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Оглавление1 Nachdenken über das pädagogische Handwerkszeug – Ein Fallbeispiel
Die Bedingungen der sich demografisch wandelnden Migrationsgesellschaft (Mecheril et al. 2010) verlangen nach Reformen innerhalb des Bildungs- und Hilfesystems. Dessen traditionelle Trennung zwischen schulischen Strukturen und den sich an Familienförderung und Hilfesystem orientierenden sozialpädagogischen Bildungsstrukturen erweist sich zunehmend als ineffektiv.
Ganz gleich, ob in Tageseinrichtungen für Kinder und Kindertagespflege, Schule, Kinderschutz, Jugendarbeit, Erziehungshilfe, im kooperativen Hilfesystem der Jugendsozial- und Jugendberufshilfe oder am Übergang in den Beruf, in der Phase der Familiengründung, im Zusammenhang mit inhaltlichen Interessen oder beruflichen Umorientierungen von Erwachsenen oder während des Ruhestandes: Sofern die Aktivitäten und Angebote institutionell strukturiert vorgehalten werden, kommen pädagogisch motivierte Anliegen und Strukturen zum Tragen. Sie setzen die entsprechende Fachlichkeit voraus und lassen sich in ihrem Anspruch von zwischenmenschlichem Alltagshandeln, „Nachbarschaftshilfe“ oder marktwirtschaftlich motivierten Interessen abgrenzen.
„Hinter“ den pädagogisch motivierten Anliegen stehen theoretische Setzungen, Überlegungen und Argumentationen, Ideen, Wünsche und auch Verunsicherungen, die sich auf fachliche Ansprüche, herrschende Diskurse, fachliche Überzeugungen und politische Anliegen, Traditionen und Veränderungsbewegungen beziehen und das pädagogische Handeln der Fachlichkeit bestimmen.
„Vor“ den Angeboten und Strukturen stehen allerdings Menschen, die als Kinder, Jugendliche oder Erwachsene im Erwerbsalter bzw. im Ruhestand so gefördert werden, dass sie den Anschluss an gesellschaftliche Gegebenheiten finden und ein möglichst selbstbestimmtes Leben im Einklang mit gesellschaftlichen Interessen führen können. Sie betreffen beispielsweise ein Kind, das entweder alleine oder gemeinsam, mit leiblichen oder sozialen Geschwistern, mit einem oder zwei leiblichen oder sozialen Elternteilen zusammenlebt. Vor diesem familiären Hintergrund, aber auch in Abhängigkeit zur Ausformung von dessen monetären oder soziokulturellen Kapitalressourcen und Erwerbsstrukturen, nimmt es eines von mehreren Formaten (Kindertagesstätte, Kindergarten, Tagesmutter) der regelmäßigen außerfamiliären Betreuung wahr und soll dort über einen bedingt variabel zu wählenden Zeitraum (vormittags, nachmittags, ganztags, stundenweise) und entlang einer breiten, auch trägerschaftlich (z. B. öffentliche bzw. freie Träger) bestimmten Konzeptvielfalt und/oder pädagogisch begründeten Theorien (z. B. reformpädagogischer Ansatz nach Montessori, Steiner, Situationsansatz, Reggiopädagogik, Waldpädagogik) hinsichtlich seiner sozialen, kognitiven und emotionalen Entwicklung gefördert werden. Ab dem Zeitpunkt der Schulpflicht mindert sich die Vielfalt der Formate und Konzepte erheblich, während sich die Erwartungen an das einzelne Kind vor allem auf dessen Leistungspotenzial konzentrieren. Von Beginn an sind die biografischen Möglichkeiten des Kindes mit jenen seines Umfeldes verknüpft. Die an das Kind gerichteten schulischen Leistungs- und Normerfüllungserwartungen werden von Unterstützungs-, Begleitungs- und Hilfestrukturen ergänzt.
