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ОглавлениеWas Menschen zu Leadern und Leader zu Menschen macht
Die Frage, was eine gute Führungskraft kennzeichnet bzw. welche Persönlichkeitstypen eine Organisation braucht, um erfolgreich zu sein, stellen sich Menschen wahrscheinlich schon seit Jahrhunderten. Die Kunst, andere zu bewegen und zu Höchstleistungen anzuspornen, hatte im alten Rom mit Sicherheit aber andere Facetten und Schwerpunkte als heute – doch letztlich ging es damals wie heute um ... Erfolg.
Der Grund dafür liegt auf der Hand: Ohne Erfolge bekommt eine Gruppe von Menschen (heute: eine Organisation) über kurz oder lang Schwierigkeiten. Und ohne Führungspersönlichkeiten bleibt der Erfolg aus. Ein zeitloses Gesetz – in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Der Auftrag – Teil I
Mittwochnachmittag in einem Ingenieurbüro. Viktor (48) und Hermine (32), der Chef-Ingenieur und die Chef-Ingenieurin des Unternehmens, brüten im Schein der Neonbeleuchtung über Unterlagen und Schaltplänen.
Viktor: »Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?«
Hermine: »Was?«
Viktor: »... dass wir diesen Job nicht auslagern. Ich meine, woher sollen wir Techniker wissen, was eine gute Führungskraft ausmacht.«
Hermine: »Auftrag ist Auftrag. Und du weißt genau, dass die Unternehmensleitung die heiklen Aufträge nie outsourct.«
Viktor: »Das war, bevor irgendjemand auf die Idee gekommen ist, einen Leadership-Roboter zu konstruieren, der unsere Abteilungen führen soll.«
Hermine: »Sind wir nicht die besten Experten auf dem Gebiet der Robotik, die das Unternehmen hat?«
Viktor: »Ja schon, aber das hier ist ja keine primäre Frage der Technik. Eine Führungskraft ist ja kein Warenhaus-Droide.«
Hermine: »Nun ...auch ein Boss muss liefern.«
Viktor: »Ja, aber was eigentlich genau?«
Welche Typen braucht eine Organisation?
Doch wer und wie sind denn eigentlich jene, die Erfolge sicherstellen sollen? Sind es wirklich nur die »strahlenden Anführer in goldener Rüstung«, die zum Sieg verhelfen? Machen Sie bei einem kleinen Gedankenexperiment mit: Wer von den zwei nachfolgend beschriebenen Persönlichkeiten ist Ihrer Meinung nach wichtiger für den Erfolg eines Unternehmens?
Führungspersönlichkeit A: »Der mutige Visionär«
Er bzw. sie schildert Zukunftsbilder in Form von Geschichten und Metaphern und legt großen Wert darauf, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter interne Entwicklungen aktiv mitkonzipieren und mitgestalten dürfen.
Er bzw. sie sucht und geht gerne neue Wege in der Zielerreichung und Zusammenarbeit – auch solche, die Risiko und/oder Mut erfordern.
Ihm bzw. ihr ist das »Was wollen wir erreichen?« wichtiger ist als das »Wie wollen wir es erreichen?«.
Führungspersönlichkeit B: »Der besonnene Möglichmacher«
Er bzw. sie wägt jedes Risiko sorgfältig ab – auf der Basis von Zahlen, Studien und Fakten.
Er bzw. sie legt größten Wert auf Struktur, klare Rollen, Prozesse und Ziele.
Bei der Wahl zwischen mutiger Innovation und sicher Bewährtem tendiert er bzw. sie eher zum bereits erfolgreich Erprobten.
Der Auftrag – Teil II
Viktor schaltet die Bürobeleuchtung ein und sagt: »Eigentlich wollte ich heute pünktlich nach Hause gehen.«
Hermine: »Tja. Lass uns zumindest die Anforderungen für den Führungsroboter fertig machen.«
Viktor: »Lead2Success 4.0«
Hermine: »Wie?«
Viktor: »Den Namen habe ich mir ausgedacht, damit die Maschine ein bisschen mehr Persönlichkeit bekommt.«
Hermine: »Ist das wichtig?«
Viktor: »Nun, das ist doch die Grundanforderung für jeden Menschen, der von anderen respektiert werden will: ein guter Name.«
Hermine: »Ein Name ist doch gar nichts. Nur das, womit man sich einen Namen macht, zählt.«
Viktor: »Und womit macht man sich einen Namen?«
Hermine: »Mit authentischem Verhalten. Also, wenn man Überzeugungen hat, die sich nicht verändern und auf die man sich auch verlassen kann, wenn man mit Lead2Success 4.0 zu tun hat.«
Viktor: »Du hast den Namen gesagt.«
Hermine: »Ich weiß.«
Viktor: »Aber schreib das mit der Authentizität auf. Das ist gut.«
Hermine schreibt: »Immer gleiches Verhalten. Das sollte für einen Roboter kein Problem sein.«
Was meinen Sie? Zu welcher der beiden Führungspersönlichkeiten tendieren Sie in Ihrem Gedankenexperiment? Ist der »Visionär« oder der »Möglichmacher« die bessere Wahl?
