Читать книгу Wenn dir das Leben in den Arsch tritt, nutze den Schwung - Anke Precht - Страница 16
Es tut weh – und zwar richtig
ОглавлениеWenn es nicht richtig wehtut, ist es keine Krise. Krisen bringen uns an die Grenze unserer emotionalen Belastbarkeit. Sie sind immer extrem schmerzhaft. Sie tun manchmal mehr weh als alles andere, was wir jemals erlebt haben.
Das ist auch der Grund, warum so viele Menschen bereit sind, fast alles zu tun, um Krisen zu vermeiden. Die psychologische Strategie, die dafür am häufigsten genutzt wird, ist die Verdrängung: Man macht sich so lange wie möglich vor, dass alles gut ist, bis es gar nicht mehr anders geht. Manchmal geht das so weit, dass man sogar das Offensichtlichste nicht sieht und sich einredet, dass das, was man sieht, nicht wahr sei. Dass man es sofort wieder vergisst und auch nicht nachforscht – ganz im Gegenteil. Oder dass man es zwar sieht, sich aber einredet, alles hätte einen ganz anderen Hintergrund – einen guten. So wägt man sich weiterhin in Sicherheit.
So habe ich Sabine kennengelernt. Sie kam zu mir in die Praxis, weil ihre Beziehung in einer Krise war. Eigentlich finde ich es in solchen Situationen immer besser, wenn beide Partner kommen, denn die Krise hat ja nicht einer allein. Aber ihr Mann wollte nicht, sagte Sabine. Aber sie wollte Rat. Ihr Wunsch war, so sagte sie, als sie mir gegenübersaß, eine Strategie zu entwickeln, damit ihr Mann wieder freundlicher zu ihr würde. Er wäre die letzten Monate nur giftig und abweisend ihr gegenüber und hätte Gespräche einfach abgebrochen, indem er aufgestanden und weggegangen sei. Sie würde sich gar nicht mehr trauen, mit ihm zu reden, aber gleichzeitig sei das doch wichtig, um wieder zusammenzufinden. Klar, das leuchtete mir auch ein. Warum er denn so komisch sei, wollte ich wissen. Doch was Sabine daraufhin erzählte, ergab überhaupt keinen Sinn. Sie hätten eine lange Beziehung, die schon immer schwierig gewesen wäre, weil ihr Mann zahlreiche Seitensprünge hatte. Die seien zwar schmerzhaft für sie gewesen, aber nie ernst. Er sei immer bei ihr geblieben. Jetzt hätte er gerade wieder eine andere Freundin, sie wüsste auch, wen. Und deshalb wäre er halt so viel weg. »Wie viel denn?«, fragte ich neugierig nach. »Manchmal tagelang«, sagte Sabine.
Nach und nach stellte sich heraus, dass ihr Mann bereits einen Anwalt mit der Scheidung beauftragt hatte, der Sabine auch schon geschrieben hatte. Außerdem hatte ihr Mann ihr mehrmals gesagt, er wolle sich trennen. Sie glaubte es ihm aber nicht. Sie wüsste, dass er in Wirklichkeit nur sie lieben und wiederkommen würde. Nur gerade könne sie die Situation nicht gut aushalten. Es wäre ihr also recht, wenn sie eine Möglichkeit fände, seine Rückkehr zu beschleunigen.
Wenn du das liest, geht es dir sicher genauso wie mir, als ich Sabines Geschichte gehört habe. Für mich war glasklar: Der kommt nicht wieder. Er hat sich getrennt. Die Beziehung, die sich Sabine einredet, gibt es gar nicht mehr. Seine Rückkehr existiert nur in ihrem Kopf. Sie macht sich etwas vor, obwohl die Realität eindeutig anders und sie wahrscheinlich die Einzige ist, die das noch nicht wahrhaben will.
