftende Stroh. Doch die Ziege hatte auch die Hühner mit ihrer Unruhe angesteckt und diese begannen krächzend einen Chor anzustimmen. Zusammen ergab das dann ein schauriges Konzert frühmorgendlicher Weckrufe. Ergeben kroch er schließlich aus dem Bett. Er hatte seine Ausbildung nun offiziell begonnen und es gehörte seitdem zu seinen festen Aufgaben, sich um die Tiere zu kümmern und diese wussten, dass er sie hören konnte. Während er in seine Hose stieg und nach seinen Stiefeln angelte, fluchte er laut, als er sich den Kopf an einem der niedrigen Deckenbalken stieß. Der Tag begann vielversprechend. Als er schließlich am Bach ankam, um sich zu waschen, fühlte er sich schon gar nicht mehr so müde. Seine schlechte Laune hatte sich allerdings noch nicht gebessert. Die Morgentoilette erledigte er trotzdem mit großer Sorgfalt. Er wollte nicht noch einmal zum Bach gehen müssen. Auf dem Rückweg füllte er den Trinkwassereimer an der Quelle auf. Schon wieder hatte er sich einen Weg gespart. Es müsste einen Weg geben, das Wasser ohne die lästige Schlepperei vom Fluss direkt bis zum Haus zu transportieren. Am besten wäre es sicherlich, wenn man nur einen Handgriff zu tätigen hätte. Aber ihm fiel keine praktikable Möglichkeit ein, wie dies zu bewerkstelligen sei. Vielleicht konnte man der Ziege beibringen, das Wasser zu tragen. Bloß konnte die das Wasser nicht selber schöpfen. So in seinen Gedanken versunken, bemerkte er den Reiter erst, als er die Lichtung schon zur Hälfte überquert hatte. Er hatte sich inzwischen mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass die Leute Mac konsultierten, wenn sie Hilfe benötigten. Aber der unerwartete Anblick eines fremden Menschen auf der inzwischen so vertrauten Lichtung versetzte ihm immer noch einen leichten Schrecken. Sie wohnten hier so abgeschieden, dass er den Tumult und Lärm der Stadt bereits verdrängte, obwohl es erst ein paar Wochen waren, seit er hier angekommen war. Jeder Fremde nährte die Angst in ihm, doch noch entdeckt und auf den nächsten Sklavenmarkt verschleppt zu werden. Langsam ging er weiter, umrundete das Haus auf der Rückseite und gelangte so von der anderen Seite her zum Stall, wo er die Tränke mit dem Quellwasser füllte. Er wollte dem Fremden nicht begegnen. Nachdem im Stall aber nun nichts mehr zu tun war, musste er wohl oder übel ins Haus, wenn er sein Frühstück haben wollte. Immer noch zögernd ging er auf die Tür zu. Das Pferd graste inzwischen auf der Wiese vor dem Haus und beachtete ihn gar nicht. Es war ein schönes Tier von kräftigem Wuchs, das sicherlich lange Strecken spielend bewältigen konnte. Es wirkte nicht wie ein Ackergaul. Die meisten Leute, die zu Mac kamen, waren Bauern aus der Gegend und konnten sich einen richtigen Arzt nicht leisten, geschweige denn ein elegantes Reitpferd. Kurz dachte er an die Stunden zurück, die er in der Schmiede in Arman verbracht hatte und eine leichte Sehnsucht nach vergangenen Zeiten schlich sich in sein Herz. Wie konnte man so glücklich sein und gleichzeitig so viel vermissen? Er straffte die Schultern, wie um sich Mut zu machen und betrat das Häuschen. Mac saß mit dem Fremden am Tisch. Offensichtlich gab es viel zu bereden. Brin blieb unschlüssig stehen. „Gut, dass du da bist. Das ist Reinhard.“ Brin nickte dem Fremden zu. Er trug einen hellen Bart und hatte dunkle, schmale Augen, die im Kontrast zu seinem weizenblonden Haar standen. „Unser Freund hier hat wichtige Nachrichten für mich. Ich werde in ein paar Tagen für eine Weile verreisen müssen und ich möchte, dass du mitkommst.“ Reinhard hatte sich erhoben und drückte Brin die Hand. Der Händedruck war fest und kurz, aber nicht unfreundlich. Brin setzte sich. „Wo soll es denn hingehen?“ Mac lachte und lehnte sich entspannt zurück. „Mein Bruder braucht meine Hilfe in ein paar geschäftlichen Dingen und es trifft sich ganz gut, denn ich habe ihn lange nicht gesehen. Du solltest ihn kennen lernen, damit du weißt an wen du dich wenden kannst, wenn mir mal was zustößt.“ Das hatte er gesagt als sei es das natürlichste von der Welt, aber Brin wurde schlagartig klar, dass sein neues Zuhause womöglich auch nicht von langer Dauer war. „Ach, dir passiert schon nichts.“ Sagte er, mehr um sich selbst zu überzeugen und versuchte, seine wachsenden Bedenken mit seinem Rührei herunter zu schlucken.


Jeden Morgen ging sie nun mit Bauchschmerzen hinunter in die Bibliothek. Seit zwei Wochen beobachteten Gwyn und Anna Fräulein Rudin nun, und die Frau hatte sich keine einzige Verfehlung seitdem geleistet. Dafür war sie unangebracht streng, aber das genügte nicht, um bei ihrem Vater ihre Entlassung zu bewirken. Besser sie beeilte sich. In ihrer Hast wäre Gwynevra beinahe die Treppe hinuntergestürzt. Sie konnte sich gerade noch abfangen, trat aber auf den Saum ihres Kleides und mit einem scharfen Geräusch riss der feine Stoff. Schnell biss sie sich auf die Zunge, um nicht zu fluchen. Sie hatte keine Zeit mehr, um sich umzuziehen. Also hastete sie weiter und hoffte, vor Fräulein Rudin in der Bibliothek zu sein, damit sie bereits hinter ihrem Pult saß und diese folglich den lädierten Saum nicht bemerkte. Doch zu ihrem Pech hatte die Stunde scheinbar bereits begonnen. Fräulein Rudin maß sie mit abschätzigem Blick. Gwyn erkannte mit Schrecken, dass rund die Hälfte der Mädchen noch nicht da war. „Guten Morgen, Fräulein!“ grüßte sie artig und versuchte nicht an den Saum zu denken, als ob sie das vor einer Entdeckung bewahren könnte. Weit gefehlt. „Euer Saum ist in Unordnung, Hoheit.“ Das Fräulein rümpfte die Nase, als ob es nichts Abstoßenderes geben könnte als ein Stück ausgerissenen Stoffes. Gwyn bemühte sich um einen überraschten Gesichtsausdruck. „Oh!“ dann begutachtete sie eingehend die beschädigte Stelle. Ein paar Stiche würde das schnell wieder in Ordnung bringen. „Vielen Dank für den Hinweis. Erlaubt ihr, dass ich mich umziehen gehe?“ Fräulein Rudins Augen funkelten. „Nein, ich erlaube nicht. Setzt euch.