Sie werden sicher schnell draufgekommen sein: Eine Entscheidung für A oder B würde zu einem groben Ungleichgewicht und auch zu einem großen Risiko führen. Natürlich gibt es genügend Beispiele für beide Persönlichkeitstypen in der Realität – aber kein Unternehmen der Welt könnte es sich leisten, exklusiv mit einem dieser beiden Persönlichkeitstypen in der oberen Führungsetage zu wirtschaften. Wie in so vielen Bereichen des Lebens liegt die Lösung in einer Balance – also in einem Und statt einem Oder.
Lassen Sie uns fortan der Einfachheit halber Typ A als »Leader« und Typ B als »Manager« bezeichnen. Da diese beiden Begriffe im Buch relativ häufig vorkommen werden, erlauben wir uns, für diese beiden Wörter das Gendern zu vernachlässigen, aber natürlich sind immer Männer und Frauen gemeint.
Sehen Sie, da ist es wieder ... das Und.
Noch einmal das grundlegende Fazit: Unternehmen brauchen Leader und Manager – also vorausdenkende Visionäre und hinterfragende Möglichmacher. Ohne die einen gibt es keine Innovation, ohne die anderen keine Koordination.
Unternehmen, die erfolgreich sein wollen, brauchen Offenheit und Struktur.
Zwei Arten von Führung – die natürliche Diversität
Keine Angst, das Und wird im Rest des Buches nicht durchgehend fett geschrieben. Aber lassen Sie es uns im folgenden Absatz noch einmal bewusst nachhaltig einsetzen.
Es ist wichtig, dass Sie sich vor Augen halten, dass es zwei prinzipielle Arten von Führungspersönlichkeiten gibt: Die eine setzt überzeugt auf Intuition, zündende Ideen und Emotionen. Die andere beharrt darauf, alles fundiert zu hinterfragen und zu bedenken. Die eine wird oft belächelt (aber auch bewundert), weil sie sich traut, ungewöhnliche Wege zu gehen. Die andere wird leichter ernst genommen, weil das Rationale für Menschen eher sichtbar und greifbar ist.
Diese zwei Führungstypen sind wie die Flügel eines Vogels. Entsprechend brauchen Unternehmen beide, um abheben bzw. in der Luft bleiben zu können. Wer dieses Und beherzigt, der fliegt dem Erfolg zu (oder umgekehrt).
Dabei steht es jedoch nur stellvertretend für viele andere Aspekte von Diversität, die für Organisationen wichtig sind:
Visionär und Manager
Männer und Frauen
Schwarz und Weiß
und, und, und ...
Wichtig ist, dass stets das eine und das andere Raum und Platz haben. Diese Vielfalt eröffnet neue Möglichkeiten, ohne gleichzeitig andere Türen zu verschließen. Besonders raffiniert: Diese Vielfalt – und daher auch diese Räume - entstehen bereits im Denken.
Führungskraft und Leadership – was ist das eigentlich?
Da wir noch am Anfang dieses Buch stehen, lassen Sie uns gemeinsam ein paar grundlegende Begrifflichkeiten klarstellen, damit wir auf den folgenden Seiten vom Gleichen sprechen.
Speziell der Begriff »Führungskraft« wird uns noch öfter begegnen. Aber was bedeutet das eigentlich? Gerade in der deutschen Sprache versteht man darunter ja nicht nur eine Eigenschaft, sondern auch eine Stellung im Unternehmen.
Als Führungskraft bezeichnet man ganz sachlich eine Funktion, die eine Person in einem Unternehmen oder einer Organisation innehat. Oft taucht sie (ohne dass der Begriff tatsächlich Erwähnung findet) im Organigramm als Leiterin oder Leiter eines Teams auf. Über die Qualität der eingesetzten »Führungskraft« (als Eigenschaft) – also ob diejenige Person diese Funktion gut oder weniger gut ausfüllt – sagt dies natürlich gar nichts aus.
Als Leaderbezeichnet man einen Vorgesetzten oder eine Vorgesetzte nur dann, wenn er oder sie die Führungsfunktion so vorbildlich, zielführend und mit unverwechselbarer Ausstrahlung wahrnimmt, dass die Teammitglieder gerne, bereitwillig und leidenschaftlich folgen. Ein Leader ist also nicht nur eine Führungsperson, sondern eine wahre Führungspersönlichkeit.
Leadership, wie wir diesen Begriff verstehen und in diesem Buch verwenden möchten, charakterisiert also einen Menschen, der eine Führungsposition mit Zielstrebigkeit, Offenheit und Entscheidungsfreude erfolgreich ausfüllt und dabei andere begeistert und dynamisch anführt. Leader erkennt man unter anderem an ihren leidenschaftlich erzählten Geschichten und Visionen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch gerne weitererzählen.
Manager haben die Aufgabe, Menschen durch gemeinsame Werte, Ziele und Strukturen in die Lage zu versetzen, eine gemeinsame Leistung zu vollbringen. Management steht also für die Umwandlung von verfügbaren Ressourcen in konkreten Nutzen und Ergebnisse.
Achtung! Management ist nur beinahe mit dem Begriff »Führung« gleichzusetzen, denn das Wort bezieht sich rein auf funktionelle Aspekte. Manager müssen wirksame Aktionen im Sinne der Zielerreichung setzen. Um eine wesentliche Wirksamkeit für die Organisation zu erreichen, ist es jedoch notwendig, die entscheidenden Aktionen nicht bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sondern auf einer übergeordneten Ebene (Systemebene) zu setzen.
