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I. Ein Fleckchen Erde
ОглавлениеSchwarzviolette Wolken, aus denen sich das Gewitter zwischen Flussauen und Gartlberghöhe entlud, so dass die von Wehrmauern umschlossene Altstadt unter Wasser stand. Dann war es vorbei. Die Abflüsse funktionierten wieder, die Temperatur sank auf ein erträgliches Maß. Er hatte Lust, noch zu seiner Freundin aufs Land zu fahren. Er wurde erwartet wie er zu jeder Stunde willkommen war in einer Welt blühender Wiesen, der Kühe und Katzen und der Küchenkräuter auf dem Fensterbrett eines Anwesens aus dem späten neunzehnten Jahrhundert. Ein fruchtbares Fleckchen Erde fernab der Tagesaktualitäten – seinen zumindest im Bereich der Universität, der Cafés, Abstechern nach Prag oder Wien - in einer auch geologisch beruhigten Epoche. Lang her, dass sich infolge kontinentaler Verschiebungen die Alpen auffalteten. Noch früher brandete ein Binnenmeer an böhmische Gestade, zog sich zurück, kehrte wieder und spülte Muscheln und andere Sedimente in die mit der ersten Flut entstandenen Spalten und Kavernen. Kreideablagerungen setzten die Hohlräume dem Druck des Erdinnern aus, bis – zu seiner und ihrer Zeit - Tiefenbohrungen die bis zu siebzig Grad heißen mineralhaltigen Quellen Heilzwecken nutzbar machten. Schon die Römer badeten in schwefelhaltigen Dämpfen. Der Passauer Domherr lud im Jahr 1274 Zisterzienser Mönche ein, die Sümpfe trocken zu legen, um Besiedelung und Kirchengründungen zu ermöglichen. Gotik, Barock, von Künstlerhand gestaltet, für seine Gefährtin ein Anlaufpunkt, gesicherter als alles andere. Er begleitete sie einzig, sollte sein Fernbleiben den guten Ton verletzen.
So wenig wie zu Ritterspiel und Laientheater im tradierten Gewand. Er wog den Wagenschlüssel in der Hand, warf ihn in die Schublade zurück. Stattdessen strebte er dem Lichtschein über dem Eingang einer Kellerkneipe zu. Er würde die Frau, um die es ihm ging, nachher anrufen, wie meistens zur Nacht. Ihr sei zumute, hatte sie ihm gestanden, als empfange sie einen Durchreisenden, der sich zu ihr legte, um in der Fremde nicht allein schlafen zu müssen. Auch er werde weiterziehen. Kein Vorwurf. Sie habe ihn so wenig hergeben, nie mehr hergeben wollen wie er nicht von ihr lassen. Sobald sie in der Morgenfrühe in den Hof hinaustrat, sandte sie ihm einen heimlichen Gruß, indem sie den altersgebräunten Balken über der Küchentür berührte, unter dem er stets den Kopf einzog. Sie kannten sich nun bald ein Jahr. Der Pfarrer mahnte, Kraft und Würde des Segens nicht zu übersehen. Schau auf den Mondkalender, empfahl eine Verwandte, die erfahren hatte wie es ist, nachsichtig und zu guter letzt vergeblich zu lieben. Wie stand der Mond, als du selbst gezeugt wurdest? Mit Hilfe ihrer Mutter hätte sie es vielleicht ausrechnen können, die jedoch der Auffassung war, ein Kind entscheide allein über die Wahl seiner Eltern. Mit anderen Worten: Dein Geliebter macht sich keine Vorstellung, was es bedeutet, miteinander durch dick und dünn zu gehen.
Der Wirt stellte ein Gläschen Weizenkorn zum Bier. Sie wussten um den Zwiespalt, die mit ihm am Schanktisch beisammen saßen. Hätte ein Philosoph unter den Gästen nachgehakt – es gab keinen, nicht in diesem alteingeführten Barbetrieb unter Kumpeln, Geschäftsleuten, auch der Bürgermeister schaute herein – weshalb, hör mal, eine Frau, ein Studienfach (die Rhythmen der Mikroenergetik), beide bedrängen sie deine Eigendynamik. Du warst doch sonst oft weg, warst wieder einmal verschwunden, unauffindbar, weil du dein mobiles Telefon nicht aktualisiert hattest, sieh zu, dass du dich ins Eis nach Spitzbergen einschiffst…, er wäre die Entgegnung nicht schuldig geblieben. Es handele sich, genau genommen, um kaum mehr als die Gewandtheit, mit der sich sein Schritt den Trottoir zu Eigen machte. Leichtfüßig, bedenkenlos. Kein Problem für ihn, bei nächster Gelegenheit die Universität zu wechseln, das Land, die Kultur. Er hatte, worauf er sich berief, ihr gegenüber – sofern sie allein waren – zu benennen versucht. Es sei ja nur gerecht, wenn sie sich an Gott wandte um Beistand in misslicher Lage und wo wäre der Hof ohne ihren Mut, ihr Durchhaltevermögen. Doch, so sei es um ihn bestellt, wer wollte Bewusstseinsschwingungen auf anderen Wellenlängen nicht als gedankliche Erweiterung berücksichtigen, wen betörten nicht die schier unglaublichen farbigen Kreationen der Gefiederten im Regenwald…, im Dschungel, ohne Zweifel, war jedes Verhängnis gerechtfertigt, alles drängte nach Leben und so gingen sie es ein, der Wildkatzen, der Schlangen gewärtig. Er hätte nicht sagen können, wo seine Hand lieber wäre, an ihrer Schulter oder am Ruder eines schmalen Boots in unbekanntem Gewässer, sofern, sagte sie, du auch dann noch um mich weißt. Sein derzeitiger Unterschlupf unweit des Institut war als luxuriös zu bezeichnen, eine Villa der Gründerzeit, die Zimmer unter stuckverzierten hohen Decken durch Schiebetüren miteinander verbunden. Die Besitzer waren nach Alaska verreist. Seine Freundin war nur einmal hier gewesen. Erleichtert kehrte sie unter die schweren Holzdecken des heimatlichen Hofes zurück, zog ihn mit sich, er musste sie heimfahren, sie blieb nicht mal über Nacht.