“ In diesem Moment ging die Tür auf und Anna kam herein. Normalerweise wäre sie pünktlich gewesen, doch heute schien der Unterricht ausnahmsweise zehn Minuten eher zu beginnen als gewöhnlich. Nach ihr folgte der Rest der Klasse und auch sie wurden mit bitterbösen Blicken auf ihre Plätze geschickt. Die Bibliothekarin nahm ebenfalls hinter dem Pult Platz und saß dort kerzengerade mehrere Minuten lang ohne zu sprechen. Als die große Standuhr im Flur neun Uhr schlug und die eigentliche Stunde beginnen sollte, stand sie auf und trat vor die Klasse. „Zu meinem Missfallen sind heute mehr als die Hälfte von euch zu spät erschienen.“ Die aufkommenden Proteste erstickte sie mit einer wedelnden Handbewegung im Keim. „Ich werde derlei nicht durchgehen lassen. Zu lange schon habt ihr hier gehockt und diese albernen Texte abgeschrieben.“ Das letzte Wort betonte sie überdeutlich. „Das einzige Ziel dieses sinnlosen Schreibens ist es, Zeit totzuschlagen.“ Jetzt wandte sie sich mit unverhohlener Häme Anna zu. „Ich wurde herberufen, euch zu wohlerzogenen jungen Damen zu erziehen. Wie es das Schicksal will, lässt mir der Großherzog in seiner Gnade bei der Gestaltung des Unterrichtes fortan völlig freie Hand.“ Anna und Gwyn tauschten schnell einen entsetzten Blick, der dem Fräulein nicht entgangen war. „Ich weiß, dass einige von euch nicht mit mir einverstanden sind. Ihr werdet schon lernen mich zu respektieren. Von nun an wird jedwede Überschreitung jedes einzelnen von euch mit der Bestrafung der gesamten Klasse geahndet.“ Sie blickte nun Gwyn direkt an und die dachte voller Schrecken an den ruinierten Saum. „Euer Kleid ist ein einziges Desaster. Eine Katastrophe, dass ihr euch so in meinen Unterricht traut.“ Gwyn musste ihr in diesem Punkt zustimmen, wenn auch aus anderen Motiven. Das Fräulein trat an ihr Pult und lächelte. „Ich muss euch beibringen, das eine Dame ihr Äußeres immer untadelig zu halten hat, genau wie ihren Ruf.“ Die Klasse saß angespannt da und wartete. „Wir beginnen mit der richtigen Haltung. Also los meine Damen. In Zweierreihen aufstellen. Und nicht schwätzen.“ Stühle wurden gerückt und die Mädchen reihten sich stumm hintereinander auf. Gwyn stellte sich an den Anfang der Reihe. Plötzlich spürte sie flüchtig eine Hand in ihrem Rücken und als sie rasch den Blick zur Seite wandte, merkte sie, dass Anna sich neben sie gestellt hatte. „Also los meine Damen, nicht drängeln.“ Dann drückte sie jedem Mädchen ein Buch in die Hand. „Diese Bücher müssen auch zu etwas nütze sein. Ihr legt jetzt das Buch auf den Kopf und durchschreitet solange die Bibliothek, bis ihr gelernt habt, nicht mehr wie die Bauerntrampel zu laufen. Die Hände dabei bitte auf den Rücken legen, wir wollen doch nicht schummeln! Wem das Buch herunterfällt, der wird selbstverständlich bestraft.“ Gwyn griff nach dem besonders dicken Buch, dass ihr die Bibliothekarin reichte. Sie würde sich ihre Frisur zerknautschen. Am Ende des Tages könnte sie dann zwar wie ein Engel einherschreiten, aber sie sah sicherlich nicht mehr aus wie einer. Nur zögerlich legte sie das schwere Buch auf ihrem Kopf zurecht. Es begann sofort zu rutschen. Wie sollte sie damit schreiten, wenn sie die Hände auf dem Rücken tragen sollte? Anna hatte ebenfalls ein sehr dickes Buch erhalten und Fräulein Rudin trieb sie zur Eile an. Sie sollten beginnen. Ein paar der Mädchen hatten das Buch bereits auf dem Kopf, bei einigen rutschte es wie bei Gwyn ständig wieder herunter. Anna trug das Buch tatsächlich wie eine Krone. Es schien zu ihrem Kopf zu gehören, so frei konnte sie sich damit bewegen. Gwyn neidete ihrer neuen Freundin diese Geschicklichkeit. Sie fühlte sich mit dem zerrissenen Kleid und der zerstörten Frisur unwohl und das Buch rutschte beständig herunter. Als sie sich in einer merkwürdigen Prozession durch die Bibliothek in Bewegung setzten, griff Gwyn erneut danach, damit es nicht zu Boden fiel. Fräulein Rudin hatte es gesehen und versetzte ihr mit einem hölzernen Lineal einen Schlag auf die Finger. Gwyn schrie auf vor Schmerz. Das Buch fiel polternd zu Boden. Ein paar der Mädchen fuhren erschrocken zurück. Auch ihre Bücher klatschten auf den Boden. Was fiel dieser Person nur ein? „Die Hände auf den Rücken, meine Liebe.“. Zähneknirschend bückte Gwyn sich nach dem Buch und drückte es wieder auf ihre blonden Locken. Nie würde sie dieser Person eine derartige Behandlung verzeihen!

Eine Weile ging es ganz gut. Doch bald wurden die Mädchen müde und immer öfter griffen sie nun nach den Büchern, damit sie nicht herunterfielen. Fräulein Rudin verteilte schmerzhafte Hiebe mit dem Lineal und konnte sich ein schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen. Gwyn hatte schon ganz blaue Finger. Sie wunderte sich, wie ihr Vater eine derartige Behandlung zulassen konnte. Sicherlich wusste er nichts von den Methoden, die das Fräulein bei der Erziehung anwandte. Erneut kam das Buch ins Rutschen, doch Gwyn konnte nicht mehr schnell genug danach greifen. Krachend fiel es zu Boden. In den kalten Augen der Bibliothekarin blitzte es erfreut auf. „So meine Damen, es ist genug. Wir werden das morgen noch einmal wiederholen, und von nun an jeden Tag, bis es geht. Setzen!“ Gehorsam gingen die Mädchen zu ihrem Platz. Fräulein Rudin stand vor Gwyn und betrachtete stirnrunzelnd das Buch auf dem Boden. Es war mit dem Buchrücken aufgeschlagen und der Einband war dabei zu Bruch gegangen. Ganz schief und armselig lag es mit aufgeschlagenen Seiten da wie ein großer dunkler Vogel, der sich das Genick gebrochen hatte. „Ihr habt das Buch fallengelassen.“ Stellte Fräulein Rudin nüchtern fest. „Es ist beschädigt.“ Gwyn verknotete nervös die Finger. „Das war ein Versehen!“ stieß sie hervor. Was würde die böse Frau nun anstellen? Das Fräulein fasste Gwyn am Arm und zerrte sie zu dem großen Flügelfenster und auf den Balkon. Draußen hatten sich die Wolken zu wütenden Bergen aufgehäuft und ein paar einzelne Tropfen fielen gegen das Glas. „Wem das Buch herunterfällt, der gehört bestraft. Ihr seid vom Unterricht ausgeschlossen, bis ich euch wieder dazu rufe.“ Mit diesen Worten öffnete sie das Fenster und stieß Gwyn auf den kleinen Balkon. „Was soll ich denn hier?“ rief sie und starrte auf das drohende Unwetter. Fräulein Rudin machte sich daran, dass Fenster zu schließen. „Ihr wartet, bis ich wieder geneigt bin, euch zu unterrichten, meine Liebe.“ Damit verschloss sie das Fenster und fuhr mit dem Unterricht fort.

