Читать книгу Wenn dir das Leben in den Arsch tritt, nutze den Schwung - Anke Precht - Страница 8
KENNST DU EINEN STARKEN MENSCHEN, DER EIN EINFACHES LEBEN HATTE?
ОглавлениеIn meinen jungen Jahren habe ich Bücher über positives Denken geradezu verschlungen – auch noch während meines Studiums. Die Aussicht, mit der Kraft meiner Gedanken genau das Leben zu erreichen, das ich mir wünsche, hat mich beflügelt und ich habe viel Zeit dafür verwendet, auf meine Gedanken zu achten. Ich habe meine Ziele aufgeschrieben, positive Affirmationen gesprochen, mich mithilfe von Visualisierungen in eine fantastische Zukunft geträumt und fest daran geglaubt, dass ich mein Schicksal damit selbst in der Hand habe. Unzählige Autoren haben das versprochen und bestätigt. Absolut glaubhaft. Sie berichteten von zahlreichen Beispielen, die das zu beweisen scheinen. Sie hatten ihren Traumpartner oder ihre Traumpartnerin gefunden, entzückende Zwillinge geboren, waren reich geworden und erfolgreich und wurden von allen geliebt. Wer möchte das nicht? Da wäre man ja schön blöd, wenn man nicht mitmachen würde, und am Ende wäre man selbst schuld, wenn man ein klägliches Leben führt. Falsch gedacht heißt schon verloren. Wer dagegen richtig denkt, dem geht es gut.
Zwischen damals und heute liegen inzwischen ein paar Jahrzehnte. Ich habe schmerzhaft gelernt, dass dem Leben leider oft vollkommen egal ist, was ich mir wünsche. Viele der Autoren, die damals über die Macht der Gedanken geschrieben haben, sind heute tot, verunglückt oder an Krebs gestorben und ein Teil der entzückenden Kinder hat einen wenig erfreulichen Weg eingeschlagen. Mir ist klar geworden: Mit der Überzeugung, das Leben sei steuerbar, durch Planung oder positives Denken, sind leider die meisten an die Wand gefahren. In den 1990er-Jahren war einer der häufigsten Sätze, die man sich gegenseitig sagte: »Sieh es doch positiv!« Ich habe gehört, es gibt Leute, die sagen das heute immer noch. Was beweist, dass die Menschheit nur langsam lernt.
In meinem Job habe ich inzwischen viele Menschen kennengelernt, die überhaupt kein Glück hatten und immer wieder vom Leben oder in Vertretung von ihren Mitmenschen immer dann in den Arsch getreten wurden, wenn sie es am wenigsten gebraucht haben und am verletzlichsten waren. Nicht wenige von ihnen haben bis dahin an das positive Denken geglaubt und es fleißig praktiziert. Manche haben sich sogar selbst die schrecklichsten Vorwürfe gemacht, weil sie sicher waren, beim Denken eben doch nicht positiv genug gewesen zu sein und damit das Unglück heraufbeschworen zu haben. Und nicht wenige haben versucht, aus der Krise zu kommen, indem sie noch mehr Zeit und Energie in das positive Denken gesteckt haben als bisher. In der Regel ohne Erfolg – sonst wären sie ja nicht früher oder später zu mir in die Praxis gekommen.
Die Überzeugung, positives Denken könne uns auf die Sonnenseite des Lebens beamen und uns vor allen Stürmen bewahren, ist ein klassisches Beispiel dafür, wie wir uns selbst in die Tasche lügen. Daran ist nichts Verwerfliches: Wir lügen uns ständig selbst in die Tasche. Das ist zutiefst menschlich. Wir machen uns vor, der neue Partner, die neue Partnerin sei perfekt, treu und liebenswert und würde uns für immer glücklich machen. Bis der Taumel der ersten Monate vorbei ist und wir bemerken, dass er/sie eben auch ein ganz normaler Mensch ist mit wundervollen Seiten, aber auch mit solchen, die uns zur Weißglut treiben. Ich habe diese Story trotzdem jedes Mal von Neuem geglaubt, wenn ich mich verliebt habe. Der jeweils aktuelle Mann war genau jener, auf den ich schon immer gewartet habe, und ich war überzeugt, dass die Zeit der Tränen für immer vorbei wäre. Und sage jetzt nicht, das wäre dir noch nie passiert.