Er wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von den Lippen. Kippte das Schnäpschen hinunter. Eine Ausflucht blieb ihnen, die scheinbar Takt und Gefühl missachtete: dass er sich davonmachte, sie ein letztes Mal in den Armen hielt und niemals wiederkehrte. Keine Ahnung, wie er die Stunden danach – und sollte er ans Ende der Welt reisen – überstehen sollte, sie wäre mit jedem Atemzug in seinen Gedanken. Er würde ihr schreiben, sich bei seinem Vater den Füllfederhalter ausleihen. Sie schätzte die Form (wie gut sie sich doch kannten). Er würde die Worte finden und während sie seine Zeilen las, würde sie um ihn wissen, jeder Buchstabe die Kasteiung einer Liebe, wie sie nicht jedem Leben geschenkt ist. Sie würde ihm den Abschied nachsehen, in der Qual ihrer Tränen, sie war stärker als er, er konnte sich glücklich schätzen. Sein angenehmes Äußeres war das eines Mannes, der erst noch auf die besten Jahre zugeht, sein Bild würde sie, während sie beide alterten, bis in ihre letzten Tage begleiten. Sie würde ihn suchen, in ihrem Herzen, wohin es ihn auch verschlug. Sie hatte es ihm gesagt, dass sie beide leidenschaftlich genug seien, um der Gnade ihrer Nächte ein ewiges Band zu knüpfen, einerlei, wohin er sich ihr entzog, wer am Ende mit ihr Nachkommen zeugte, die Hofwirtschaft voranbrachte. Zuletzt bin ich nur noch ein Schatten für sie, dachte er, sie wird vergessen, weil die in Schweiß gebadeten Stunden zwischen Morgenröte und Sonnenuntergang auf dem Land vergessen machen. Die Welt erneuert sich im Wiesenduft und an der Seite eines Mannes, der auf stramme Waden achtet.
Hübsch, gescheit, gesundes Hoferbe, er hörte es nicht zum ersten Mal. Eine fürstliche Hochzeit werde man ihnen ausrichten, sei es, wie es sei, sie könnten nicht mehr länger warten. Die in Stuck gefassten, farbenfrohen Deckenfresken der einstigen Wallfahrtskirche am Gartlberg waren den zwölf Glaubensartikeln gewidmet, das in Rosatönungen gemalte lebensvolle Altarbild Christi Auferstehung. Heiterer Barock, mit Anklängen an das Rokoko. Es bewegte ihn, so selten er hier eintrat, eine in tristes Grau gehüllte alte Frau im Gestühl vorzufinden. Er war wiedergekehrt, um sich zu vergewissern, dass es sie noch gab. Dass sie weder sich selbst noch denen, die zusahen, wie sie verdorrte, abhanden gekommen war. Da saß sie, in sich gekehrt, schmal der gebeugte Nacken, der sich aus den Mantelschultern hob, das ausgedünnte weiße Haar war nach altem Brauch mit einem violetten Samtbändchen in Form gehalten. Er wusste wohl, in zurückliegenden Zeiten – im Südosten Bayerns, vielleicht auch anderswo – war zu hören, den Fleiß der Frau kannst du ersetzen, ein gestraucheltes Ross kommt dich teuer zu stehen. Manche aber gehen unbemerkt, und wer weiß, ob nicht sie für den verstorbenen Gatten oder für Kinder und Enkel betete, damit sich ihr Schicksal erfüllte, wenn sie selbst fruchtbaren Boden zurücklassen musste.
Er war siebenundzwanzig Jahre alt, gewandt im Umgang, gut aussehend und ein freier Mann, noch konnte er sich darauf berufen.
Vorderhand sahen ihre Leute es ihm nach, ob sein Wagen über das Wochenende im Hof geparkt stand oder auch nicht. Institutstermine, den Doktortitel der theoretischen Physik – was immer darunter zu verstehen war - im Visier, so die Verlautbarung den Dörflern gegenüber. Die Familie dachte weiter. Wäre die Verbindung erst gesegnet, würde die Erwählte für ihn einstehen, in welchen Abgründen er ihr auch verloren zu gehen drohte. Sie glaubten, den Wesenszug einer längst überwundenen Epoche wieder zu erkennen, als der Adel in steter Rivalität mit den geistlichen Herren das Sagen hatte. Seine Melancholie war ja nicht ohne Feinsinn. Zur richtigen Stunde in geeigneter Gesellschaft konnte er bezaubern. Ein Freidenker, ein Ungetaufter. Das Gatter zur Weide übersprang er mit einem Satz, um sich in den Wildwuchs zu werfen, eben bevor die Stunde der Mahd gekommen war. Einer aus der Stadt. Die Tochter mochte von ihm nicht lassen.
Was er nur einmal ihr gegenüber erwähnt hatte, war ein Reflex, eine mehr als überzogene Idee, ein Fluchtinstinkt nach schlaflosen Nachtstunden überkam. Wie wäre es, im Netzwerk unterschiedlich strukturierten Bewusstseins – allerdings im Kosmos gefangen, ohne psychische Individualität vermutlich – dem Schicksal eines aus Sternenstaub hervorgegangenen, von Gaswolken getriebenen jungen Planeten zu nachzuspüren. Ein Sternentod brachte eine Fülle neuer Sterne hervor. Zum Beispiel in der fünfunddreißig Millionen Lichtjahre entfernten Spiegelgalaxie im Sternbild Fische oder im Skorpion, einer ausgesprochen abwechslungsreichen Himmelsgegend.
- Ich weiß, lachte sie und schmiegte das Gesicht an seinen Hals, manche ordnen das Staatswesen, treiben Handel, bestellen den Acker. Du willst den Himmel gleich. Wie soll er sich ereignen, ohne von Kummer, Reue, Zärtlichkeit zu wissen?