Anna saß auf ihrem Platz und starrte Gwyn an, unschlüssig, ob sie nicht einschreiten sollte. Doch Gwyn schien ihre Gedanken zu ahnen und schüttelte unmerklich den Kopf. Das Fräulein hatte Platz genommen und wies die Mädchen nun an, gerade zu sitzen und das Buch wieder auf den Kopf zu legen. Anna hasste diese Frau. Mehrere Minuten verstrichen, während die Mädchen schweigend dasaßen, völlig verkrampft durch die unnatürliche Haltung und ängstlich darauf bedacht, nur ja das Buch nicht fallen zulassen. Doch Fräulein Rudin schien diese Übung nicht beenden zu wollen. Sie las in einem dicken Wälzer. Gwyn stand auf dem Balkon und beobachtete die Klasse. Ein eiskalter Tropfen fiel ihr in den Nacken und sie zuckte zusammen. Der Wind trieb das Unwetter genau auf die Burg zu. Mit wachsender Beunruhigung sah sie einen Blitz über den nachtschwarzen Himmel zucken. In einiger Entfernung grollte dunkler Donner. Eine böse Ahnung stieg in ihr auf. Fräulein Rudin würde erst das Unwetter abwarten, bevor sie die Bestrafung beendete. Sie würde sich hier draußen den Tod holen! Die Zeit wollte scheinbar nicht vergehen. Die Mädchen im Klassenraum bewegten sich nicht und Fräulein Rudin schien nicht einmal zu atmen. Wie tot lag der Raum vor ihr und sie fühlte sich wie eine Ausgestoßene. Immer mehr Tropfen fielen nun vom Himmel herab. Der Türsturz, unter den sie sich gestellt hatte, war nicht annähernd breit genug, um sie zu schützen. Ihr Kleid war nach kurzer Zeit nass und der Boden wurde schlüpfrig. In dem kalten Wind begann sie zu frieren. Sie schlang die Arme um den Leib um sich warm zu halten. Sie würde diese Frau umbringen, wenn sie das hier überlebte. Ihre Zähne klapperten. Das Donnergrollen kam immer näher. Im Zimmer herrschte eine ähnliche Kälte wie draußen. Doch diese schien sich nicht auf den Körper, sondern auf den Geist auszuwirken. Anna zitterte vor unterdrückter Wut und Bestürzung. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Gwyn. Als sie bemerkte, dass es auch noch zu hageln begann, brach der rasende Zorn aus ihr hervor. Wütend ergriff sie das Buch auf ihrem Kopf, sprang auf und in einer blitzschnellen Bewegung warf sie es nach der Bibliothekarin. Doch die so plump wirkende Frau musste dem Geschoss mit einer so schnellen Bewegung ausgewichen sein, dass Anna sie nicht gesehen hatte. Das Buch klatschte direkt hinter ihr an die Wand und blieb auf dem Boden liegen. Es hätte sie am Kopf treffen müssen, aber es war scheinbar durch sie hindurchgegangen. Die Mädchen waren vor Schreck zu Salzsäulen erstarrt. Fräulein Rudin lächelte nur. „Ungehöriges Verhalten muss bestraft werden.“ Sie stand auf, kam auf Anna zu und packte mit so festem Griff ihr Handgelenk, dass Anna scharf die Luft einzog. Dann zerrte sie sie hinter sich her zum Fenster. „Ihr könnt eurer Freundin nun Gesellschaft leisten. Ihr anderen macht weiter. Habe ich euch gesagt, dass ihr aufhören sollt?“ Erschrocken griffen die Mädchen wieder nach den Büchern. Sie waren völlig eingeschüchtert. Das Fräulein schubste Anna auf den Balkon. Sie rutschte auf dem nassen Boden aus und wenn Gwyn sie nicht festgehalten hätte, wäre sie über die niedrige Brüstung gefallen. Mit einem Knall warf die Bibliothekarin die Flügeltüren zu und begab sich ungerührt wieder auf ihren Platz. Das Unwetter fing an immer schlimmer zu wüten. Nach einer Weile begann Fräulein Rudin zu sprechen und die Mädchen nahmen die Bücher vom Kopf. Es musste jetzt weit über Mittag sein. Anna und Gwyn drängten sich zusammen. Nacheinander verließen die Mädchen die Bibliothek. Doch das Fräulein schien das Fenster nicht öffnen zu wollen, obwohl die Stunde scheinbar beendet war. Sie beugte sich über ihren Schreibtisch und machte sich eine Weile an den Schubfächern zu schaffen. Dann verließ sie den Raum und ging in ihr Büro. Die Minuten verstrichen. „Was macht die nur so lange da drin? Will sie uns nicht reinlassen?“ Anna hämmerte wütend gegen die Scheiben. „Machen Sie endlich auf!“ schrie sie wütend. „Lass das doch.“ Gwyns Zähne klapperten. „Wenn du ihr zeigst, wie wütend du bist, dann hat sie erreicht, was sie will.“ „Wie kannst du dir nur so sicher darüber sein, was sie will? Vielleicht möchte sie uns umbringen? Der Stoß vorhin hätte mich beinahe über die Brüstung geschleudert! Sie hat unglaublich viel Kraft für so eine alte Schabracke.“ Wieder hämmerte Anna wütend gegen die Scheibe. „Diese Frau ist doch kein menschliches Wesen! Das Buch hätte sie eigentlich treffen müssen. Ich weiß gar nicht, wie ich daneben werfen konnte.“ Gwyn schüttelte den Kopf, dass die Tropfen nur so flogen. „Du hast nicht daneben geworfen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich schwören, dass sie kurz verschwunden war und sofort wiederaufgetaucht ist. Das Buch ist durch sie hindurchgegangen. Aber das kann nicht sein! Es ist völlig unmöglich!“ Anna starrte sie verwundert an. „Sie ist aus Fleisch und Blut. Man kann immer noch sehen, wo sich ihre Fingernägel in mein Handgelenk gebohrt haben.“ Wütend betrachtete sie die Stelle, wo sich die hässlichen roten Kratzspuren von der hellen Haut abhoben. Ganz in der Nähe schlug ein Blitz ein und darauf folgte unmittelbar ein Donnergrollen, dass die Fensterscheiben zitterten. Gwyn zuckte zusammen. Anna musste niesen. „Wir erkälten uns hier draußen. Sie muss uns jetzt reinlassen.“ Gwyn nickte nur matt. Sie merkte, wie ihre Kräfte schwanden. Sie würde ernsthaft krank werden, wenn sie nicht bald ins Warme kam. Müde ließ sie sich auf den Boden sinken. Anna setzte sich neben sie.

