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Оглавление2. Was ist Vergeben?
Wenn wir in Kursen über »Vergeben« sprechen, erleben wir, dass es sehr unterschiedliche Vorstellungen davon gibt. Dabei mischen sich verschiedene ähnliche Konzepte – verzeihen, entschuldigen, vergeben und versöhnen. Früher wurde Vergeben und Verzeihen sprachlich nahezu gleichbedeutend benutzt. Heute wird Verzeihen eher im Sinne von »um Entschuldigung bitten« verwendet. Da das Wort verzeihen durchaus mehrdeutig ist, verwenden wir es in diesem Buch gar nicht.
Auch Entschuldigen und Vergeben werden heute sprachlich zum Teil gleichbedeutend eingesetzt. Im eigentlichen Sinne bittet jedoch ein Täter das Opfer um Entschuldigung – also um die Entfernung der Schuld. Für viele Opfer ist diese Bitte ein langgehegter Traum, der oft nicht in Erfüllung geht.
Leider wird der Begriff der Entschuldigung in der Erziehung immer wieder als Druckmittel verwendet. Eltern oder Erzieher fordern von einem der Kinder, dass es »sich entschuldigt«, und vom anderen Kind, dass diese Entschuldigung angenommen wird. Oft wird dann auch noch gefordert, dass die Kinder sich hinterher »vertragen sollen«. Hierbei kann es sich um ein erzieherisches Druckmittel handeln, das den Erwachsenen schnelle Ruhe verschaffen soll. Solche Situationen haben wenig mit Vergeben oder Versöhnen zu tun. Eine Entschuldigung ist also ein zwischenmenschlicher Prozess. Vergebung ist jedoch nicht von einer Entschuldigung abhängig (eine kurze Anleitung für eine sprachlich sinnvolle Bitte um Entschuldigung finden Sie im Kapitel 10).
Vergeben ist ein innerer Vorgang. Jemand, der verletzt oder geschädigt worden ist (das Opfer), entscheidet sich aus seinem eigenen freien Willen:
• auf jegliche Rache zu verzichten
• die Vergangenheit vergangen sein zu lassen
• sich der Gegenwart und Zukunft mit den jetzt bestehenden Möglichkeiten und Chancen zuzuwenden
• für den eigenen Weg in die Zukunft die Verantwortung zu übernehmen
• den Täter (so weit wie möglich) wieder als Menschen mit seinen individuellen Einschränkungen und Qualitäten zu betrachten Vergeben ist eine Möglichkeit, die Vergangenheit zu bewältigen und besser weiterleben zu können. Beim Vergeben wird nicht geleugnet, dass dem Opfer (zum Teil massiv) Unrecht geschehen ist.
Vergeben bedeutet auch nicht, auf angemessenen Ausgleich zu verzichten. So kann beispielsweise eine geschiedene Frau ihrem Exmann, der bisher die Unterhaltszahlungen verweigert hat, durchaus vergeben – ohne deswegen auf die gerichtliche Durchsetzung ihrer Ansprüche zu verzichten.
Dem Vergeben – als innerem Prozess – kann eine Versöhnung folgen. Eine Versöhnung ist ein zwischenmenschliches Geschehen. Zwei Personen schaffen nach einer Verletzung miteinander eine neue Beziehungsebene. Dabei ist die Beziehung meist dadurch verletzt, dass einer der beiden Täterin oder Täter wurde, die/der sein Opfer geschädigt hat. Häufig ist in solchen Situationen das Vergeben eine Vorbedingung für die Versöhnung. Auch eine Versöhnung bedeutet jedoch nicht zwingend eine anschließende Fortführung der Beziehung.
Dem Vergeben haften viele Irrtümer an. Um sich wirklich für einen Vergebensprozess zu entscheiden, ist es nützlich, diese Missverständnisse vorher auszuräumen. Vergeben bedeutet nicht:
• zu bagatellisieren, zu leugnen oder zu verdrängen, wie schwer der Schaden ist, den das Opfer erlitten hat
• das Unrecht hinzunehmen, passiv zu bleiben und Wiederholungen zuzulassen
• sich vertragen oder versöhnen oder wieder Kontakt haben zu müssen – ebenso wenig wie sich endgültig trennen zu müssen
• die Tat zu entschuldigen oder auf einen sinnvollen Ausgleich zu verzichten
• moralisch überlegen zu sein, weil die Täterin ja »so ist, wie sie ist«, und »nichts dafür kann« oder »nicht fähig ist, um Entschuldigung zu bitten«
• (sofort) keine negativen Gefühle gegenüber der Täterin zu haben
Auch ist Vergeben kein einforderbares Recht, auf das ein Täter oder eine Gruppe (zum Beispiel eine Familie oder ein Betrieb) in irgendeiner Weise einen Anspruch hätte. Vergeben ist immer die freie Entscheidung des Vergebenden! Aber warum kann das sinnvoll sein? Vergebung wird im Christentum – wie bereits gesagt – schon im Vaterunser »verlangt«. Wir verstehen das unter dem Aspekt, dass Jesus von sich sagt »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10,10).3 Vergeben lädt dazu ein, wieder mehr Fülle im Leben zu erfahren. Davon gehen wir in diesem Buch aus. Daraus ergibt sich die Frage: Stimmt das? – Was »bringt« mir das Vergeben?
Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen über die Auswirkung vom Vergeben für den Vergebenden.4 Sie zeigen viele positive Auswirkungen für dessen weiteres Leben:
• Verringerung von körperlichen Leiden (zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen, erhöhter Blutdruck, chronische Rückenschmerzen)
• Das Risiko eines Herzinfarktes nimmt ab.
• Selbstwert und Selbstwirksamkeit nehmen zu
• Der Vergebende erlebt deutlich mehr positive Gefühle und hat ein glücklicheres Leben.
• Die Fähigkeit zum Umgang mit negativen Gewohnheiten (Habits) wird verbessert.
• Der Vergebende ist nicht mehr so stark auf die Tat und die Täterin fokussiert; der Aufmerksamkeitsfokus weitet sich und die Wahrnehmung weitet sich.
• Das System (die Familie, der Betrieb …) des Vergebenden erfährt Entlastung. Niemand muss mehr »Position beziehen«, »neutral bleiben« oder »das Opfer schützen/verteidigen«. Dadurch können sich die Beziehungen im gesamten System verbessern.
• Die Beziehung zur Täterin kann sich gegebenenfalls verbessern.
• Der Vergebende verlässt die Opferrolle und übernimmt mehr Verantwortung und Kontrolle für sein Leben.
• Feindseligkeit, Ängstlichkeit und Depressivität können abnehmen.
• In Gruppen erhöht sich die Leistungsfähigkeit.
Es gibt also viele gute Gründe für das Vergeben.