Niemand hier erfasste seine unstillbare Sehnsucht nach immer noch weiter ausgesteckten Horizonten. Er war in Kunstgalerien intensiver bei sich selbst als bei ihr oder sonst irgendwo. Die Unruhe blieb ihm, er drehte sich, die Hände in den Hosentaschen, auf dem Absatz um, eine weich abrollende Bewegung, aus der sich keine andere Zukunft ableiten ließ als in einer Bar zu verschwinden oder gleich zu ihr hinauszufahren. Sie lud ihn ein, am Sonntagnachmittag, das Haus geputzt, die Tiere versorgt, einen Höhenzug hinauf zu wandern, von dessen besonnter Seite im Tal die bäuerliche Heimstatt sichtbar wurde. Ein stattlicher Hof, durch dessen Torbogen man zur Wagenremise, den Nebengebäuden und dem Wohntrakt gelangte, nach alter Sitte mit Figuren und gedrechselten Stützen verziert die umlaufenden Balkone. Die vorgezogene Dachkonstruktion bot zwei Stockwerken Schutz. Drinnen, unter der Balkendecke der Stube mitsamt Herd und Essbereich im Angesicht des sorgfältig geschnitzten Gekreuzigten im Herrgottswinkel freilich wurde es ihm zu eng. Obwohl Platz genug für alle war. Für Nachbarn oder auch für Urlauber, ein Teilbereich des Anwesens wurde als Sommerfrische vermietet. Er blickte auf sie, die neben ihm herging, die weiße Bluse mit den Puffärmeln und Spitzenbündchen von einem hoch angesetzten Mieder geschnürt, er schaute ihr in das liebreizende Antlitz, die kohlschwarzen Augen. Die weiße Haut, die sie, mit Ausnahme des Gesichts, der Arme und der Waden, kaum dem Sonnenlicht aussetzte. Er war ständig versucht, sie zu berühren.
- Man wächst aufeinander zu, vor allem in der Vernunftehe, die einzige, die wir miteinander begründen könnten, versuchte sie es mit einem Argument, das ihr Vater bei Tisch aufgebracht hatte. - Klingt wie ein Umkehrschluss, wahr ist, ich wollte immer etwas riskieren, um vor all den Hierarchien zu bestehen.
- Das glaubst du doch selbst nicht!
Er zog einen Halm aus dem Erdreich und wusste, dass sie das nicht schätzte, auch er störte ungern die Dynamik, wenn er ihn jetzt zerrupfte. Er habe niemals ein Gelöbnis im Sinn gehabt. Nicht sein Stil, sich Kreativität, Liebe, Verantwortung per Unterschrift zu stellen. Ein Zeitvertrag an der Uni kam ihm gerade recht. Er begriff nicht oder wollte nicht verstehen, welche Rolle ihm bei ihren Verwandten, vor allem bei ihrer Mutter zukam, sobald neben ihr am Tisch der Bräutigam ihrer Tochter saß, ein wohl Gebildeter, ein Höflicher, eine fast körperliche Intimität würde sich einstellen, ein Anmutung von Glück und Freiheit inmitten von landschaftsgebundener Fruchtbarkeit und Weite. Was ihn anging, so würde er allerdings nicht mehr leichten Schrittes in die Nacht treten, eben noch in ihren Armen. So aber konnte es geschehen, dass er sich in Wut redete, was er niemals vorgehabt hatte, schroff warf er ihr vor, einander zu tragen, zu beschützen, dazu bedürfe es weder Fixierung noch Unterwerfung. Ja, so weit ging er, Unterwerfung ins Kalkül zu bringen. Er sagte nicht, Demut. Gnade. Da konnte sie nicht an sich halten, ihn zu erinnern, dass überkommene Hierarchien keine leeren Wertvorstellungen seien. Dass die Begriffswelt der Vorfahren hintan zu stellen, ihr Skrupel bereite. Auf dem Hof inmitten der Tiere, des duftenden Heus erneuere sich das Leben von Tag zu Tag im Einvernehmen mit, ja, denen, die den Besitz durch Krieg und Elend erhielten, Urgroßeltern, Großeltern, den verzweigten Schicksalen der Nachkommen, sie fände keine gültigere Weisheit. Dankbarkeit und ein Gebet, um ruhig in die Nacht zu gehen. Nur so lasse sich ein Unwetter hinnehmen, das einen Teil der Ernte vernichten könne. Bei Blitz und Sturmböen und über die Ufer tretenden Bächen, ein Ausbruch, den sie aber doch eigentlich liebe, der ihr Herz höher schlagen lasse, in seiner Urgewalt. Umsturz und Neubeginn. Wer wollte nicht im Frühlicht des jungen Morgens, und sei der Schaden erheblich, tief atmen, sie zumindest, nicht anders wollte sie die Welt. Selbst das Altern flöße ihr keinen Schrecken ein.
- Du siehst, auch das auf ein Glaubensbekenntnis Gegründete kann zum Abenteuer werden, sagte sie, ruhiger geworden, wir sind hier, um uns zu bewähren, und ebenso sehr, so Gott will, für eine Begebenheit, wie sie nur das Erdenleben verheißt.
– Mit der Weihe des Rituals. Das ist sehr weiblich empfunden und vielleicht, um der Fruchtbarkeit hügelauf, hügelab zu entsprechen. Für mich wäre es… eine weitere Liebeserklärung. Nicht mehr und nicht weniger. Wie aber können wir dem Leben vorgreifen?
- Sie sollen es alle wissen, dass über diese Verbindung der Segen gesprochen wurde.
Das Ansehen ihrer Familie reichte, soweit sie zurückdenken konnte, über die Dorfgemeinschaft hinaus. Sich politisch einzulassen, galt als Selbstverständnis, niemand glaubte sich berechtigt, keinem wäre damit gedient, einzig um die eigenen Belange zu kreisen. Philosophie? Sakra, wozu! Keiner bedrängte ihn, bis jetzt, auch ihr Vater nicht, und es gab achtbare Bewerber. Die junge Frau in ihrer bodenständigen Scheu sah nur einen Ausweg, einen Schlüssel, den einzig unbestechlichen, sie wandte sich an den Herrn Pfarrer um Rat.