Tristan hatte sich nach dem Essen für die vorgeschriebene Mittagsruhe auf sein Zimmer zurückgezogen. Nach dem Ende der Prüfungen begann nun ein äußerst hartes Training zusammen mit den einfachen Soldaten. Während er dem wachsenden Unwetter zusah, versuchte er mit einer Entspannungsübung seine von den Verletzungen immer noch verkrampften Muskeln zu lockern. Die Wunde im Nacken hatte sich zwar geschlossen, aber er spürte, wie sie pulsierte und pochte. Dreimal war er schon beim Wundarzt der Ehrengarde gewesen. Dem höfischen Leibarzt vertraute er nicht. Aber auch der mit Kampfverletzungen erfahrene Kommandant hatte ihm nicht helfen können. Er behauptete, die Wunde sei vollständig verheilt. Wütend knirschte Tristan mit den Zähnen und versuchte sich wieder auf die Übung zu konzentrieren. Für einen Moment gelang es ihm auch, die Muskeln im Rücken zu lockern. Dann schweiften seine Gedanken wieder ab. Geistesabwesend strich er sich mit der Hand über den Nacken. Dann war er plötzlich höchst konzentriert. Er hatte Stimmen gehört. Aber sie schienen nicht vom Flur, sondern von draußen zu kommen. Aber da waren nur der steile Abhang und der Ausblick über das Tal und die Stadt. Es konnte niemand unter seinem Fenster sein. Er wartete eine ganze Weile und lauschte. Nach dem Angriff war er vorsichtig geworden. Da hörte er es wieder! Das waren eindeutig Stimmen. Verwundert stand er auf und öffnete das Fenster. „Ich fühl mich gar nicht gut.“ schniefte Gwyn. Wasser rann ihr aus den Haaren über die Stirn und in die Augen. Mit einer fahrigen Geste wischte sie sich über die Wangen. Anna rückte näher und legte den Arm um sie. Die Prinzessin glühte bereits vor Fieber. Sie war eine sehr zarte Person und ein solches Wetter nicht gewohnt. „Weißt du, in Kaltbach haben wir laufend solches Wetter. Wenn die Stürme von den Bergen ins Tal rollen, bleibt manchmal nicht ein Halm auf dem Acker stehen. Aber jedes Unwetter geht einmal vorbei.“ Anna versuchte sie zu beruhigen. Aber je länger sie hier saßen, desto unruhiger wurde sie selbst. Schließlich stand sie wieder auf und klopfte erneut gegen die Scheibe. „Fräulein, öffnen Sie!“ schrie sie so laut sie konnte. „Öffnen Sie die Tür!“ Doch der Wind zerriss ihre Stimme und der Ruf ging im Heulen des Sturms unter. Gerade als sie sich überlegte, ob sie die Tür aufbrechen sollte, hörte sie aus dem oberen Stockwerk eine Stimme. „Hey!“ Zu seiner Überraschung waren Anna und die Prinzessin auf dem kleinen Balkon im Stockwerk unter ihm. „Wie kommt ihr denn dorthin?“ Anna winkte zu Tristan rauf und zog Gwyn auf die Füße. „Wir wurden ausgesperrt. Komm runter und hilf uns!“ In dem Sturm konnte er ihre Worte kaum verstehen. „Wo seid ihr?“ „Auf dem Balkon in der Bibliothek!“ Gwyn winkte nun ebenfalls. „Seid vorsichtig.“ Er wandte sich um, schloss das Fenster und rannte hinunter in den ersten Stock. Den Weg zur Bibliothek legte er in Rekordzeit zurück. Doch an der Tür zögerte er kurz, atmete tief durch und drücke dann vorsichtig die Klinke nach unten. Er konnte sofort das Fenster und die beiden Mädchen sehen. Anna hatte den Finger auf die Lippen gelegt und deutete nach rechts. Er öffnete die Tür ein Stück weiter und betrat langsam den Raum. Die Tür zur Schreibstube stand angelehnt und er konnte jemanden darin herumgehen hören. Er schlich an der Tür vorbei. Was für ein Unmensch sperrte andere Leute bei dem Wetter auf den Balkon? Schon war er bei dem Flügelfenster angekommen und öffnete den Hebel. Nass und erschöpft kamen ihm die Mädchen entgegen. Die Prinzessin konnte kaum noch stehen und stützte sich auf Anna. Diese musste ein Niesen unterdrücken. Kalte Luft wehte von draußen herein und bauschte die Vorhänge. Tristan nahm Anna die erschöpfte Prinzessin ab und hob sie kurzerhand auf die Arme. Anna schloss das Fenster und sie durchquerten leise die Bibliothek, immer mit den Augen auf der angelehnten Tür. Annas Füße patschten leise und hinterließen dunkle Wasserflecken auf den alten Holzdielen. Dann hatten sie es geschafft und standen im Flur. Gwyn war es unangenehm, Tristan so nahe zu sein. Sie fühlte sich elend und armselig. Dem Schwindel in ihrem Kopf zum Trotz bedeutete sie ihm, sie runter zu lassen. Sie schniefte noch immer. „Wir müssen uns umziehen gehen. Und dann müssen wir mit den anderen sprechen. Keine Minute länger ertrage ich diese Person!“ Sie bemühte sich um eine gerade Haltung und machte sich daran, die Treppen hinaufzusteigen. Ihr nasses Kleid war unglaublich schwer und hing an ihr wie nasse Erde. Auf dem Absatz wandte sie sich noch einmal um. „Wir treffen uns in einer Stunde vor dem Speisesaal. Dann gehen wir zu meinem Vater. Schaffst du das?“ Anna nickte erfreut. „Sicher schaff ich das. Alles was nötig ist.“ Damit verschwand Gwyn. Tristan runzelte besorgt und zornig die Stirn. „Warum wart ihr auf dem Balkon?“ Anna griff nach seinem Arm und zog ihn ein Stück weiter hinter eine Statue. „Nicht so laut. Soll Fräulein Rudin ruhig weiterhin glauben, dass wir immer noch auf dem Balkon stehen. Sie hat uns ausgesperrt, um uns zu bestrafen. Diese Frau ist der schrecklichste Mensch, der mir je begegnet ist. Sie muss weg! Aber das kann nur der Großherzog entscheiden.“ Tristan wollte aufbrausen, überlegte es sich aber anders, als er Annas mahnendes Gesicht sah. Zufrieden bemerkte er, dass ihre Hand immer noch auf seinem Unterarm lag. „Wie kann sie es nur wagen!“ grollte er. „Keine Ahnung, was in sie gefahren ist. Sie ist ein Unmensch!“ Antwortete Anna. Wasser lief ihr aus den Haaren über die Nase. Ohne nachzudenken, beugte er sich vor und küsste den Tropfen weg. Anna erschrak, wich aber nicht zurück. Dann trafen seine Lippen ihren Mund, wenn auch nur flüchtig. Schnell trat er einen Schritt zurück. Wie konnte er sich nur so gehen lassen? Er betrachtete ihr nasses Kleid und ihr blasses Gesicht. „Du musst dich umziehen gehen. Du erkältest dich noch.“ Sie nickte. „Ich muss mich beeilen. Danke für deine Hilfe.“ Sie wollte gehen, doch er griff nach ihrer Hand und hielt sie zurück. Als er ihren Blick sah, ließ er sie sofort wieder los. „Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.“ Erst wollte sie ablehnen. Sie konnte sich sehr gut selbst helfen. Aber wenn nicht ihm, wem konnte sie dann vertrauen? „Wenn du meinst?“ Er nickte nur. Ein weiterer Tropfen lief über ihre Wange hinunter und den Hals hinab. Wie sollte er ihr antworten, wenn ihm bei diesem Anblick die Stimme versagte? Ein Geräusch unten auf der Treppe ließ beide zusammenzucken. Anna wandte sich um und rannte die Treppe hinauf, aber nicht ohne sich noch einmal umzudrehen und ihm zuzuwinken.

