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Оглавление4. Vergeben, wie geht das denn?
Vergeben wird im religiösen Rahmen von uns erwartet. Aber Gott verlangt von uns nichts Unmögliches – er verlangt nicht, dass wir unsere Gefühle ändern! Im Sinne der Bibel bedeutet der Prozess des Vergebens primär erst einmal eine Veränderung meiner inneren Einstellungen und meiner Handlungen. Ich soll mehr und mehr bereit werden, mich mit dem anderen wenn möglich direkt auseinanderzusetzen und auf meine (zum Teil berechtigte) Rache zu verzichten (Lev 19,17–18):
Du sollst in deinem Herzen keinen Hass gegen deinen Bruder tragen. Weise deinen Mitbürger zurecht, so wirst du seinetwegen keine Sünde auf dich laden. An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr.
Ich soll mich neu auf meine Zukunft ausrichten und meine Vergangenheit immer mehr hinter mir lassen (Jes 43,14.18–19a):
Denkt nicht mehr an das, was früher war; auf das, was vergangen ist, achtet nicht mehr! Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon sprießt es, merkt ihr es nicht?
Wenn ich mich wirklich neu auf die Zukunft ausrichte, verändern sich langsam meine alten Gefühle und ich werde immer freier, gesünder und kann mich an meinem Leben deutlich mehr freuen – in meiner Wüste wird ein neuer Weg geschaffen.
Vergeben ist einerseits ein geistlicher und andererseits ein psychischer Vorgang. Schon Thomas von Aquin sagte, die Gnade setzt die Natur voraus. Gott hat uns geschaffen mit all unseren psychischen Möglichkeiten und Fähigkeiten. Im Vergebensprozess verlangt er »lediglich« von uns, dass wir sie entsprechend nutzen. Gleichzeitig kommt er uns mit seiner Gnade im biblischen Wort, in der Meditation und im Gebet entgegen.
Im Verlauf eines Vergebensprozesses ist es notwendig, sich mit fünf unterschiedlichen Aufgaben auseinanderzusetzen. Oft verläuft diese Auseinandersetzung in der hier angegebenen Reihenfolge. Es kann aber auch geschehen, dass zwischen den einzelnen Aufgaben mehrfach hin- und hergesprungen wird, bis die Seele die jeweiligen Schritte bewältigt hat. Prinzipiell besteht ein Vergebensprozess aus folgenden fünf Aufgaben:
• Ich werde mich nur auf den Vergebensprozess einlassen können, wenn ich ihn als reale Chance für ein besseres Leben verstehen kann. Deswegen geht es zu Beginn eines Vergebensprozesses darum, das Vergeben als solches erst einmal zu verstehen und sich dafür zu entscheiden. Dabei werde ich die Frage beantworten: »Will ich wirklich vergeben?«
• Durch die Konfrontation mit dem Täter und der Verletzungssituation werden meine Erinnerungen und die Gefühle, die dazu gehören, lebendig. Nun geht es darum, mich damit auseinanderzusetzen. Ich muss mich meiner ganzen Wahrheit stellen. Die Frage, die dabei auftaucht, lautet: »Wie gehe ich mit dem Unheil um?« Leider muss ich mir vergegenwärtigen, dass die Täterin absichtlich oder billigend in Kauf genommen hat, mich zu verletzen oder mir Wichtiges zu zerstören. Das kann teilweise auch beinhalten, dass ich mich mit meinen eigenen Anteilen – mit meiner eventuellen Mitschuld – an der Verletzungssituation auseinandersetzen muss. Darüber hinaus ist es sinnvoll zu schauen, was ich eventuell aus der Verletzungssituation für mein weiteres Leben lernen kann.
• Nachdem ich wirklich verstanden und gespürt habe, was die Täterin mir angetan hat, muss ich unter das ganze Geschehen in irgendeiner Form einen Schlussstrich ziehen. Ich muss auf Rache verzichten, um mich neu auf meine Zukunft auszurichten. Dieser Verzicht braucht eine klare Form des Ausdrucks. Dadurch wird dieser Schritt auch emotional erfahrbar. Deswegen erfolgt der eigentliche Akt des Vergebens in einem Vergebungsritual.
• Die ersten Schritte des Vergebensprozesses betrafen die Veränderung meiner Handlungen und Haltungen. Durch das Ritual habe ich mich zu einer neuen Haltung gegenüber dem Verletzer verpflichtet. Manchmal führt schon das auch zu einer klaren emotionalen Veränderung und ermöglicht das Loslassen des Alten. Häufiger treten aber auch nach dem Vergebungsritual wieder alte Gedanken und Gefühle bezüglich der Situation und des Verletzers auf. Dann stellt sich mir die Frage: »Wie gehe ich mit meinen Gedanken und Gefühlen um?«
• Wenn ich vergeben habe, stellen sich darüber hinaus zwei weitere Fragen: »Wie will ich jetzt meine Zukunft gestalten?« Und: »Wie will ich ab jetzt mit dem Verletzer umgehen?« In diesem Schritt geht es um die Neuausrichtung des Lebens in der nun gewonnenen Freiheit und gleichzeitig um die Entscheidung zum Umgang mit dem Verletzer. Hier gibt es zwischen komplettem Kontaktabbruch und Versöhnung viele Möglichkeiten für mich.