Fazit:
Leadership = menschenbezogen, strategisch, visionär
Management = organisatorisch, operativ, funktional
Der Auftrag – Teil III
Hermine inspiziert den Schaltplan, wirft die Stirn in Falten und sagt: »Weißt du, was mir noch immer nicht ganz klar ist? Wenn das mit dem Führungsroboter so eine brillante Idee ist, wieso gibt es das nicht schon längst?«
Viktor: »Terminator. Star Wars. Matrix.«
Hermine: »Wie?«
Viktor: »Die Menschen haben Angst vor Maschinen, seit diese im Kino als böse Menschenunterdrücker dargestellt wurden. Außerdem ist es unheimlich, wenn jemand völlig emotionslos und strikt Befehle ausführt.«
Hermine: »Ich dachte, wir waren uns vorhin einig, dass das authentisch – also gut – ist, wenn sich jemand immer gleich verhält.«
Viktor kratzt sich am Hinterkopf: »Hm ...«
Hermine: »Also doch nicht?«
Viktor: »Nun ja. Ein bisschen von einem Gespür muss schon da sein.«
Hermine: »Gefühl? Bei einem Roboter? Wie sollen wir denn das bitte programmieren?«
Viktor: »Nun, das muss irgendwie von selbst kommen, denke ich.«
Hermine: »Wir hätten diesen Job doch outsourcen sollen.«
Viktor: »Wieso?«
Hermine: »Ich habe bei diesem Robotik-Projekt ein ganz mieses Gefühl.«
Vorhang auf für Ihr Selbstbild
Legen wir noch einmal den Fokus auf das scheinbar Banale: Ob Leader oder Manager – primäre Aufgaben auf der »Bühne Abteilung/Unternehmen« sind, Menschen zu führen und Unternehmensziele zu erreichen. Als Leader oder Manager haben Sie also eine bestimmte Rolle, deren Erfüllung von Ihnen erwartet wird. Die Rolle selbst ist klar umrissen, doch wie Sie diese anlegen, bleibt ganz Ihnen überlassen.
Um Ihre Rolle glaubwürdig mit Leben zu erfüllen, müssen Sie sich zuerst selbst erkennen:
Was für eine Führungspersönlichkeit sind Sie?
Was zeichnet Sie aus?
Wie entscheiden Sie?
Warum das wichtig ist? Wenn man Leadern aufmerksam zuhört, sprechen diese sehr oft von Leistung, die sinnvoll sein soll. Mit diesem Sinn als essenziellem Fundament für jeden Gedanken und jede Handlung wollen sie andere begeistern – und meistens gelingt ihnen das auch mit Leichtigkeit. Nichts wirkt ansteckender als ein Mensch, der voller Überzeugung und glaubwürdig von einem Ziel spricht, das aus mehr besteht als aus Zahlen auf dem Papier, sondern vielmehr aus einem veränderten Zustand und neuen Möglichkeiten, die sich daraus für alle Beteiligten ergeben.
Hinter dem Geheimnis der Anziehungskraft dieser Leader vermuten viele die sichtbaren, »miterlebbaren« Emotionen, aber eigentlich ist es die starke Empathie und Wertschätzung gegenüber anderen, die andere Menschen unbewusst beeindruckt und mitreißt.
Leadern ist Integrität so wichtig, weil sie keine Rolle auf einer Bühne spielen wollen. Stattdessen wollen sie mit ihrem Denken und Handeln – und letztlich mit ihrem Erfolg – eine wichtige Rolle in ihrem eigenen Leben und im Leben anderer spielen.
Was zeichnet gute Leader aus?
Leader haben einen hohen Willen zur Leistung, weil sie sich auch selbst mit »Sinnvollem« antreiben. Sie sind sehr neugierig, offen neuen Menschen gegenüber und auch bereit, neue Wege zu gehen und etwas auszuprobieren. Dabei hinterfragen sie sich aber nicht permanent, sondern werden von dem leidenschaftlichen Wunsch angetrieben, ihre eigene Neugierde zu befriedigen.
Leader kommunizieren offen, klar und emotional, haben durch ihren anderen Zugang aber auch ein offenes Ohr für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie für deren Ideen.
Leader haben oft große Visionen, wo Manager nur den Kopf schütteln – nicht, weil diese die Idee nicht gut finden, aber weil Manager sofort darüber nachdenken, wie die Idee in die Realität transferierbar sein soll. Leader verlieren auch gerne einmal die Realität aus den Augen, sprechen oft in der Zukunftsform und vergessen dabei, dass diese Zukunft zum jetzigen Zeitpunkt nur in ihrem eigenen Kopf existiert.
Sehen wir uns kurz an, was ein anerkannter Experte zu diesem Thema denkt: John P. Kotter, Professor für Führungsmanagement an der Harvard Business School, spricht vom Leader, der »die Richtung vorgibt, MitarbeiterInnen danach ausrichtet und Motivation und Inspiration im Unternehmen verbreitet«.
Leader werden darüber hinaus sehr oft mit jenen Organisationen assoziiert, mit denen sie eine Vision verwirklicht haben. Denken wir nur an Apple-Gründer Steve Jobs: Nach seinem Tod brach sofort der Kurs von Apple an der Börse ein – obwohl er zum damaligen Zeitpunkt in der Praxis längst das Unternehmensruder nicht mehr in der Hand hatte. Daran sieht man, wie wichtig Leader sind. Sie prägen eine Unternehmenskultur und agieren wie die Mütter oder Väter einer Organisation.