Gwyn hatte sich umgezogen und das nasse Haar unter einer seidenen Haube versteckt. Dann hatte sie nach Hermine geschickt und ihr ein Schreiben an ihren Vater übergeben mit der Bitte um eine sofortige Audienz. Sie musste ihn davon überzeugen, diese Frau zu entlassen. Sie betete, dass er sich noch vor dem Abendessen anhören würde, was sie zu sagen hatte. Ein Pochen in ihrem Kopf kündete einen nahenden Kopfschmerz an. Sie würde sicherlich krank werden. Sie fröstelte immer noch. Aber sie könnte sich erst ausruhen, wenn sie sich der schrecklichen Person gestellt und sie in ihre Schranken verwiesen hatte. Gwyn atmete noch einmal tief durch und verließ ihre Gemächer. Anna wartete in der Halle. Als sie auf der letzten Stufe angekommen war, wurde Gwyn schwarz vor Augen und sie strauchelte. Sie stützte sich auf das Geländer und wartete einen Moment. Dann sah sie sich langsam um und vergewisserte sich, dass sie niemand beobachtete hatte. Einige andere Mädchen waren da und diskutierten eifrig. Anscheinend waren sie neugierig, worum es ging. Auf der anderen Seite der Halle öffneten sich die Türen zum Thronsaal und Ahlgrimm trat heraus. Gwyn beeilte sich, um Anna zu gelangen. Sie wollte nicht zu spät kommen. Ahlgrimm führte die beiden Mädchen in den Thronsaal. Großherzog Grenford saß an seinem Stammplatz am halbrunden Tisch im hinteren Teil des Raumes und hatte Gwyns Brief in der einen Hand, mit der anderen Hand massierte er sich die Schläfen. Sein Blick wirkte angespannt und zornig. Fräulein Rudin stand hinter ihm und hatte die Hände vor dem Bauch gefaltet. Ihr Gesicht trug den Ausdruck eines unschuldigen Lammes vor der Schlachtbank, einfältig und ein wenig besorgt. Unglaublich was für ein Wandel in ihr vorgegangen war! Der Großherzog legte den Brief vor sich auf den Tisch und betrachtete die Mädchen. Gwyn wartete. Das Zeremoniell gestattete es ihr nicht zu sprechen, bevor sie dazu aufgefordert wurde. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Im Thronsaal war es immer so kalt. Ihre Finger zitterten, darum verschränkte sie die Hände hinter dem Rücken. „Gwynevra, kannst du mir diesen Brief erklären?“ Er wirkte wahrlich wütend. Sie musste ihren Standpunkt so sicher wie möglich vertreten. Gwyn straffte den Rücken und antwortete: „Fräulein Rudins Erziehungsmethoden sind katastrophal, Vater. Sie unterrichtet uns nicht, sondern kommandiert uns herum. Ihren Forderungen ist kaum nachzukommen und sie bestraft jeden Fehler mit Schlägen.“ Sie wies ihre blaugeschlagenen Finger vor. „Ich habe mich sehr um Kooperation bemüht, aber anscheinend lässt sich dieses Problem“ sie stockte und wieder wurde ihr schwindlig, doch sie unterdrückte dies. „dieses Problem lässt sich nicht ohne deine Hilfe lösen. Heute Mittag hat sie mich und Anna während des Gewitters auf den Balkon gesperrt. Ich denke, wir sind uns einig, dass wir einen anderen Lehrer benötigen.“ Ihr Vater sah sie lange an. „Gwynevra, Fräulein Rudin hat mir bereits vor ein paar Tagen berichtet, dass du scheinbar Schwierigkeiten mit der neuen Situation hast. Ich kann verstehen, dass dich der Tod von Meister Eiwar sehr mitgenommen hat, aber dein Betragen ist im höchsten Masse ungehörig.“ Gwyn zitterte vor Wut. „Sie hat mich auf die Finger geschlagen!“ Der Großherzog schüttelte den Kopf. „Das Fräulein sagt, du hättest dir die Finger in der Tür geklemmt. Was meinen denn die anderen Mädchen zu deinen Vorwürfen?“ Anna sah sich hilflos um und stieß schließlich Marie an, die neugierig gewesen war und sich nicht hatte abwimmeln lassen. Doch nun schüttelte sie nur den Kopf und biss sich auf die Lippen. Das Fräulein lächelte milde. „Eure Tochter hat sicherlich keine direkte Abneigung gegen mich. Es ist immer schwer, wenn man seinen Mentor verliert. Ich denke, sie sollte sich ausruhen. Sie wirkt sehr bleich auf mich.“ Doch der Großherzog wurde nun wirklich wütend. „Gwyn, was fällt dir ein, der Familie so eine Schande zu machen! Das ist nicht zu entschuldigen. Du hast bis auf weiteres Stubenarrest und wehe du setzt einen Fuß vor die Tür deines Schlafzimmers. Geht jetzt!“ Da sprang Anna vor, erzürnt über die Ungerechtigkeiten des Großherzogs. „Bei allem Respekt, aber Gwyn sagt die Wahrheit! Sie hat uns auf den Balkon gesperrt! Die anderen Mädchen sind zu eingeschüchtert, um die Wahrheit zu sagen. Ich habe keine Angst vor dieser Hexe! Ihre Taten dürfen nicht ungestraft bleiben!“ Fräulein Rudin neigte sich vor und flüsterte dem Großherzog etwas ins Ohr. Gwyn glaubte, dass sie gleich in Ohnmacht fallen musste. Der Schmerz in ihrem Kopf wurde langsam unerträglich. Sie hob den Blick und bemerkte die glasigen Augen ihres Vaters, während er der Rudin lauschte, merkwürdig entrückt. Fräulein Rudin richtete sich wieder auf und warf ihr einen gehässigen Blick zu. Doch schnell wurde ihr Gesichtsausdruck wieder lammfromm und auch ihr Vater wirkte völlig normal. Was ging da vor? Oder bekam sie Fieber? „Du bist also die junge Dame von Kaltbach, die das Fräulein während des Unterrichts mit Büchern bewirft? Du bist deinem Vater wirklich nicht unähnlich.“ Anna schob trotzig das Kinn vor. „Was soll das bedeuten?“ Der Großherzog erhob sich und griff nach dem Brief. „Leugnest du den schäbigen Angriff auf deine Lehrerin?“ Sie straffte die Schultern. „Nein das leugne ich nicht. Ich habe einen Fehler gemacht und stehe dazu.“ „Wenigstens das. Fräulein Rudin hat euch beide zwar schon vom Unterricht ausgeschlossen, aber ich denke, ihr habt eure Lektion nicht begriffen. Niemand hat euch auf den Balkon gesperrt. Ihr erzählt doch Märchen, um diese ehrenwerte Dame loszuwerden. Du bekommst drei Tage Arrest und wirst dem Fräulein für den Rest des Monats in der Bibliothek aushelfen, wenn deine Arrestzeit vorbei ist. Und ich will kein Wort mehr hören, denn offensichtlich habt ihr beide keinen Zeugen für eure Behauptungen, obwohl die anderen Mädchen doch dabei waren und demnach alles gesehen haben müssen, was ihr beschreibt. Diese Sache hier ist beendet und wenn ich noch ein Wort darüber höre, werde ich hart durchgreifen. Wir haben jetzt wirklich andere Sorgen. Hinaus!“ Die Mädchen verließen den Raum und Anna stürzte sich auf Marie. „Was sollte das? Warum hast du nichts gesagt?“ Marie riss sich los und folgte den anderen. Doch Anna ließ nicht locker. „Sag schon, was sollte das?“ Marie wandte sich nicht um, sondern ging weiter. Doch von der Seite her flüsterte sie: „Ich konnte nicht, sie hat uns bedroht. Ich kann nichts sagen.“ Dann rannte sie davon. Anna blieb stehen. Marie hatte panische Angst. Das erklärte natürlich das Verhalten der Mädchen. Gwyn kam auf sie zu und blieb neben ihr stehen. Ihre Hand krallte sich in Annas Oberarm. Bestürzt bemerkte Anna, dass Schweiß auf ihrer Stirn perlte und ihre Haut unnatürlich bleich war. „Was sagt sie?“ Ihre Augen glänzten. „Sie hat scheinbar große Angst, aber sie wollte nicht reden. Sie haben alle Angst.“ Gwyn konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Ihre Kraft ließ nach und sie wollte sich nur noch hinsetzen. Anna fing sie auf und stützte sie, bis sie sich von ihrem Schwindel erholt hatte. Dann führte sie Gwyn zu einem der Sessel im Speisesaal. Die Köchin war gerade mit einem Geschwader von Küchenmädchen dabei, den Raum für das Abendessen herzurichten und schlug beim Anblick der beiden die Hände überm Kopf zusammen. Während sie die Mädchen in verschiedene Richtungen davon schickte, um Decken, Tee und Hermine zu holen, setzte Anna Gwyn auf einen Stuhl mit hoher Lehne nahe beim Kamin. „Wie werden wir sie nur wieder los? Diese alte Giftschlange.“ Flüsterte sie, während sie der Prinzessin vorsichtig eine Hand auf die Stirn legte. „Ich glaube, du hast dich verkühlt.“ Hermine kam in den Saal und stürzte wie eine Glucke auf Gwyn. „Ach du liebe Güte, ihr seid schweißnass und blass um die Nase.“ Als sie gewahr wurde, dass die Küchenmädchen herumstanden und gafften, schickte sie alle sofort wieder an die Arbeit. Die Wenigsten hatten Einwände. Nur Anna blieb bei Gwyn, die sich nicht bewegen ließ, in ihr Zimmer zu gehen.