Vielleicht merkst du, dass sich bei dir Widerstand regt, wenn du das liest. Das ist normal. Es zeigt, dass du zu deinen Überzeugungen stehst und sie nicht einfach über den Haufen wirfst. Außerdem ist es kurzfristig eine gesunde Reaktion deiner Psyche. Sie schützt dich vor unangenehmen Gefühlen. Das ist einer ihrer Aufgaben. Dass sie damit kurzfristig erfolgreich ist, reicht ihr in der Regel. Langfristige Schäden nimmt sie dafür manchmal in Kauf. Und es gibt gute Gründe dafür. Denn die Vorstellung, dass das Leben unberechenbar ist und uns früher oder später der nächste kräftige Arschtritt bevorsteht, macht Angst. Viel Angst sogar! Angst aber ist ein sehr unangenehmes Gefühl und genau deshalb tun wir eine Menge, um sie zu vermeiden. Wir lügen uns zum Beispiel selbst in die Tasche und alle um uns herum belügen wir gleich mit.
Es ist also in Ordnung, wenn du nicht gerade riesige Lust spürst, dich mit den fiesen Seiten des Lebens zu versöhnen. Trotzdem hast du genau diese Seiten sicher schon einige Male erlebt. Und wirst sie noch öfter erleben. Ich wünsche es dir nicht, ich weiß nur: Es wird passieren.
Wie kann ich mir so sicher sein? Nimm dir einen Moment Zeit, das Leben als Ganzes zu betrachten. Von Beginn an, als du als hilfloses Bündelchen Mensch auf die Welt gekommen bist. Ich weiß nicht, ob deine Familie diejenige ist oder war, die du dir auch freiwillig ausgesucht hättest – jedenfalls ist oder war es die, die du hast/hattest, und du hast gelernt, mit ihr auszukommen. Möglichst gut. Wahrscheinlich hast du schon in deiner Kindheit die ersten Schrammen abbekommen und vielleicht sind sie noch nicht alle geheilt. Niemand verdient das, aber es ist so. Es ist der Preis des Lebens.
Nun bist du mehr oder weniger selbstständig und stehst auf eigenen Beinen. Du lebst dein Leben, so gut es geht. Du hast dir Menschen gesucht, die dir wichtig sind. Vielleicht hast du Kinder, einen Partner oder eine Partnerin, vielleicht auch verschiedene, ich weiß es nicht. Du versuchst, mit dem Leben klarzukommen, und genau das ist richtig. Vielleicht sehnst du dich manchmal nach einer Zeit, die noch besser ist als die aktuelle. Vielleicht hast du es gerade schwer, vielleicht hast du sogar gerade einen Arschtritt abbekommen und wünschst dir nichts sehnlicher, als dein Leben mit jemandem zu tauschen, der mehr Glück hat als du. Wenn du aber nach vorne schaust, in die Zukunft, die nahe, in der du Neues erleben wirst, aber auch in die ferne Zukunft, dann weißt du: Auch wenn du es im Alltag sicher meistens verdrängst, wie fast jeder das macht, wirst du eines Tages nicht mehr da sein. Dann wirst du alles und jeden verloren haben, der dir am Herzen liegt. Entweder weil du diese Dinge oder diese Menschen verlieren wirst, während du lebst – oder weil du gehst und deine Liebsten noch da sind. Das Einzige, was im Leben sicher ist, in deinem und in meinem, ist, dass wir alles verlieren, was uns wichtig ist. Früher oder später. Ist es dann nicht eigentlich albern, dass wir uns ständig vormachen, genau das verhindern zu können? Und uns deswegen jahre-, womöglich jahrzehntelang mit positivem Denken und anderem zu beschäftigen, um eine sorgenfreie Zukunft zu haben? Wäre es dann nicht besser, das Leben so zu nehmen und manchmal auch zu genießen, wie es ist? Und zwar genau jetzt? Mit allen Ecken und Kanten, Katastrophen und Unzulänglichkeiten?