Der abendliche Termin im Haus des Kirchenmannes war rasch vereinbart. Statt ihn aber zu unterweisen, nutzten der Seelenhirt und der Physiker – Forschungsschwerpunkt die ersten Sekundenbruchteile nach dem Urknall und was ihn ausgelöst haben mochte – das Beisammensein im Schein einer tief über den Tisch herab gezogenen Lampe, um ihre Geisteshaltung abzugleichen. Der Pfarrer bot ein Gläschen Portwein, im Lauf der Nacht auch Whiskey an. Jetzt oder nie, vielleicht gelangten sie beide miteinander zu einem Fünkchen Wahrheit. Der Morgen graute, als der Jüngere auf die Straße trat. Sicher, auch die Heirat war zur Sprache gekommen. Dem Mann ihm gegenüber im blanken Ledersessel - korrekter schwarzer Anzug, was nicht Not getan hätte - ging es um anderes. Die Braut, heute Nacht, mit Verlaub konnte warten.
- Sie verstehen, insistierte der Geistliche, bei allen Pflichten des Amtes, ein Mann in meiner Lage kommt um den philosophischen Ansatz nicht herum. Das Paulische Ausschließungsprinzip habe ihn interessiert, das – physikalisch ausgedrückt – keine zwei absolut identische Teilchen am gleichen Standort erlaube, vermutlich, weil der Symmetrie der Lebensimpuls abgehe. Im Wasserstoff-Atom etwa könne sich kein Elektron einen Zahlenkomplex zulegen, den bereits ein anderes Elektron innehabe. Mindestens in einer der vier Quantenzahlen müssten sie sich unterscheiden. Man könnte nun behaupten, das Elektron sei, im mathematischen Sinn, nichts als der Schatten einer Zahl. Aber, und darum gehe es ihm, trete denn da nicht ein erster Anflug, eine früheste Auseinandersetzung um Macht zutage?
Sein Besucher schwieg.
- Die Frequenz des Felsens - jene Steinansammlung auf der Anhöhe, mit der Ihre Gefährtin vertraut ist - hat sie Ihnen verraten, dass sich der Fels ihr zuweilen mitteilt? Vielleicht spricht sie Ihnen gegenüber von Naturgeistern, an die sie glaubt oder nicht, aber eigentlich hat sie Ihre Theorie von der rhythmischen Energetik in der Hyperfeinstruktur wohl in sich bewahrt. Ihr geht es allerdings nicht um die Hyperfeinstruktur, sondern um ein Zartgefühl, sie nimmt, was da ist oder nicht ist, als Impuls wahr, der ihrem Herannahen liebevoll geöffnet ist. Sobald sie ihm nachgeben will, wird der Eindruck unklar, verschwindet. Ich würde von Systemen sprechen, die den Zeitfluss anders interpretieren, viel mehr Ereignisdichte darin konzentrieren.
- Wer weiß! Das Beichtgeheimnis?
- Ansonsten?
- Ich darf mal etwas ausholen. Der Trunk, den Sie uns kredenzt haben, befördert das Gedächtnis. Der andalusische Philosoph und Mystiker Ibn al ´Arabi im dreizehnten Jahrhundert, eine geistig fruchtbare Periode, soll sich in eine schöne, gebildete Perserin verliebt haben. Persien, das hat Klang, nicht wahr? Im Norden Teherans sah ich gemalte Rosen eine Außentreppe von der Straße hinauf zu einem Häuserensemble zieren. Der Aufgang bedient sieben Geschosse. Sieben Bilder oder Schönheiten, dieses Symbol liegt auch Nizamis Epos Haft Paykar zugrunde. Die Rosenblüte in ihrem Aufbau hält dem Einbruch lange stand.
- Welchen Vers haben Sie im Sinn, die Philosophie betreffend?
- Mit jener von Ibn al’ Arabi verehrten Frau – nicht seine einzige Lehrerin - hat er den Gedanken der sehnsüchtigen Gottesnamen entwickelt, die sich, in den Tiefen des göttlichen Wesens noch nicht aktualisiert, nach Manifestation sehnen. Diese Metapher trifft ziemlich genau den Kern der wissenschaftlichen Herangehensweise. Heute! Wir haben die Idee des Urknalls formuliert und die damit einhergehenden Phänomene, die Zeit und Raum in zunächst verschlungener Weise in Gang setzten. Als das Nichtsein in die Existenz tanzte, wie Rumi es ausdrückt. Der Intellekt unserer Epoche untersucht hoch komplexe, vielschichtig vernetzte Verbindungen, die in mehreren - zunächst sehr kurzlebigen - Phasenübergängen jenen Triumph herbeiführten.
- Das Herz der Dinge, Sie sagen es. Einerseits möchten Sie diese Frau nicht aufgeben. Andererseits Ihre Unabhängigkeit bewahren. Ein Dorf nimmt an dem Zwiespalt Anteil. Ihre Geliebte verteidigt eine Romanze. Was kann sie tun? Gehen Sie fort von hier, junger Mann oder erfüllen Sie ihr den unerhörten Traum, der in ihr bohrt. Einmal möchte sie Herkunft und Tradition, so sehr sie von ihnen geprägt ist, aufs Spiel zu setzen, um teilzuhaben an Ihren, ja Leichtfertigkeiten, dem intellektuellen Begehren, freilich nicht ohne den kirchlichen Segen. Ganz ohne Halt also nicht. Könnten Sie sich vorstellen, in einem gewissen Ausmaß ihr Leben auf dem Land zu teilen? Wo es immer reichlich zu tun gibt, die Sorgen existenzieller Art sind? So dass ein Gebet nicht abwegig erscheint, letztlich als Bedürfnis, die Last nicht allein zu tragen.
Die Replik kam nicht ohne Feuer.
– Der Hof? ich gesteh es ein, ich verliere die Geduld. Ich möchte dorthin, wo geschmeidig gedacht, um Nuancen spekuliert wird, wo Ideen wandelbar sind. Sicher, wird ein Kälbchen geboren, wen berührte das nicht. Ihre Aufregung, ihre Ruhe, ich muss dann bei ihr sein. Gerade so lange, bis das neue Leben ins Heu gebettet vom Muttertier versorgt wird. Und keinen Wimpernschlag länger.