Tristan war zurück in den kleinen Hof gegangen, wo die anderen bereits wieder seit einer Weile trainierten. Seine Gefühle waren ein einziges Chaos. Er sehnte sich nach Annas Nähe, wollte bei ihr sein. Doch sein Verhalten vorhin im Treppenhaus hatte ihn selbst wohl am meisten überrascht. Er, der sonst alle Entscheidungen sorgfältig abwog und jeden Schritt im Voraus plante, hatte völlig intuitiv und rücksichtslos gehandelt. Vielleicht hatte er alles verdorben? Diese Angst hatte sich in seinem Kopf festgesetzt und wollte nicht weichen. Dann machte er sich Gedanken darüber, was er von den Mädchen erfahren hatte. Innerlich kochte er vor Wut. Wie konnte diese fette Spinatwachtel nur so etwas tun? Hoffentlich wurden sie die schnell wieder los, sonst würde er sich diese Dame vornehmen müssen. Auch diese Rachegelüste waren ihm neu. Bestürzt über diesen Haufen neuer Erfahrung versuchte er, sich nichts von dem Sturm in seinem Inneren anmerken zu lassen. Er musste von Anfang an eine gute Figur machen und allen beweisen, dass er mehr vermochte, als man ihm zutraute. Er gehörte in die Ehrengarde! Der Regen tropfte immer noch vom Himmel herab und der Boden war von den Übungskämpfen gleichermaßen wie von den Wassermassen aufgewühlt. Er musste nun besonders vorsichtig sein, um in der glitschigen Erde nicht auszurutschen. Ein paar der Soldaten hatten die Männer inzwischen in Gruppen eingeteilt und versuchten sie im Nahkampf ohne Waffen zu unterweisen. Es war auf dem rutschigen Untergrund schwer genug. Tristan mischte sich unter die Männer, die den Ausführungen eines einarmigen, hageren Soldaten lauschten. Dieser hatte bislang jeden Angreifer erfolgreich abgewehrt. Immer wieder forderte er einen der Umstehenden auf, ihn anzugreifen. Oft schlug er ihn dann mit dem ersten Gegenschlag zu Boden. Tristan beobachtete ihn eine Weile, bevor auch er schließlich aufgefordert wurde. In seinem Inneren brodelte immer noch eine unbändige Wut. Er war eigentlich viel zu durcheinander, um jetzt rational und klar zu denken. Wie sollte er sich auf den Kampf konzentrieren? So kannte er sich gar nicht. Langsam ging er in die Mitte. Er versuchte es mit einer Täuschung nach links, um dann von rechts anzugreifen. In Sekundenschnelle fand er sich auf dem Boden wieder, bevor er überhaupt begriff, was los war. Seine Wut explodierte wie eine Kanonenkugel. Der Einarmige lachte laut auf und wandte ihm den Rücken zu. Tristan wischte sich den Schlamm aus dem Gesicht, kam blitzschnell hoch und sprang ihn von hinten an. Es gelang ihm, den Kerl in den Würgegriff zu nehmen und so hing er recht unprofessionell auf dessen Rücken, würgte ihn mit dem rechten Arm und drosch mit der linken Faust auf seinen Kopf ein. Da der Mann nicht mit dem Angriff gerechnet hatte, schwankte er wie ein Baum hin und her und rutschte schließlich auf dem nassen Boden aus. Der Länge nach stürzten beide zu Boden. Die Soldaten johlten und schrien. Der Regen hatte wieder zugenommen. Mühsam rappelte Tristan sich hoch. Doch er hatte sich kaum aufgerichtet, da griff der Einarmige nach seinem Bein und riss daran mit einem Ruck, der Tristan wieder auf den Boden warf. Er hatte kaum Gelegenheit, sich umzudrehen, als der Kerl auch schon auf ihm saß und ihm einen Kinnhaken verpasste. Für einen Moment schwanden ihm die Sinne, dann explodierte der Schmerz in seinem Gesicht. Er schmeckte Blut. Er musste sich auf die Zunge gebissen haben. Der Einarmige stand auf und riss ihn am Hemdkragen nach oben. Tristan schnaubte immer noch vor Wut. Er wollte wieder blindlings zuschlagen. „Reg dich ab, das ist nur eine Übung.“ Zischte ihm der Einarmige zu und schlug ihm kräftig auf die Schulter „Das war sehr gut so. Der Nächste.“ Tristan ging. Es war ihm egal, dass die Übungen noch nicht beendet waren. Henrik stand im Hintergrund in der Nähe der Stallungen und wartete. Tristan spuckte einen Mund voll Blut auf den Boden. Dann ging er an Henrik vorbei und betrat den Stall. Im Dämmerlicht konnte er die Tiere kaum sehen, aber ihr Geruch und ihre Wärme schlug ihm entgegen. Er ging bis zu seiner Box und lehnte sich mit dem Kopf an den warmen Hals seines Pferdes. Nach diesem Wutanfall war er erschöpft und schockiert. Er wusste nicht, wieso er so heftig reagiert hatte und er wollte es auch nicht verstehen. Er merkte, wie es in seinem Nacken prickelte. Die anderen hatten vermutlich nichts gemerkt. Nur ihm machte seine innere Unruhe zu schaffen. Henrik kam langsam näher. „Stimmt etwas nicht?“ Tristan schüttelte den Kopf. „Ziemlich harter Schlag für einen einarmigen Veteranen.“ Nuschelte er. Sprechen tat weh. Henrik nickte und begutachtete Tristans Kinn. „Das gibt einen Bluterguss. Noch einen.“ Dann schüttelte er den Kopf. „So war es ja schon immer. Kann mich nicht erinnern, dass ihr mal keine Blessuren hattet.“ Er lachte. Tristan lachte auch, aber es klang selbst in seinen Ohren bitter. Henrik hatte Recht. Er schien immer der Verlierer zu sein. Vermutlich würde er seinen ersten ernsthaften Kampf nicht überstehen. Der Knecht öffnete die Box und trat neben das Pferd. Aus der Kiste mit dem Sattelzeug nahm er eine bauchige Flasche und lehnte sich an die Trennwand der Box. Tristan beugte sich vor. „Was hast du da?“ „Nur eine Kleinigkeit. Zur Aufmunterung.“ Henrik entkorkte die Flasche und nahm einen tiefen Zug. „Du bewahrst das Zeug in der Sattelkiste auf?“ Henrik hielt ihm die Flasche hin und Tristan nahm einen Schluck. Es war feinster Branntwein und obwohl seine Zunge noch mehr schmerzte, merkte er, wie der Alkohol ihn entspannte. Er wischte sich den Mund ab. Henrik sagte: „Die durchsuchen regelmäßig die Kammern der Knechte und Zofen. In deiner Sattelkiste schauen sie aber nicht nach.“ Tristan schüttelte den Kopf. „Scheint ganz so, als wären wir vom Regen in die Traufe gelangt. Und genau wie früher auch schmuggelst du die guten Sachen ja doch irgendwie hinein.