Wahrscheinlich schüttelst du jetzt den Kopf und denkst: So was ist zwar krass, würde mir selbst aber niemals passieren. Das glaube ich. Du hast wahrscheinlich nicht den gleichen blinden Fleck wie Sabine. Ich bin aber ziemlich sicher, dass du irgendeinen anderen blinden Fleck hast. Warum ich das weiß? Weil wir immer genau dort blinde Flecken ausbilden, wo wir die größte Angst haben. Sabine war von ihrem Mann emotional so abhängig, dass die Erkenntnis, ihn verloren zu haben, so schlimm gewesen wäre (ein Megaarschtritt sozusagen), dass ihr leichter erschien, weiter zu leiden und die Erkenntnis häppchenweise durchsickern zu lassen. Sabine war der Meinung, dass sie ihren Mann brauchte. Sie dachte, dass ihre Welt ohne ihn zusammenbrechen würde. Also hat sie sich die Realität schöngeredet. Das tun wir ständig – du und ich auch. Unser Unterbewusstsein meint es nämlich manchmal zu gut mit uns, wenn es uns vor Schmerzen schützen möchte. Dann pinselt es die Welt einfach ein bisschen rosa an und wir können etwas länger in unserer Komfortzone bleiben. Bis uns die Welt früher oder später eben doch um die Ohren fliegt, so wie bei Sabine.
Es gibt viel mehr Menschen, als wir glauben, die jahrelang nicht mitbekommen, dass ihr Partner oder ihre Partnerin ein Doppelleben führt. Nicht, weil es keine Hinweise dafür gäbe – die gibt es immer. Sondern weil sie diese übersehen und ihr Unbewusstes sie mit allen Mitteln vor der schmerzhaften Wahrheit (und den vielleicht notwendigen Erkenntnissen und Konsequenzen) zu beschützen versucht. Das geht manchmal sogar so weit, dass der Kontakt zu warnenden Freunden abgebrochen wird, bevor diese zu überzeugend werden und das mit Mühe verteidigte rosa Weltbild ins Wanken bringen.
Andere merken lange nicht, dass sie weit über ihre Verhältnisse leben. Sie finden immer wieder neue Möglichkeiten, sich selbst und den Menschen in ihrer Umgebung vorzumachen, dass alles im grünen Bereich sei, obwohl sie ihre Schulden schon lange nicht mehr zurückzahlen. Sogar Unternehmern geht es manchmal so. Sie merken nicht, dass ihr Unternehmen eigentlich schon pleite ist, und machen sich vor, dass die entscheidende Wende in ganz kurzer Zeit eintritt. Und wenn du schon mal in einem Casino warst, hast du viele Menschen gesehen, die dort ihr letztes Hab und Gut verspielen und fest daran glauben, dass sie trotzdem zu den wenigen Glücklichen gehören, die das Casino mit einer Tasche voll Geld verlassen werden.
Arbeitnehmer machen sich jahrelang vor, im richtigen Job zu sein, bis sie eines Tages hochkant rausfliegen, damit das Unternehmen noch ein bisschen rentabler wird. Auch sie hätten früher merken können, wo sie arbeiten, weil es schon einigen Kollegen vor ihnen so gegangen ist. Anstatt sich zu solidarisieren, haben sie sich aber zum Selbstschutz vorgemacht, dass das sicher an den Kollegen lag. Dass die nicht ganz so gut gearbeitet haben wie sie selbst und ihnen daher niemals dasselbe passieren könnte. Pech gehabt.
Auch Süchtige sind Weltmeister darin, sich ihre Welt rosa zu malen. Selten sehen sie die Konsequenzen ihres Verhaltens so klar, wie sie es sind. Das ist der Grund, warum viele den Punkt verpassen, an dem sie das Rad noch zurückdrehen könnten.
Und dann gibt es noch diejenigen Menschen, die Zeichen einer körperlichen Schwäche oder Krankheit lange übersehen. Obwohl etwas im Körper schon richtig Ärger macht oder wehtut, handeln sie nicht.
Die Liste lässt sich schier unendlich fortsetzen. Verdrängung ist unser tägliches Schutzschild gegen die Brutalitäten des Lebens, die wir nicht sehen wollen.
Wenn Verdrängung nicht mehr funktioniert, versucht manch einer, sich anbahnende Krisen mit Gewalt zu verhindern: Man spürt dann, dass man die Kontrolle verliert oder die Dinge sich nicht wie gewollt entwickeln, und versucht sie daraufhin zu erzwingen – durch Drohungen, Druck, Erpressung (auch moralische) oder körperliche Gewalt. In den schlimmsten Fällen hören oder lesen wir davon als »Familientragödie« in den Medien.
Es liegt auf der Hand, dass weder Verdrängung noch Gewalt langfristig erfolgreich sind. Früher oder später kommt die Wahrheit ans Licht, das Kartenhaus fällt in sich zusammen und es ist nichts mehr da, was man kontrollieren könnte. Je später das passiert, umso schmerzhafter und weitreichender ist auch die Krise. Manchmal ist sie definitiv.