- Jene kurze ungeordnete Position, in der wir alles ergreifen und alles verschmähen können. Glauben Sie mir, Gott hat Teil an unseren Gefühlsstimmungen und zerbrochenen Gelegenheiten! Man möchte behaupten, in dieser Hinsicht überlagert das materielle Universum eine Ausdehnung der Inspiration oder ein Bewusstsein, in dem es seinen Ursprung hat. Wenn Sie schon, zu Ihrer Rechtfertigung? die Dichter des dreizehnten Jahrhunderts in Persien heranziehen, Djalaluddin Rumi sagte es so, freier Wille sei die Bemühung, Gott für seine Wohltat zu danken.
- Wissen Sie, dass ich diese Frau liebe? Obwohl sie mich um den Verstand bringt! Sie repräsentiert bereits jetzt, in ihren mittleren Zwanzigern, alles, was sie jemals sein könnte. Ich würde ihr das gerne austreiben, aber so ist sie. Das Quantenvakuum – sprachen wir davon? – schier unendlich dimensioniert und angefüllt mit virtuellen Teilchen, die auf Existenz warten, um im Netzwerk der Wechselbeziehungen Präsenz zu gewinnen, wer wollte behaupten, dass dem Vorgang Bewusstsein abgeht? Bewusstsein inszeniert sich vielfältig. Der Verstand bezieht sich auf einen Bruchteil, eine Nuance. Die virtuellen Teilchen tauchen empor und geben die Bindung auf, um in Strahlung überzugehen. Jeder darüber hinausgehende Aufbruch erweitert das Feld des Möglichen. Die positive Energie der Materie kann, wie man heute weiß, gerade eben durch die negative des allgegenwärtigen Gravitationsfeldes aufgehoben werden. So dass die Gesamtenergie des Universums potentiell bei Null liegt und doch sprühen wir vor Leben. Halten wir uns an die Unschärferelation, wie sie die Quantentheorie nahe legt, könnte – und da sind wir beim ersten Schöpfungstag und ebenso im Jetzt, hier und heute, in dieser Minute – alles eine Quantenfluktuation aus dem Nichts sein. Das Nichts, dieses Meer, wie der Physiker Paul Dirac es genannt hat, oder die Urflut der Legenden. Das Vakuum, scheinbar leer, kommt mit der niedrigsten Energie aus, die ein System aufrechterhält. Das aber lässt auf ein Meer von Nullpunktwellen schließen, geringer als atomare Skalen bis hin zu solchen, die als wahrhaft kosmisch zu bezeichnen sind. Ein Elektron, betritt es das Vakuum, zittert unter der Nullpunktbewegung. Das hat man sichtbar machen können.
- Wenn ich Ihnen zuhöre, teile ich fast Ihre Begeisterung. Es gibt ein Phänomen, das mich persönlich berührt, in der Blasenkammer sichtbar gemacht. Es kann nämlich passieren, dass in dem elektrischen Feld des Atoms ein virtuelles Elektron und sein Gegenpart Realität werden, sofern das Feld von einem Photon, einem Lichtteilchen, getroffen wird. Das Photon kann beide Teilchen aus dem Atom heraus stoßen, ohne das Atom selbst zu verändern. Eine Art Paarerzeugung.
- Und sie bilden zwei gegenläufige Spiralen ab. Energie ist per Voraussetzung schöpferisch, doch nur bestimmte Ordnungsstrukturen scheinen das Gefüge weiter zu bringen. Energie kann positive wie negative Impulse an sich binden, wie wir wissen. In den Einschlüssen von Kristallinen uralter Gesteinsschichten finden sich Spurenelemente, wie sie zur Ausbildung des Gehirns unverzichtbar sind.
- Es heißt, ein minimaler Überschuss von einem ungebundenen Quark auf Millionen Paare von Quarks und Antiquarks, die sich in einer frühen Phase unmittelbar in Strahlung auflösten, hat ausgereicht, um die Voraussetzung für unsere Welt zu konstituieren. Die Leere oder das Nichts, von dem Sie sprachen, ich betrachte sie als geistige Komponente, gewissermaßen Voraussetzung für das erste Aufscheinen von Wahrscheinlichkeiten, Kreativität, Leben zu gebären, das heißt zu einer Ausdrucksform zu gelangen.
- Wir haben einen spannenden Zusammenhang eben berührt.
- Sie sind jung, verabschiedete der Geistliche seinen Gast, gehen Sie, heute noch und Gott mit Ihnen! Sie bringen die junge Frau, vor der ein Leben liegt wie vor Ihnen, in Gewissensnot. Sie haben sich gekannt. Das sollte genügen. Für den Kummer gibt es das Gebet und vielleicht wird sie ihren Gatten umso inniger lieben. Gott ist voller Wunder. Sie sind doch für rasche Entschlüsse zu haben. Wie ich hoffe, ohne Reue.
Das Frühlicht färbte rotgolden die Dächer, er war müde, doch noch in schwarzer Nacht hätte er den Pfad nicht übersehen, der quer durch unebenes Gelände zu der Geliebten führte. Er hob das Nachthemd auf und bedeckte den warmen Leib mit seinen Küssen.
- Und? fragte sie schlaftrunken.
- Beachtlich das Wissen dieses Mannes. Schlafe, mein süßester Liebling!
- Sein Rat? Seine Entscheidung? Du warst Stunden bei ihm.
- Liegt es denn in seiner Hand, wozu wir uns durchringen? Solltest du aber mich vor die Tür setzen…, es wäre dein gutes Recht…, nein, so weit wollen wir heute nicht verhandeln.
- Hat er dich fort geschickt? Ja? Was weiß er schon, der Herr Pfarrer! Will Frieden im Dorf. Ach! Ich hätte es wissen können.