Sowohl die schulischen Ansprüche als auch die flankierenden Möglichkeiten des Hilfesystems bauen auf dem fachlichen „Handwerkszeug“ des pädagogischen Handelns, auf dem Verständnis von Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lebenswelt auf. Für die innerhalb der Systeme tätigen Fachkräfte gilt es, dieses Verständnis im Rahmen des eigenen Professionalisierungsprozesses zu erwerben und dessen Nutzung einzuüben. Mit anderen Worten: Es ist nötig, immer wieder (neu) über das eigene fachliche Verständnis der erziehungswissenschaftlichen Grundbegriffe nachzudenken und sich auch mit Bezug auf konkrete Einzelfälle immer wieder neu zu positionieren und das eigene Handeln zu reflektieren.
Für den Bereich der Erwachsenenbildung tritt die erzieherische Komponente des pädagogischen Handelns hinter den Anspruch, Bildungsprozesse anzuregen, zurück. Die AdressatInnen der pädagogischen Angebote gehören entweder zu den Erziehenden, deren Alltag und Unterstützungsbedarf auf ihrem eigenen Erzogen-Worden-Sein gründet, oder sie verfolgen als NutzerInnen der Erwachsenenbildung ausschließlich ein Bildungsinteresse im Kontakt mit der pädagogischen Fachlichkeit. Daher muss unseres Erachtens am Anfang dieser Einführung zunächst die Klärung der verwendeten Begrifflichkeiten stehen. Das ist ein erfahrungsgemäß mühsames Unterfangen des theoretischen Nach- und Durchdenkens, das mit zunehmender Erklärungsdichte seine Komplexität immer weiter offenbart.
Im Versuch, der antizipierten Abschreckung vorzubeugen, die beispielsweise die Komplexität des pädagogischen Handelns als grundbegriffliches Konstrukt in sich birgt, stellen wir den begrifflichen Erläuterungen ein Fallbeispiel voran. Es soll aus unterschiedlichen Perspektiven die Notwendigkeit der Reflexion pädagogischer Grundbegriffe und Maximen verdeutlichen.
Eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern zwischen fünf und sechzehn Jahren muss den Familienalltag im Rahmen der Mittel staatlicher Alimentation bewältigen, da sie aufgrund psychischer Erkrankung nicht in der Lage ist, einen Teil des Familieneinkommens selbst zu erwirtschaften. Die Familie lebt also unter Armutsbedingungen, die Kinder sind durch die damit verbundenen sozialen Ausgrenzungsprozesse in ihrer Entwicklung bedroht und müssen einem hohen sozialen Belastungsdruck standhalten. Erschwerend zur Armut kommt hinzu, dass die Mutter erst als Erwachsene nach Deutschland eingewandert ist und sich seit Jahren im Umgang mit Institutionen (Ämtern und Schulen) nur mit Hilfe der Tochter verständigen kann. So hat die nun sechzehnjährige Tochter im Verlauf ihrer Schullaufbahn viel Unterricht in der Schule versäumt und Einschränkungen in den Möglichkeiten ihrer Bildungsbiografie erfahren, weil sie einen großen Teil der Verantwortung für die Bewältigung der Familienorganisation auf sich nimmt. Der vierzehnjährige Sohn der Familie verweigert seit einem Jahr, zunächst durch unentschuldigte Krankheit, später aufgrund daraus resultierender Schwierigkeiten der Leistungserfüllung und problematischer Konstellationen innerhalb seiner Peer-Group, die Erfüllung der Schulpflicht ebenso wie die als Sanktionen damit verbundenen Ordnungsmaßnahmen. Er wird keinen Schulabschluss erreichen.