“ Er lachte und erinnerte sich an die Stunden, die er als Junge wegen seiner vielen Streiche auf seinem Zimmer verbracht hatte, von Henrik trotz des Verbots seiner Eltern immer mit Essen und allem Möglichen versorgt. Henrik lachte auch. Da er nicht viel älter als die beiden Söhne seines Dienstherrn war, hatte er von all ihren Streichen gewusst und an einigen selbst Anteil gehabt. Tristan kam ebenfalls in die Box und gemeinsam ließen sie sich auf der Sattelkiste nieder und ließen sich noch einen Schluck von dem Branntwein schmecken. Sie waren wieder dort angelangt, wo sie in ihrer Kindheit irgendwann aufgehört hatten. Er wusste gar nicht mehr, warum er sich damals von seinem Spielkameraden abgewandt hatte. „Hast du dich mal nach der Dame erkundigt, der ich angeblich nachstelle?“ Henrik nickte nur und korkte die Flasche wieder zu. „Bislang ohne Erfolg. Aber ich habe die Dienstboten in der Küche noch nicht gesprochen.“ Damit gab Tristan sich zufrieden. „Durchsuchen die eigentlich auch mein Zimmer?“ fragte er neugierig. „Nein.“ „Bist du sicher?“ „Wenn ja, dann haben sie den Port unter dem Bett bislang noch nicht entdeckt.“ Tristan runzelte die Stirn. „Du versteckst Portwein unter meinem Bett?“ Henrik lachte. „Im Leben nicht. Der wäre vermutlich schneller weg als ich blinzeln könnte.“


Reinhard blieb noch zum Mittagessen, dann machte er sich wieder auf den Weg. Er schien sich nicht besonders wohl zu fühlen, aber auf Brins Frage antwortete Mac, das es nicht an ihrer Begabung läge, sondern an dem Wandel in seiner Lebensweise. Reinhard konnte sich anscheinend nicht daran gewöhnen, seinen ehemaligen Herrn nun als einfachen Mann zu sehen. Brin fand das durchaus verständlich, konnte er sich doch im Gegensatz dazu nicht vorstellen, dass Mac einmal in dem riesigen Haus gelebt, ja, dass es ihm sogar gehört haben sollte. Das Haus, das nach diesem schrecklichen Angriff nun eine Ruine war. Mac stellte sich bei all seinen Fragen taub. Er wollte nicht mehr darüber reden und hielt Brin lieber mit Aufgaben auf Trab. Obwohl er nur so kurz bei ihnen gewesen war, hatte Brin sich mit Reinhard trotzdem gut verstanden, denn der ehemalige Stallmeister wusste eine ganze Menge über Pferde und schien sehr stolz auf das Tier zu sein, dass ihm selbst gehörte. Ein eigenes Pferd zu besitzen schien Brin immer noch ein Ding der Unmöglichkeit. Mac bat ihn, seine Wäsche zum Wechseln in einen Beutel zu packen und sich auch um die Verpflegung zu kümmern. Sie wollten morgen früh aufbrechen. Bis nach Lauterstein würden sie zu Fuß rund zwei Tage unterwegs sein, denn Mac konnte wegen der alten Verletzung am Knie weite Strecken nicht gut bewältigen. „Man wird halt alt.“ Meinte er dazu mit stoischer Miene. Ansonsten wollte er, dass Brin sich noch mal mit allem auseinandersetzte, was er schon gelernt hatte und vor allem sollte er sich noch einmal an das Entzünden der Kerze wagen. Es schien so, als habe Mac Angst, Brins Unterricht könnte während der Reise zu kurz kommen. Er benahm sich in der Beziehung sowieso recht merkwürdig, seit er Brin in dem Haus gefunden hatte, hatte er den Unterricht intensiviert. Dennoch schien Brin keine Fortschritte zu machen. Vielleicht besaß er gar kein Talent? Als er sich jetzt wieder über den Kerzenstummel beugte und sich so verbissen auf den Docht konzentrierte, dass er beinahe schielte, nagte tief in seinem Unterbewusstsein der Zweifel.

Gwyn saß immer noch zitternd vor dem Kamin. Anna hockte schweigend neben der Prinzessin. Hermine hatte die Mädchen in Decken gehüllt und versuchte immer wieder, die Prinzessin dazu zu bewegen, ins Bett zu gehen. Schließlich kam die Köchin und drückte jeder einen starken Grog in die Hand, das half zumindest gegen die Kälte. Es stand außer Frage, dass die Prinzessin sich verkühlt hatte und bereits fieberte. Anna wusste, dass sie nicht mehr lange warten könnten. Stur saß Gwyn in ihrem Sessel und starrte in die Flammen. Schließlich kam Ahlgrimm herein und legte eine Hand auf Annas Schulter. „Ihr müsst nach dem Essen euren Arrest antreten. Ein Büttel wird euch hier abholen, bitte macht keine Schwierigkeiten. Der Großherzog ist geneigt, die Affäre unter den Teppich zu kehren. Das wird auch für euch von Vorteil sein.“ Er beugte sich vor und sah Gwyn prüfend an. „Ihr solltet euch nun nach oben begeben, ihr seht müde aus.“ Gwyn sah ihn an und fragte müde: „Hat mein Vater schon gesagt, wie lange der Stubenarrest dauert?“ Ahlgrimm schüttelte den Kopf. „Nein, bedaure.“ „Dann solltet ihr jetzt lieber gehen, es ist bestimmt äußerst ungünstig, wenn man euch mit mir sieht.“ Ahlgrimm schmunzelte. „Ihr könnt immer noch scherzen, Prinzessin, charmant wie immer. Nehmt das alles nicht so schwer, euer Vater verzeiht euch schon wieder. Jedes Kind macht mal Dummheiten.“ Dann ging er. Hermine tätschelte Gwyns Rücken und versuchte noch einmal mit sanften Worten, die Prinzessin dazu zu bewegen, auf ihr Zimmer zu gehen und sich hinzulegen. Endlich hatte sich Gwyn so weit gefangen, dass sie nachgab und nach oben ging. Anna saß noch eine Weile am Feuer. Sie versuchte zu verstehen, was gerade vorgefallen war. Nach und nach füllte sich der Speisesaal und die ersten Schlossbewohner fanden sich zum Essen ein. Sie beobachtete das Kommen und Gehen eine Weile, aber Hunger hatte sie keinen. Bald wurde sie schläfrig. Sie schrak hoch, als sich jemand in den gegenüberliegenden Sessel fallen ließ. Tristan hatte sie beim Reinkommen gesehen und war zielstrebig auf den benachbarten Sessel zugegangen. Sein Hunger war einem Kitzeln in der Magengrube gewichen. Er musste herausfinden, ob er mit seiner vorwitzigen Tat vorhin seine Chancen vernichtet hatte. „Störe ich?“ lächelnd beugte er sich zu ihr hinüber. Sie schüttelte den Kopf. Nervös zupfte sie an einer Ecke ihrer Schürze herum, bis sie sich schließlich lächerlich vorkam und es sein ließ. „Geht es dir gut?“ Anna schüttelte wieder den Kopf. „Wir haben uns beim Großherzog beschwert, aber sie hat ihn von sich überzeugen können. Wir haben Arrest gekriegt, stell dir vor! Ich fürchte, jetzt wird alles noch viel schlimmer.“ Flüsterte sie ergeben. Was konnten sie noch tun? „In zehn Monaten kann ich wieder nach Hause und bis dahin halt ich das schon durch.