Ohne das Mittelalterfest vor einem Jahr… sie befanden sich unweit der tschechischen und der österreichischen Grenze, wo ein Fest die Dörfler der nahen und weiteren Umgebung zusammenführte, ein Treffen, das den Durchgangsverkehr lahm legte…, wären sie sich wahrscheinlich schon in dem Moment, da sie einander ansichtig wurden, wieder verloren gegangen. Eine Bäckerei, ein Metzgerladen in der Altstadt, vielleicht wäre auch dort sein Blick auf sie gefallen, während sie warteten, dass sie an der Reihe waren, in diesen kleinen Geschäften herrschte immer Betrieb, fühlte man sich aufgehoben, zu einem nachbarlichen Schwatz aufgelegt. Vielleicht hätte ihr weiches Antlitz mit den dunklen Augen ihn nachher auf der Straße noch bewegt. Um sie an der Ampelüberführung zu vergessen. Wie es sich auch im Gedränge der ländlichen Festbesucher hätte abspielen können, man fängt einen Blick auf und verliert sich aus den Augen. Er hatte den Wagen am Ortsrand stehen gelassen. Hemdsärmelig spazierte er, einer der wenigen Besucher ohne geschichtsträchtige Gewandung, dorthin, wo schon andere sich gelagert hatten, wo eben ein Feuer entfacht wurde. Ein paar Schritte weiter diente Feuer in einer metallenen Schale dazu, auf dem Rand Filets zu garen. Bänke waren aufgestellt. Das Bier floss in Strömen. Sein Blick wanderte über die versammelten Gäste und blieb an einer jungen Frau im blauen Dirndl zum weißen Blüschen und rot geblümter Zierschürze hängen. Ein zögerndes Lächeln angesichts seiner Aufmerksamkeit fiel über ihr Antlitz …, und, seltsam, es widerfuhr ihm nicht zum ersten Mal, dass er sich inmitten eines lichten Sommertags in der weißen Stille einer Winternacht wieder fand. Ein Fluchtimpuls, immer hatte die Nacht ihn beschützt, er wurde unsichtbar für die Augen derer, die ihn zur Rechtfertigung heranziehen könnten. Er entnahm der Eingebung, die ihn für eine kaum messbare Zeitspanne aufgehalten hatte, vor allem die Warnung, bedacht zu bleiben. Diese Maid, deren Liebreiz sich dem Landleben verdankte, machte ihn befangen. Zu seiner Überraschung erbot sie sich, ihn mit der Historie und den daran geknüpften Gepflogenheiten vertraut zu machen. Sie erzählte von einem seit Jahrhunderten ansässigen Adelsgeschlecht, das den Schlosspark, Scheune und eine Wiese für das ursprünglich als Handwerker- und Gauklertreiben eingerichtete Treffen zur Verfügung gestellt hatte. Wie bereits zu Hofmarkzeiten wurde das Bier der Schlossbrauerei ausgeschenkt, wenn auch die Recht gebietenden Privilegien mit der Markterhebung erloschen waren. Doch auch heute, als Ratsmitglied, war dem Schlossherrn wie der Gemeinde sein nicht zu unterschätzender Einfluss von Nutzen.
– Und Sie selbst? fragte er, was bewahren Sie? Ich meine, um das historische Bewusstsein zu pflegen?
Sie sah ihm in die Augen. Sagte es dann doch. Von einer Goldhaube erfuhr er, im obersten Fach einer Kommode verschlossen, um sie zu besonderen Anlässen herauszunehmen: ein Häubchen mit Pailletten und vergoldeter Folienstickerei mit einem von feinsten Goldgespinsten durchzogenen, schwarzen Hutband. Von Linz über Passau eingeführt, war sie einst für ein Rossgeld zu erstehen – soviel wie für ein Pferd zu zahlen war – die Ahnin hatte ihr das Kleinod hinterlassen. Sie weihte ihn auch in den Inhalt der Truhen ein. Um der Harmonie und um der Verheißungen willen hatten schon die Großeltern Lavendelsträußchen zwischen die Schichtungen der mit Lochstickerei verzierten Linnen gelegt. Es seien diese Relikte, wie auch Festlichkeiten, der Sankt Leonhard gewidmete Ausritt, dass niemand sich allein fühle.
Warum sagte sie ihm das alles, einem Fremden, der vielleicht ganz anders dachte? Er schaute nach links, er schaute nach rechts, sie waren vom volkstümlichen Treiben förmlich umzingelt, waren einbezogen in eine nie aufgegebene Lauterkeit. An seiner Seite ein Weib, jung an Jahren wie er selbst. Er sollte sie zu sich auf ein imaginäres Pferd heben, mit ihr davon sprengen, bis der Wind oder ein Gedicht sie über die ländliche Einfalt hinweg zu den Mythen der Götter trug, deren Eifersucht sie analog der Glut aus aufgeschichteten Fichtenhölzern erwartete. Das Unternehmen scheiterte nicht zuletzt daran, dass sie niemals träumen würde wie er. Noch nicht einmal im Schlaf. Ganz sicher hatte sie nicht die von ihm bevorzugten russischen Erzähler, Tschechow, Puschkin oder Gasdanows‚ Ein Abend bei Claire’ gelesen. Was fällt mir ein, dachte er, was sich hier abspielt, ersetzt mir gerade den mit Freunden verpassten Nachmittag im Straßencafé. Der so unwichtig ist wie nur irgendwas. Als die Musikanten zu den Instrumenten griffen, raffte die Gespielin ihre Röcke, so dass die weißen Strümpfe oberhalb der Spangenschuhe sichtbar wurden. Von ihr so sicher geführt, gab er sich ungeschickt. Natürlich hatte er sie geküsst, ihr weicher Mund benahm ihn der Selbstbeherrschung, ihre Hingabe setzte ihn in Erstaunen. Tiefdunkle Nacht, das Feuer war bis auf ein paar schwelende Reste niedergebrannt, als sich ihre Familie einfand – oder waren es die Nachbarn? – sämtlich in Tracht, nicht zu unterscheiden für sein Auge, und er hatte sein Liebchen doch eben erst zärtlich gehalten. Die Stunden bis Sonnenaufgang verschlief er im Stroh der Scheune, allein.