Das jüngste Kind der Familie wird halbtags im Kindergarten betreut und dort in seiner Entwicklung bestmöglich gefördert, damit es nach seiner Einschulung im nächsten Jahr dem Anfangsunterricht in der Grundschule gut folgen kann. Die Bildungsbiografien der Kinder dieser Familie werden zunächst vom pädagogischen Handeln des Kindergartens und der Schulen bestimmt. Da die beiden schulpflichtigen Kinder in erheblichem Maß dem Unterricht fernbleiben, richten KlassenlehrerInnen und Schulleitung (entsprechend des generellen Konzeptes dieser Schule in Fällen von gehäuften Fehlzeiten) ihr pädagogisches Handeln an sanktionierenden Maßnahmen aus, die ihre erzieherische Absicht allerdings verfehlen.
Da die Fachkräfte der Kindertageseinrichtung aus den Verhaltensweisen des jüngsten Kindes auf Vernachlässigung im häuslichen Umfeld schließen, schalten sie die Jugendhilfe ein. Diese prüft die Situation und stellt der Familie eine Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) zur Unterstützung der Alltagsorganisation und zum Abbau der Überforderungssituation, in der sich die Mutter befindet, zur Seite. Die SPFH wird nach einem halben Jahr durch eine Erziehungsbeistandschaft für den 14-jährigen ergänzt. Beide Maßnahmen der Erziehungshilfe werden aber – trotz Beteiligung am Hilfeplanverfahren – innerhalb der Familie als Eingriff und Bevormundung wahrgenommen und erreichen mit ihren pädagogischen Handlungen nicht das beabsichtigte Ziel. Nach der Erklärung der Mutter, keine Hilfe zu benötigen, und nach der Entkräftung des Misshandlungsverdachts zieht sich die Jugendhilfe aus der Familie zurück und begründet diesen Rückzug mit der mangelnden Mitwirkungsbereitschaft der Familienmitglieder.
Der Fall wirft eine Reihe von Fragen auf, für deren diskursive (klärende, nicht absolute) Beantwortung wir die Auseinandersetzung mit den pädagogischen Grundbegriffen und Maximen benötigen. Diese erweitern wir anschließend durch die Reflexionen aus intersektionaler Perspektive sowie nachfolgend aus der Sicht der institutionellen Struktur, um sie schließlich mit dem Blick auf die AdressatInnen abschließend zu modifizieren:
Woran wollen wir das pädagogische Handeln der VertreterInnen von Schule und Jugendhilfe messen?
Welchen Erziehungsbedarf können wir für die einzelnen Kinder dieser Familie formulieren?
Wie können wir den Verlauf der Bildungsbiografie der Jugendlichen beurteilen, ohne dabei ausdrücklich (bzw. in erster Linie) auf schulische Parameter zur Leistungsmessung zurückzugreifen?
Über welche Stärken, Potenziale und Ressourcen verfügen die Kinder, die Mutter und das Familiensystem? Wie ist ihre Vernetzung in die und mit der sozialen Umwelt?
Warum könnte der weitere Lernprozess des jüngsten Kindes gefährdet sein, wenn es demnächst in die Schule geht?
Welchen Stellenwert müssen wir den Sozialisationsbedingungen, unter denen die Kinder dieser Familie aufwachsen, zumessen?
Wie können wir die Lebenswelt dieser Familie angemessen rekonstruieren?
Welcher Unterstützungsangebote bedarf die Mutter seitens sozialpsychiatrischer Dienste und Lernangebote der Erwachsenenbildung (z. B. Deutschkurs)?
Welche Bedürfnisse dieser drei Kinder werden (nicht) hinreichend erfüllt?
Welche Möglichkeiten des Eingriffs in als problematisch eingeschätzte Entwicklungen bieten Konzepte des Lehrens, der Hilfe, der Begleitung und der Rehabilitation?
Welche fachlichen Kriterien müssen wir anlegen, um diesen Fall bzw. die vier darin enthaltenen Einzelfälle zu verstehen?
Welche absehbaren Gefahren für die einzelnen Familienmitglieder lassen sich durch Maßnahmen der Prävention mindern?
Welche Beratungsangebote können den einzelnen Familienmitgliedern helfen, ihre Situation möglichst selbstbestimmt verbessern zu können?