Ein Generationenwechsel von einem Leader zu einem Manager kann daher schon einmal richtig in die Hose gehen, wenn man nicht rechtzeitig und achtsam darauf zusteuert. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lieben Leader und können, wenn sie jahrelang auf Leading trainiert wurden, mit vergleichsweise trockenen Managementaktionen nur schwer umgehen.
Was zeichnet gute Manager aus?
Wir wollen hier aber keinesfalls den Eindruck erwecken, dass die Qualitäten von Managern weniger wichtig sind als die funkensprühenden Energien von Leadern! Schließlich gibt es in Unternehmen ja auch Menschen, die auf diese völlig unterschiedlichen Aspekte unterschiedlich gut ansprechen.
Managern sind Korrektheit, Zahlen und Fakten als solides Fundament für ihre Entscheidungen immens wichtig. Wenn sie andere überzeugen wollen, sprechen sie bevorzugt von Zielen, Rollen, Funktionen und Prozessen.
Manager bringen Ideen auf den Boden und begegnen den Dingen rational und bodenständig. Sie haben aber auch einen ausgeprägten Erhaltungstrieb: Läuft es einmal gut, dann soll der dahinterstehende funktionierende Prozess doch bitte bewahrt werden. Dieses Sicherheitsdenken steht oft der Innovationskraft von Leadern im Wege.
Manager kommunizieren exakt und klar und orientieren sich in ihrem Verhalten und ihrer Sprache sehr stark an Funktionen und Prozessen.
John P. Kotter (den kennen Sie jetzt schon) spricht von dem Manager, der »plant, budgetiert, organisiert und Stellen besetzt, das Controlling übernimmt und Probleme löst«.
Der Auftrag – Teil IV
Viktor starrte kopfschüttelnd auf den Monitor: »Hast du das neue Memo von der Konzernleitung schon gelesen?«
Hermine: »Bin gerade dabei. Verwirrend. Ich dachte, wir sollten einfach einen Roboter entwerfen, der authentisch auftritt, weiß, was zu tun ist, und damit die Mitarbeiter zielsicher steuert.«
Viktor: »Lead2Success 4.0.«
Hermine: »Ich bleibe bei ›Roboter‹.«
Viktor: »Wieso jetzt plötzlich?«
Hermine: »Weil die neuen Anforderungen menschenunmöglich sind – zumindest für eine Maschine.«
Viktor: »Leader, Manager – beide mit völlig unterschiedlichem Verhalten. Situationselastisch sich selbst und andere steuernd. Selbsterkenntnis ...«
Hermine: »Und dabei noch Charisma versprühend und Funken der Leidenschaft entzündend.«
Viktor: »Die Funken würden wir sicherlich hinbekommen. Allerdings widerspricht das wieder der Brandschutzordnung im Unternehmen.«
Hermine: »Ich glaube, es ist Zeit ...«
Viktor: »Zum Outsourcen?«
Hermine: »...einzugestehen, dass eine Maschine niemals eine gute Führungskraft simulieren kann, sondern Führung etwas zutiefst Menschliches ist.«
Viktor: »Schade um den Namen.«
Hermine: »Das ist auch etwas zutiefst Menschliches – sich mit eigenem Stil und eigenem Handeln einen eigenen Namen zu machen.«
Viktor: »Was heißt das jetzt eigentlich für unseren Ruf? Sind wir gescheitert?«
Hermine: »Wieso? Wir hatten gerade eine wichtige Erkenntnis. Wir sind also gescheiter.«
Viktor: »Du wärst eine gute Führungskraft.«
Existiert die ultimative Führungskombination?
Noch einmal zum Verinnerlichen auf den Punkt gebracht: Ein Leader erzeugt Wandel und Bewegung, ein Manager Ordnung und Konstanz.
Falls Sie sich jetzt fragen, ob Sie vielleicht beides in sich tragen, müssen wir Sie leider ein wenig enttäuschen. Hier gibt es laut John P. Kotter ausnahmsweise kein Und, sondern nur ein Oder. Er meint, dass diese beiden Ausprägungen so gegensätzlich sind, dass sie nicht glaubwürdig in einer Person vereint sein können.
Wir wollen uns hier aber nicht auf Pauschalaussagen versteifen. Natürlich kann auch hier ein Und möglich sein. Es gibt außergewöhnliche Persönlichkeiten, die diesen Spagat auf Dauer schaffen. Aber diese sind sicherlich die Ausnahme.
Kotters Erkenntnis beruht auf einer Studie, in der zwei Drittel von 200 befragten Managern angegeben hatten, dass ihr Unternehmen über zu viele Vorgesetzte verfüge, die »stark im Management, aber schwach in der Führung« seien. 95 Prozent der Manager waren der Meinung, es gebe zu wenige Vorgesetzte, die beide Qualitäten besäßen.
Kotter kommt auch aufgrund eigener Beobachtung zu dem Schluss, dass die meisten Unternehmen »over-managed« und »under-led« sind. Diese knackige und bekannte Aussage stammt zwar bereits aus dem Jahr 1990, dürfte aber nach unseren Erfahrungen in der Praxis kaum etwas von ihrer Gültigkeit verloren haben.