Aus Höflichkeit und um sich die Erinnerung vom Hals zu schaffen, ernüchtert gewiss auch sie, rief er sie ein paar Tage später an. Jeder kannte ihre Familie, die Telefonnummer hatte er gleich parat. Sie schien nicht die Spur erstaunt, sprach ihm vom Theaterspiel am kommenden Samstag. Er tat ihr den Gefallen, die Aufführung zu besuchen. In dieser Gegend schien das Rollenspiel den Menschen in die Wiege gelegt. Die Gehöfte einzeln gelegen, keins dem andern zu nah und doch in Sichtweite, all das fügte sich zu einer besonnenen Lebensgemeinschaft. Sobald im Gasthaussaal der Applaus losbrandete, war er unterwegs hinter die Kulissen, um sie, kein Vollblut, was sie auf den Brettern zum Besten gab, an sich zu drücken. – War es so schlimm? fragte sie schüchtern. Er küsste ihr die Tränen von den Lidern, den Wangen. Hielt sie fester in den Armen. Ihm war bewusst, er konnte sie nicht trösten, sie würde weiterhin auftreten. Bis zu jenem Höhepunkt in einer Rolle, die wie für sie geschaffen schien und der sich niemals einstellen würde. Es war nicht aufzuhalten. Er musste ja nicht hingehen. Ich muss mich um sie kümmern, dachte er. Ein Sommer, ein Herbst, ein Winter, er liebte ihre geröteten Wangen, wenn sie von einem Spaziergang über verschneite Hänge heimkehrten. Sie war so sehr, so absolut sie selbst. Er sagte, ich nehme dich mit in die Stadt, wenn du willst, der Hof braucht dich nicht. Die gesammelte Verwandtschaft wird das richten, zwei Hände weniger, wenn schon! Sie lachte, schenkte dem Vorhaben keinen Glauben, aber es gefiel ihr, dass er für sie beide einen Plan entwarf.
Eines Samstags, als er - liebgewordene Gewohnheit – noch spät mit dem Wurf von Kieselsteinchen gegen ihr Fenster um Einlass bat, sie ihm schlaftrunken öffnete, begriff er, dass es diesmal anders sein würde. Die junge Frau, als deren ausdauernder Liebhaber er sich erwiesen hatte, glühte vor Erregung, eine Gefühlswallung, die er – ein Schauder erfüllte ihn – nicht auf sich beziehen durfte. Sie sah ihn an und war anderswo. – Was ist los, gesteh schon, wollte er sie anfahren, war drauf und dran, auf dem Absatz kehrt zu machen, ziellos durch die windige Nacht zu irren. Fernen, unbekannten Abenteuern zu und wenn sie ihn in nordische Einsamkeiten entführten, Grönland, Lappland, Spitzbergen, nur fort von hier, unerreichbar für den Schmerz in der Brust, von dem er keine Ahnung gehabt hatte, wie weh er tun konnte. Da nahm sie seine Hand und legte sie auf ihren Bauch: - Fühle! So fühle doch! Noch ist nichts zu fühlen, berühr’ es trotzdem! Er hat sich aufgemacht, seit gestern weiß ich es. Früher einmal, sagte sie, hat eine Frau, der die Schwangerschaft versagt blieb, sich an die drei Nornen Einbeth, Wilbeth und Warbeth gewandt, die ihre Bedeutung auch unter dem Patronat des Sankt Ägidius zu Schildthurn nicht eingebüßt hätten. – Und? Warst du dort? – Sie sagte nichts. – Wäre da nicht als Votivgabe eine silberne Wiege zu stiften? fragte er. – Schau nach, wenn du es wissen willst!
Ernsthaft und sie achtete kaum auf seine Küsse, erklärte sie ihm, sie habe seit Längerem von dem Sohn geträumt, der ihnen geboren würde. Der ihr verraten habe, wie er heißen wolle. Kein Name von hier. – Ach so? fragte er beiläufig. In der Stunde der Geburt werde sie ihm das noch Verschleierte, zu Zeiten sehr Nahe und doch nur dem Wesen nach Vertraute aufdecken. - Unser Sohn, sagte sie, wird nicht umhin können, sich über einzelne deiner Charakterzüge Klarheit zu verschaffen. Er wird ihnen auf den Grund gehen. Nein, sie wolle und dürfe nichts vorwegnehmen. Damit alles seine Ordnung fände. Ein bisschen abergläubisch, gab sie zu, das Geheimnis zu hüten wie einen heimlichen Triumph, eine stillschweigende Verabredung, Bannspruch, Inhalt heftiger Gebete. Sie dürfe keine Futtereimer mehr schleppen. Manches würde sich ändern. Und außerdem, hatte er denn nicht versprochen, sie vom Hof zu nehmen, in die kleine Stadt, in der er selbst geboren war, sollte es so weit kommen? Am Ende, wer weiß, und sie schmiegte sich in seine Arme, werde ein Irrtum, eine Fehlgeburt sie bestrafen für so viel Eitelkeit. Natürlich könne sie ohne den Hof gar nicht sein, aber der Sohn, sie fühle es, wolle wie sein Vater anderswohin.
Selbst nach wie vor kein regelmäßiger Kirchgänger, war er anderntags, in aller Morgenfrühe, zum Gartlberg hinauf gestiegen. Im Angesicht des farbenfrohen Auferstehungsbildes, das, von Stuck gerahmt, den Altar schmückte, sprach er ein stummes Gebet. Sollte er versäumt haben, sich zu schicklicher Zeit von ihr zu lösen, Gott befohlen, und es war zu spät, lasst uns einen Sohn, aber ja, wer wollte nicht einen Sohn, danach aber die Geburt eines kleinen Mädchens feiern. Lasst dieses mein Herzblut von jenem fantasievollen Naturell sein, das ich an mir so gut kenne, nicht ohne Leidenschaft, verletzlich, den Versuchungen, deren sich das Leben bedient, um sich zu verschwenden, nicht abgewandt, weil nur in ihnen Willkür und Glanz aufscheinen. Er werde auf sein Mädchen achten. Es beschützen. Er versprach, den Sohn, der sich bereits ankündigte, nach Kräften zu fördern.