“ Meinte sie zuversichtlich, aber sie schien nicht sehr überzeugend zu sein. Tristan schaute sie mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an. Seine Frage hatte sich eigentlich auf den Kuss bezogen, aber ihrer Antwort konnte er entnehmen, dass sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt war. Anscheinend war sie ihm nicht böse. Ihr fiel eine Spur Blut in seinem Mundwinkel auf und mehrere blaue Flecken im Gesicht. Sie runzelte die Stirn. Dann bemerkte sie, dass seine Kleider vor Schmutz starrten. „Was ist mit dir passiert? Hast du dich geprügelt?“ Er lachte, aber es klang verbissen. „Nicht wirklich. Bloß eine Übung, die ein bisschen ruppiger war als sonst.“ Sein Lächeln wirkte verwegen. Anna zog müde eine Augenbraue hoch. Sollte sie sich davon beeindrucken lassen, dass er sich mit seinen Freunden prügelte? Das hatte auf sie noch nie Eindruck gemacht. Er erkannte wohl, dass sie jedwede Angeberei missbilligte, denn sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er schien sie jetzt fast ratlos anzusehen und Anna musste leise lachen. „Wie lief der Wettbewerb für dich? Bei den Vorausscheidungen warst du ziemlich gut.“ Er lachte wieder auf diese eigentümliche Weise, irgendwie spöttisch. „Es war großartig. Könnte nicht besser sein.“ Eine Weile schwiegen sie und Anna konnte spüren, wie er sie verstohlen musterte. Das war ihr peinlich und schließlich erwiderte sie seinen Blick ganz offen. „Dann wirst du also Mitglied der Ehrengarde? Mein Vater hat mir viel darüber erzählt. Es ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe.“ Er zuckte die Schultern und rutschte unbehaglich ein Stück vor. „In meiner Familie ist jeder Mann seit Generationen ein Mitglied gewesen. Ich kann gar nichts anderes tun.“ Er wirkte aufrichtig. „Woher weiß dein Vater so viel über die Ehrengarde?“ Anna zog verblüfft die Schultern nach oben. Dabei rutschte die Decke von ihren Schultern. Schnell wickelte sie sich wieder ganz fest ein. „Er war doch selber lange Zeit Mitglied. Bis er bei einem Einsatz an der Schulter verletzt wurde. Jetzt kann er kaum noch ein Schwert halten. Ich dachte, die Mitglieder der Ehrengarde kennen sich untereinander?“ Tristans Gedanken überschlugen sich. „Dein Vater müsste aber adelig sein, damit er sich um einen Platz in der Ehrengarde bewerben konnte.“ Meinte Sie, dass er ihr das abkaufte? Sie war ja letztlich nur eine Kammerzofe. „Sicher ist er das.“ Sie wirkte ganz arglos. Wie konnte sie nur so lügen? Es sei denn... „Ah, verstehe. Ich wollte dir nicht zu nahetreten.“ Anna war verwirrt. Was meinte er denn? Als sie ihn direkt darauf ansprach, wirkte er verlegen. „Na ja, ich dachte deine Herkunft sei vielleicht kein geeignetes Gesprächsthema.“ Druckste er herum. Sie schien ihn immer noch nicht zu verstehen, aber sie wurde sichtlich böse. „Was stimmt denn nicht mit meiner Herkunft? Ich weiß nicht, wieso alle hier zwischen Menschen derartige Unterschiede machen können und auch noch meinen im Recht zu sein! Was gibt euch das Recht zu glauben, dass ihr was Besseres wärt, nur weil eure Familie mehr Geld hat als meine?“ Jetzt waren sie also wieder förmlich. „Hör mal, ich will dich ja nicht beleidigen, aber es geht hier doch wohl weniger ums Geld. Es ist überhaupt schon merkwürdig, dass ein Vater sich zu seinem unehelichen Kind bekennt.“ Jetzt hatte er es gesagt. Zu seiner Überraschung blinzelte sie nur und fing dann an zu lachen. „Bei der Göttin, ich bin doch kein uneheliches Kind.“ Jetzt war Tristan derjenige, der verwirrt war. „Ach nein, aber ich dachte, wieso, aber warum bist du dann wie eine Kammerzofe angezogen?“ er bekam kaum einen vernünftigen Satz heraus. Sie lachte immer noch. Es war ihm so peinlich und er wusste nicht mal warum! Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, konnte sie schließlich antworten: „Ich muss hier als Kammerzofe ein Jahr lang feines höfisches Benehmen lernen und anschließend wird man dann auf einem großen Fest in die Gesellschaft eingeführt. Ihr versteht wohl nicht viel von höfischer Etikette.“ Erleichterung machte sich in ihm breit. Jetzt konnte er unbesorgt sagen was er dachte, ohne fürchten zu müssen, das eventuelle Standesunterschiede ihnen in die Quere kamen. „Das wusste ich nicht.“ Sein Lächeln wirkte erleichtert und ihm schien diese Verwechslung wirklich peinlich zu sein. „Ich wollte dir nichts unterstellen, ich hoffe, du bist nicht böse auf mich?“ Gerne hätte sie ihm gesagt, dass sie ihm auf keinen Fall böse sein konnte, aber sie hielt sich zurück und schüttelte nur den Kopf. Er nickte und lächelte, dann verzog er das Gesicht zu einer lustigen Grimasse und rieb sich das Kinn. „Wenn die Dame noch mal Ärger macht, dann sag mir Bescheid. Gegen eine Frau müsste ich noch gewinnen können.“ Anna sah den Büttel in der Tür des Speisesaals stehen. Nach allem was heute passiert war, hatte sie schon daran gezweifelt, ob sie überhaupt im Recht waren. „Ich muss jetzt gehen. Die Strafe habe ich verdient, das gebe ich zu.“ Tristan sah sie bestürzt an. „Wie kannst du nur so etwas behaupten?“ Sie antwortete: „Glaub mir, ich habe mich nicht gerade vorbildlich verhalten.“ Tristan schüttelte den Kopf und ergriff ihre Hand. „Dieser Ungerechtigkeit werde ich ein Ende setzen. Ich lass nicht zu, dass du im Arrest landest.“ Anna zog ihre Hand zurück und spürte, wie Erschöpfung sie übermannte. „Bitte tu nichts Unüberlegtes, lass diese Frau in Ruhe. Sie ist unheimlich, irgendetwas stimmt mit ihr nicht.“ Sie konnte ihm das jetzt nicht erklären. „Außerdem habe ich mit einem Buch nach ihr geworfen.“ Er zog erstaunt die Augenbrauen hoch, darum fuhr sie schnell fort: „Das war dumm von mir und das sehe ich ein, also lass mich.“ Der Büttel hatte sie entdeckt und kam auf sie zu. Der Göttin zum Dank erkannte sie einen Freund ihres Vaters in dem Mann. Wenigstens würde man sie nicht schlecht behandeln. „Entschuldigen Sie bitte, Fräulein von Kaltbach, aber ich muss Sie bitten mit mir zu kommen.“ Müde verabschiedete sie sich und folgte dem Büttel. Tristan sah ihr nach, als hätte er einen weiteren Schlag ins Gesicht bekommen. Er dachte an den Brief und die Wunde im Nacken schmerzte wütend. Und das würde kein noch so guter Branntwein kurieren.

Krieg und König

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