Hierzu passt auch ein kürzlich geführtes Gespräch mit einem Vorstandsmitglied eines Unternehmens, bei dem zum betreffenden Zeitpunkt ein Generationswechsel anstand. Sein klares und auch ernüchtertes Urteil zu der Situation: »Es gibt keine Leader mehr. Die meisten deutschsprachigen Unternehmen werden von Managern geleitet.«
Wir sehen das ähnlich: Es fehlt aus verschiedensten Gründen an der Spitze sehr oft an Mut und an visionären Geschichten. Zahlen und Fakten rücken immer mehr in den Vordergrund – so sehr, dass der Sinn dahinter oft völlig verschwindet. Doch ohne Sinn fehlt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die so wichtige Emotion in der Organisation. Es würde also vielen Organisationen guttun, mehr Leader – oder zumindest eine ausgewogene Balance – im Einsatz zu haben.
Was braucht Ihre Organisation? Was braucht Ihr Team?
Eines möchten wir gleich zu Beginn noch einmal klar betonen: Natürlich sind Leader und Manager gleichermaßen wichtig für eine Organisation! Der Grund, warum wir uns mit diesem Buch so auf Leadership und Führungsinstinkte konzentrieren, ist die simple Tatsache, dass in jeder Führungskraft ein Leader steckt. Viele Manager erreichen mit mehr Leadership-Know-how einen höheren Mehrwert in ihrer Organisation. Leadership geht immer mehr verloren, weil Menschen – aus verschiedensten Gründen – eher rational arbeiten möchten.
Gleichzeitig arbeiten viele Führungskräfte mittlerweile zu einem hohen Teil im operativen Bereich mit und haben wenig Zeit zur tatsächlichen »Menschenführung«. Dann bleibt meist nur mehr das Notwendigste zu tun – also zu managen –, damit »der Laden läuft«.
Führung ist aber mehr: Führung bedeutet, Richtungen vorzugeben, zu intervenieren, zu entwickeln und eine Führungskultur zu etablieren, die eine »High Performance Culture« ermöglicht – die also die viel zitierten »Leadership-Qualitäten« aufweist. Gerade in der Zukunft mit anders veranlagten und gepolten Arbeitnehmerinnen und -nehmern werden diese Fähigkeiten immer wichtiger werden.
Erst eine ausgewogene Führungsphilosophie, die Leadership und Management gleichermaßen kultiviert, ermöglicht Unternehmen, die wachsen und über sich hinauswachsen. Das schafft man nur, wenn man bestehenden Erfolg nicht nur »verwaltet«, sondern neue Erfolge, neue Betätigungsfelder, neue Wege aktiv sucht und beschreitet.
Kommt man mit agiler, offener und selbstbestimmter Führung seiner MitarbeiterInnen dorthin?
Unsere klare Antwort: Ja. Nur so.
Stellen Sie sich folgende Fragen:
Wo liegen meine Stärken als Führungspersönlichkeit?
Wo liegen meine Entwicklungsfelder als Führungspersönlichkeit?
Wo will ich hin? Was will ich sein?
Selbstreflexion tut jedem gut. Sie hilft uns dabei, unseren Standort zu bestimmen. In Kapitel 1 geht es genau darum. Lassen Sie sich Zeit dabei, Ihren Status quo zu erkennen und zu verstehen.
Die Unternehmenskultur als natürliche Umgebung für Wachstum
Wo etwas wachsen und sich die richtigen Menschen wohlfühlen sollen, braucht es auch die richtigen Verhältnisse dafür. Was für Pflanzen und Tiere Temperatur, Nahrungsangebot, Mineralstoffe und Nestbaumaterial sind, sind für Führungspersönlichkeiten – aber auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die das Potenzial zur Führungspersönlichkeit haben – andere Aspekte innerhalb eines Unternehmens, die wir hier der Einfachheit halber als »Unternehmenskultur« bezeichnen wollen. Aber lassen Sie sich von der Einfachheit eines Wortes nicht täuschen: Dieser Sammelbegriff bezeichnet ein höchst komplexes Phänomen, das aus vielen Dimensionen und Ebenen besteht und dort unabhängig voneinander verschiedene Ausprägungen erfahren kann.
Eine Unternehmenskultur repräsentiert die Summe allen Wissens, Denkens, Empfindens und Wahrnehmens, die zum Erfolg des Unternehmens und der darin vereinten Menschen beiträgt. Das kann bewusst oder auch unbewusst geschehen.
Sie umfasst somit auch alle Wertvorstellungen, Normen und Verhaltenserwartungen. Das Denken, Fühlen und Handeln aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist von der Kultur auf allen Stufen geprägt. Man kann also durchaus behaupten, dass durch diese Faktoren das Erscheinungsbild und die Wahrnehmung des Unternehmens maßgeblich geprägt werden.
Subkulturen als Ausreißer
Die Unternehmenskultur durchdringt so gut wie alles und hat Einfluss auf so gut wie alles – was aber nicht bedeutet, dass in sämtlichen Unternehmensbereichen deswegen überall das Gleiche wächst und gedeiht. In bestimmten Abteilungen, Teams, Gruppen und Units können unterschiedliche (und eigenständige) Subkulturen gelebt werden.
Trotz dieser eventuell vorhandenen Strömungen und Richtungen gibt es immer eine einheitliche »Unternehmenskultur«, die von außen (zum Beispiel von potenziellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern) wahrgenommen wird.