Die Braut wurde in eine eigens für sie entworfene Robe gehüllt, Brokat, mit Spitzenblüten bedeckt. Der Myrtenkranz lag bereit, da ließ sie sich das Telefon reichen, um dem Liebsten mit einem Geständnis aufzuwarten. Voller Fluchtgedanken, doch Flucht würde es in seinem Leben nicht mehr geben, nahm er den Hörer auf. Sie habe (ihre so angenehme, lachende, in diesem Moment so verletzliche Stimme) bis zuletzt mit sich gehadert, was sie ihm antäte. Mit sich. In ihrer Person. Gezittert habe sie, er könnte ebenso spontan aus ihrem Leben verschwinden, wie er vor einem Jahr da hineingeraten sei. Dass sie ihn hätte fortschicken müssen, als Zeit war. Sie hätte nicht vergessen. Aber das wisse er ja. Sie zögerte. Um eine letzte Brücke bat sie, er begriff sehr wohl. Er tat ihr auch diesen Gefallen. Wann wäre er ihr nicht zu Gefallen gewesen? Sie wisse doch sehr gut, wie angetan er sei, selbst von ihrer Unbeirrbarkeit, die ihm selbst so fern läge, und wollte man ein solches Maß an Selbstbehauptung, an Rückgrat, Unwandelbarkeit, wie es ihr gegeben sei, auch gelegentlich als Grenzüberschreitung erfahren, seine Hände berührten, wenn er sie berühre, immer noch Glückseligkeit. - Liebster, sagte sie, wir wollen keine Angst haben. Was uns das Schicksal auch abverlangt, es wird unserer Bestimmung folgen.
Ein von Licht durchfluteter Sommertag unter dem Himmel Bayerns, als sich der Hochzeitszug von der Kirche – ein Dorf feierte mit ihnen - den Hang abwärts zum Fototermin und entlang des Mauerberings der Altstadt durch das Spalier applaudierender Passanten bewegte, vom Klang scheppernder Dosen und einer hupenden Wagenkolonne begleitet, zu jenem Hotel, das Festlichkeiten die geeigneten Räume bot. Der Bräutigam, ganz in Weiß wie die Braut, der im Cabriolet stehend den Zuschauern winkte, zog die Frau, die er nie mehr verlassen würde, vom Rücksitz neben sich. In eben diesem Moment fielen aus einem fedrig weißen Wölkchen ein paar Tropfen auf Schleier und Brautstrauß. Ihr klopfte das Herz, so sollte es sein, dass auch die Erde den Bund segnete.
Eine wetterbedingte Ausnahmeerscheinung, die sich gut ein Vierteljahrhundert später in einem der trockensten Gebiete der Erde, in den eisenoxydfarbenen Dünen Namibias wiederholen sollte, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Ein Mann mittleren Alters, dem das Schicksal nach einer Erkrankung im Kindesalter Fruchtbarkeit versagte, hatte sich so sehr nach seiner jungen Frau gesehnt – Tausende Kilometer trennten sie - dass er für sie eine erotische Episode, eine heimliche Verführung ersann. Er hatte sich nie von dem Verdacht befreien können, dass sie, um das Leben in seiner Fülle anzunehmen, der Versuchungen bedurfte. Dass sie ohne spielerische Anfechtungen sich selbst und dem Lebenspfad entglitt, dem einzig für sie gangbaren. Er hatte sich in eine Eifersucht hineingesteigert, die ihm erlaubte, sich ihr als Unbekannter zu nähern, dunkle Variante seiner selbst, um sie auszuspionieren. Um den Schleier anzuheben, der sie ihm, bei aller Leidenschaft der Nächte, entzog. Eine tiefviolette Wolke zog über dem weiten Horizont der Wüste herauf, während sich, nicht weit entfernt in einer kleinen Ansiedlung ein Hochzeitszug formierte, und entlud sich in einem Schauer, der kaum Sekunden währte. Die Novemberhitze sorgte dafür, dass die Spuren augenblicklich im Sand versickerten. Namib, das bedeutet einen Ort, wo nichts ist, nichts sein kann, seit achtzig Millionen Jahren Dünen, Fels und Geröll. Die sehr frühe Erdkruste wird in den Tälern unterhalb der Randberge sichtbar.
An jenem lichtvollen Tag aber in einem Landstädtchen Südost-Bayerns, umgeben von bewaldeten Anhöhen, duftenden Wiesen und das Himmelsblau spiegelnden Flussauen, warf die eben Gertraute voll Übermut den Schleier dem nächststehenden jungen Mädchen zu. Ein Knabe und, mit fünf Jahren Abstand, ein Mädchen wurden ihnen geboren: Jason (der Sohn, von dem die junge Mutter geträumt, dessen Namen sie dem Traum entnommen hatte, Jason, der das goldene Vlies raubt und heimholt) und Carlo – eigentlich Henrietta nach der Ahnin, der die Mutter die Goldhaube verdankte. Der Vater machte das nicht mit. Soviel Vorauscharakterisierung sei diesem Fliegengewicht auf der Waage nicht zuzumuten. Ihre Leute würden sie Henny nennen oder Etta, sollte sie sich als kess erweisen (er glaubte nicht daran). Dieses Kind, dachte er und es tat ihm weh und befriedigte ihn gleichermaßen, bedeutet ihr nicht wirklich etwas. Sie hat es geboren um meinetwillen. Auf dass der Segen sich erfülle. So fand der Doppelname Carlo Henrietta Eingang in das Geburtenregister und so wurde sie getauft.
Der Hof mit den Tieren, die Stadtwohnung, die Kinder wurden herumgereicht, während ihr Erzeuger im Institut oder auf Tagungen, oft genug jedenfalls auswärts tätig war. Es gab in dieser Familie Geborgenheit, aber keine Regelmäßigkeit, abgesehen vom Schulbesuch, Kirchgängen, den Grundfesten der Erziehung. Die Dörfler, die sich nach wie vor einstellten, den Korb voller Früchte der Saison, sparten nicht mit Kritik. Weil nämlich, sobald der Sohn über die erste Phase der Pubertät hinweg war, die fantasiebegabten Sprösslinge an den Wochenenden unbeaufsichtigt blieben. Um seine Frau ihren Pflichten, noch mehr dem Theaterspleen zu entziehen, lud der Gatte sie zu einer Spritztour nach Salzburg und ins Gebirge ein und dann blieben sie auch über Nacht aus.