Warum müssen die pädagogischen Unterstützungsangebote und -maßnahmen für die einzelnen Familienmitglieder an deren Partizipation (aktiver Teilhabe) an Auswahl- und Entscheidungsprozessen ausgerichtet sein?
Welche Anforderungen stellt die Familienkonstellation und -situation an Konzepte, die der Integration dienen und Inklusion zum Ziel haben?
Warum ist es erforderlich, dass die mit der Situation der Familie und ihren einzelnen Familienmitgliedern befassten Institutionen und Fachkräfte in Kooperation und Vernetzung zusammenarbeiten?
Welche intersektionalen Differenzlinien sind in diesem Fall – auf welche Weise – miteinander verwoben?
Warum ist für das jüngste Kind die Transition von der Kita in die Grundschule mit einem biografischen Risiko der Gefährdung verbunden und warum drohen die beiden Jugendlichen am Übergang von der Schule in den Beruf zu scheitern?
Warum müssen wir die Handlungsfähigkeit der einzelnen Familienmitglieder für die Einschätzung ihrer Situation berücksichtigen?
Welche pädagogischen Handlungsfelder haben für die in dieser Familie zu bewältigenden Anforderungen eine Expertise entwickelt, und welche neuen Konzepte für solche und ähnliche Probleme werden derzeit entwickelt?
– Wo verorten wir die Familie und ihren Bedarf an pädagogischer Unterstützung innerhalb der Bildungslandschaft?
– Welche Möglichkeiten bieten die Familienbildung und die frühen Hilfen für den weiteren Verlauf der Bildungsbiografie des Kindergartenkindes?
– Welche Reichweite kann die Elementarbildung für die Bildungsbiografie des jüngsten Kindes haben?
– Welche Förderungen und Herausforderungen erwarten das jüngste Kind in der Grundschule?
– Welche Möglichkeiten hat die Sekundarstufe, um schulfernen Jugendlichen eine anschlussfähige Bildungsbiografie zu ermöglichen?
– Welche Hilfe kann die Schulsozialarbeit zur Sicherung der Anschlussfähigkeit der beiden Jugendlichen bieten?
– Welche Unterstützung können die Kinder dieser Familie in den Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit finden?
– Welche Chancen bietet die Jugendsozialarbeit für die Bewältigung des Risikos am Übergang von der Schule in den Beruf?
– Wie weit reich(t)en die Angebote der Hilfen zur Erziehung in diesem Fall und wie wurden die Maßnahmen im Hilfeplanverfahren gerechtfertigt?
– Gibt es begründete Anhaltspunkte, um Maßnahmen der Inobhutnahme zu durchdenken?
– Welche Funktion kann die Gemeinwesenarbeit im Hilfeszenario für diese Familie übernehmen? Welche Unterstützung kann der Mutter hinsichtlich ihrer Depressionen angeboten werden?
– Welchen Beitrag können die Angebote der Erwachsenenbildung für die Verbesserung der familiären Situation leisten?
Warum haben die Hilfeangebote und -maßnahmen die Familienmitglieder als AdressatInnen von Bildungs- und Hilfeangeboten nicht erfolgreich erreichen können?
Wie viel Hilfe und wie viel Kontrolle können in diesem Fall fachlich vertreten werden?
Diese exemplarischen Fragen geben zum einen die Gliederung dieses Buches wieder und gehören zum anderen ins Repertoire des pädagogischen „Handwerkszeugs“, mit dem wir fachliche Reflexionen im praktischen Kontext theoretisch klären können. Zwar können diese auch aus einem nicht fachlich reflektierten Alltagsverständnis von „Normalität“ heraus beantwortet werden, was aber eben keine fachliche Reflexion beinhaltet. Die fachliche Reflexion erfordert vielmehr die diskursive Auseinandersetzung mit den bereits durchdachten Positionen und empirischen Befunden, die unter den Bedingungen der praktischen Anforderungen die im Alltag handelnden Akteure von fachlich reflektierten unterscheidet.