Auch innerhalb der Organisation ist die Unternehmenskultur eine gemeinsam gelebte Wertehaltung, die für alle Beteiligten zur Selbstverständlichkeit geworden ist und nicht mehr hinterfragt wird. Umgekehrt wird das alltägliche Verhalten jedes und jeder Einzelnen sehr stark von dieser »Selbstverständlichkeit« geprägt. Das bedeutet aber auch, dass manche Strukturen oder Vorgaben trotz vehementen Einforderns seitens mancher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vielleicht nicht umgesetzt werden können, weil das den derzeit bewusst und unbewusst gelebten Werten widerspricht.
Sie sehen: Je nach Unternehmenskultur erleben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Unternehmen unterschiedlich. In einem Unternehmen funktioniert das Ergebnisorientierte, aber nicht die Zusammenarbeit. Beim nächsten Unternehmen verstehen alle die Werte und Strategie, aber übernehmen keine Verantwortung. Jede Kultur hat ihre Entwicklungsfelder und ihre Stärken.
»Performance Culture« – Veränderungen erkennen und verankern
Auch eine Unternehmenskultur ist ständig im Wandel. Schenkt man ihr wenig Beachtung, geschieht dieser Wandel langsam und relativ unkontrolliert. Kluge Organisationsleitungen sehen der Wahrheit ins Auge und machen sich bewusst Gedanken über notwendige Veränderungen, die mit gezielten Maßnahmen dann auch relativ schnell greifen können.
Eine aktive Auseinandersetzung mit der sogenannten »Performance Culture« bringt Unternehmen dazu, Entwicklungsfelder zu erkennen, die – wie der Name schon sagt – in einer besseren Performance münden. Wir haben also wieder den Bogen zurück zum Erfolg und zum dazu notwendigen Leadership gespannt.
Bei der »Performance Culture« wird der Blick aber nicht nur in die Zukunft gerichtet. Es wird auch aufgezeigt, wo die Stärken des Unternehmens liegen und was diese an konkreten Erfolgen gebracht haben. Kurz gesagt: Das, was gut funktioniert hat, wird weiterhin und bewusster wertgeschätzt.
Die wesentlichen Einflussfaktoren auf eine »Performance Culture«
Entwicklungsfähigkeit: Jedes Unternehmen sollte Veränderungen offen gegenüber sein und die Menschen in der Organisation sollten mit Veränderung gut umgehen können. Das bedeutet, dass Neuerungen wenig Widerstand entgegengebracht wird. Auf der anderen Seite gibt es Unternehmen, die der prinzipiellen Meinung sind, dass sich die Zielgruppen und der Markt nicht ändern. Für aufmerksam Beobachtende ist das ein deutliches Zeichen für fehlende Entwicklungsbereitschaft.
Innovation: Dieses Wort war in Unternehmen noch nie so beliebt und von Aktivitäten begleitet wie jetzt. Innovatives Herangehen und aktives Hinterfragen der eigenen Produkte führen dazu, dass man den Markt besser bedienen kann.
Kommunikation: Die Wichtigkeit von Kommunikation muss man nicht groß erklären. Hier aber ein paar essenzielle Detailfragen dazu, deren Antworten Aufschlüsse über die Qualität der Kommunikation geben können:Werden Informationen wirklich an alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen weitergegeben?Ist das Unternehmen transparent und darin geübt, mit guter und schlechter Kommunikation umzugehen?Verstehen auch alle die Informationen, die weitergegeben werden?
Zusammenarbeit: Dieser Bereich macht oft bei sehr festgefahrenen Strukturen Probleme. Hier geht es sehr stark um das gegenseitige Unterstützen bei der täglichen Arbeit und um das gemeinsame Agieren im Sinne des gesamten Unternehmens. Werden Informationen weitergegeben, die dazu führen, dass für alle ein reibungsloses Vorankommen gesichert ist?
Balance: Gibt es einen bewussten Umgang und ein Verständnis für die Balance jeder Mitarbeiterin und jedes Mitarbeiters in Bezug auf geistige und körperliche Gesundheit sowie ein gesundes Arbeitsumfeld?
Werte und Strategie: Ist allen Menschen im Unternehmen bewusst, welche Werte im Unternehmen wichtig sind, und werden diese auch gelebt? Gibt es klar definierte Konsequenzen, wenn bestimmte Werte nicht gelebt oder sogar bekämpft werden?
Verantwortungsbewusstsein: Ohne Verantwortung keine »High Performance«! Wenn Führungskräfte und Mitarbeitende keine Verantwortung für ihr Handeln und ihre Entscheidungen übernehmen, werden sie nie lernen, mit einem Scheitern oder auch mit dem Unternehmen selbst verantwortungsvoll umzugehen.
Ergebnisorientierung: Viele Führungskräfte denken noch immer, dass Anwesenheit gleich Leistung ist, und diese Gleichung jede weitere Vereinbarung oder Maßnahme überflüssig macht. Doch solange keine klaren Ergebnisse und Ziele vereinbart sind, können diese auch nicht erreicht werden.
Wenn all diese Bereiche von Unternehmen ernst genommen und entwickelt werden, sprechen wir von einer »High Performance Culture«, die nicht nur enormen Raum für künftige Entwicklungen schafft, sondern sogar in schlechten Zeiten immer noch Performance liefert.
Warum können wir das mit einer derartigen Sicherheit behaupten? Dieses Erfolgsmodell ist erprobt und führt in der Regel zu folgenden Phänomenen bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eines Unternehmens:
außergewöhnliches persönliches Engagement in Bezug auf Innovation
steigendes Bedürfnis, gemeinsam etwas zu bewegen und miteinander zu wachsen
hohe Bereitschaft, sich miteinander auszutauschen und voneinander zu lernen
schnelle Reaktion bei Veränderungen und eine positive Grundeinstellung zu Wandel
gegenseitige Unterstützung
hohe Loyalität gegenüber Kolleginnen bzw. Kollegen, Kundinnen bzw. Kunden und dem Unternehmen selbst
wertschätzender Umgang miteinander
Bereitschaft und leidenschaftlicher Einsatz für eigene Höchstleistungen
hohe Bereitschaft, Extrazeit und Aufwand zu investieren
Unterstützung dabei, die Unternehmenswerte nach außen hin sichtbar zu machen
spürbarer Stolz auf das gelebte Wertesystem und den Ruf des Unternehmens
All diese Phänomene sind der größte Nutzen einer »High Performance Culture«.
Nicht alle begrüßen den Wandel
Vielleicht fragen Sie sich jetzt langsam, was das alles mit Leadership zu tun hat. Die Antwort liegt auf der Hand: Jedes Unternehmen wird von Menschen geführt und geleitet. Doch Menschen agieren erwiesenermaßen nicht immer auf der Basis von Vernunft und/oder Wissen.
Obwohl viele Unternehmerinnen und Unternehmer wissen, dass eine gelebte »High Performance Culture« zu weniger Fluktuation und Krankenständen führt und man als Unternehmen mit gutem Ruf eher die besten Expertinnen und Experten vom Markt bekommt, sind es letztlich immer noch einzelne Führungskräfte, die dafür sorgen, eine neue Kultur zu etablieren – oder eben auch nicht.
Wir sprechen hier von einem bestimmten Aspekt des »Faktors Mensch«, an dem schon viele Unternehmen, die mit großen Ambitionen und Leidenschaft in einen Wandel aufgebrochen sind, letztlich gescheitert sind: an den Befindlichkeiten einzelner Personen an Schlüsselstellen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – dazu entschließen, der Etablierung einer »High Performance Culture« skeptisch und bremsend gegenüberzustehen und diese Haltung auch innerhalb ihres Bereichs und im täglichen Umgang mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entsprechend vorzuleben.
Unsere Position dazu zu erkennen, ist keine Raketenwissenschaft.In unserer Arbeit und auch mit diesem Buch vertreten wir einen klaren Standpunkt: Die starr hierarchische Führung hat ausgedient. Es braucht neue Führungsbilder und -rollen, um den geänderten Realitäten gerecht zu werden. Oder anders gesagt: An einem Wandel führt kein Weg vorbei. Um auch in Zukunft Erfolg zu haben, muss sich ein Unternehmen entwickeln und das nächste Level erreichen – egal, ob Sie den neuen Weg selbst gehen oder Ihre Führungskräfte sich auf den Weg machen sollen.
Es gibt hier nichts »auszusitzen« oder abzuwarten. Viele »moderne« Arbeits- und Erfolgsmodelle sind nur mit neuem Führungsverhalten möglich. Der Weg dahin ist herausfordernd, aber äußerst spannend. Genießen Sie ihn!
Das ungepflegte Gehege
»Das wird nie funktionieren«, sagte Frau Himmelblau und schenkte ihrem Mann am Frühstückstisch noch etwas von ihrem Spezial-Kaffee ein.
Herr Himmelblau murrte anerkennend: »Unser Kaffee ist einfach der Beste.«
Es war alte Familientradition, dass dem Frühstückskaffee der Himmelblaus stets eine Prise Zimt hinzugefügt wird. Nicht viel, aber gerade so viel, dass man den Unterschied merkt und schätzt.
»Lenke nicht vom Thema ab! Ich bleibe dabei: Das wird nie funktionieren!«, blieb die Gattin hart. »Und ich weiß auch gar nicht, wie du wieder auf diese verrückte Idee kommst!«
Herr Himmelblau setzte sich in seinem Sessel auf – eine Haltung, die er stets unbewusst einnahm, wenn er sich überzeugend rechtfertigen wollte. »Ich erkläre es dir noch einmal. So schwer ist das nicht! Wenn ich in unserem Garten ein frei zugängliches Gehege errichte, das völlig im Einklang mit der Natur steht, dann wird es hier bald von Wildtieren nur so wimmeln, an deren Anblick wir uns erfreuen können.«
Frau Himmelblau nahm ihre unbewusste Überzeugungshaltung ein – in die Hüften gestemmten Hände – und sah ihren Gatten herausfordernd an. »Und dein Im-Einklang-mit-der-Natur-Stehen bedeutet, wie ich dir jetzt schon mehrmals klarzumachen versuche, dass du lediglich ein kleines offenes Gatter aufstellst und auf ein Wunder hoffst, das nicht eintreten wird.«
»Sehr richtig ... also der erste Teil. Keine Wasserschüssel, kein Futter, kein aufgeschüttetes Stroh, keine Hütte. Nur Natur. Da fühlen sich Wildtiere wohl.«
Frau Himmelblau stellte eine neue Kanne Kaffee auf den Tisch. »Das erinnert mich an dein damaliges Experiment, als du Bambus angepflanzt hast, um Koalas anzulocken. Diesmal ist es nur aus anderen Gründen aussichtlos.«
»Wieso? Ich bin sicher, dass es hier Wildtiere gibt.«
»Und weshalb sollen diese ausgerechnet auf unser eingezäuntes Stück Wiese kommen?«
Herr Himmelblau verdrehte die Augen: »Zum letzten Mal: weil es so schön naturbelassen ist. Unser Gras wächst hier seit ...« – er dachte kurz nach – »... 19 Jahren völlig unbehandelt.«
»Aber dir ist schon bewusst, dass unser Grundstück an einen Wald angrenzt, der hier seit ...« – sie tat kurz so, als ob sie nachdenken würde – »... Hunderten Jahren völlig von selbst und ... Achtung! ... wild wächst. Wo, denkst du, werden sich Wildtiere lieber aufhalten?«
Herr Himmelblau tat beschäftigt, um sich Zeit für Gegenargumente zu verschaffen. »Man muss für alles offen sein, speziell für neue Ideen, die vielleicht auf den ersten Blick völlig unlogisch erscheinen. Das habe ich in einem Buch gelesen.«
»Das gilt aber nur für Ideen, die zumindest im Ansatz Erfolg versprechen und noch nicht mehrmals erfolgslos ausprobiert wurden.«
Herr Himmelblau trank seinen letzten Schluck Kaffee und begnügte sich mit einem Schulterzucken.
Frau Himmelblau schenkte sich den frisch aufgebrühten Kaffee ein und sprach unbeeindruckt weiter. »Ich fasse für dich kurz deine bisherigen Versuche zusammen, außergewöhnliche Tiere in unseren Garten zu locken: Du hattest entweder eine Umgebung für Tiere geschaffen, die in unseren Breiten nicht existieren, oder hattest Lockmittel ausgelegt, die Ratten, Mäuse und Marder in Massen angezogen haben, die dann unseren Garten überbevölkert und verwüstet haben. Danach mussten wir viel Geld ausgeben, um die Schädlinge wieder loszuwerden.«
Herr Himmelblau schaute demonstrativ in die andere Richtung.
Aber seine Gattin war noch nicht fertig: »Jetzt willst du gar nichts tun und rechnest damit, dass demnächst Einhörner majestätisch unter unserem Apfelbaum grasen.«
»Pfff, Einhörner! Ist es zu viel verlangt, wenn ich Bienen, Eichhörnchen und Vögel sehen will?!«
»Nein, aber dann würde ich es an deiner Stelle mit Wildblumen, Nüssen oder Vogelhäuschen versuchen – also mit wertvollen Angeboten, die diese Wildtiere tatsächlich brauchen und die sie von einem Platz, an dem sie gern verweilen sollen, auch erwarten.«
Frau Himmelblau schenkte ihrem Gatten frischen Kaffee ein.
Dieser nahm einen Schluck, riss die Augen auf und sagte empört: »Da fehlt aber was!«
Frau Himmelblau ging lächelnd zurück in die Küche, um den Zimt zu holen, und sagte lächelnd: »Siehst du?«
Stellen Sie sich folgende Fragen:
In welchem Umfeld bewege ich mich?
Wie ist mein Team oder meine Organisation aufgestellt? Was brauchen ich im Moment, um mehr Klarheit zu haben?
Was will ich in der Organisation beitragen, um eine bessere Kultur zu erhalten?
Wo liegen meine Entwicklungsfelder im Team?
Je deutlicher man erkennt, in welchem Umfeld man agiert, desto leichter und effizienter kann man es führen.Gleichzeitig gewinnt man die Erkenntnis, dass man nicht alles beeinflussen kann. Jeder Leader stößt an Grenzen.
Aus dem Bauch heraus führen – Instinkte als verlässlicher und trügerischer Kompass
Nun sind wir also dort, wo es in einem Führungsbuch klarerweise hingehen muss: Sehr viel dreht sich bei diesem Thema um das, was uns Menschen motiviert, antreibt und handeln lässt. Nicht umsonst sind so viele Shakespeare-Dramen rund um das Leben von Führungspersönlichkeiten, Anführern und Königen gestrickt.
Die essenziellen menschlichen Fragen sind sehr oft unmittelbar mit dem Führungsthema und der Art unseres Handelns verbunden:
Warum tun wir etwas?
Was ist der Sinn dahinter?
Was können wir beeinflussen?
Warum können wir manche Dinge nicht beeinflussen?
Vielleicht sind wir beruflich nicht alle in Positionen, in denen wir mit der Führung anderer betraut sind, aber dennoch sind wir alle Teil eines Gefüges, in dem Führung eine wichtige Rolle spielt: Das System »Mensch – Unternehmen – Mitarbeitende« weist jedem zu jedem Zeitpunkt eine Rolle zu, in der man im Laufe der Zeit positive und negative Erfahrungen macht. Lassen Sie uns diese gesammelten Erfahrungen als »persönlichen Rucksack« betrachten, den wir alle mit uns herumtragen.
Warum das wichtig ist? Dieser Rucksack ist nicht nur ein ständig wachsender Erfahrungsschatz, sondern auch eine wesentliche Grundlage für unsere Entscheidungen – auch wenn uns Letzteres vielleicht gar nicht so wirklich bewusst ist. Ein konkretes Beispiel: Wir umgeben uns bevorzugt mit Menschen, die uns an Menschen erinnern, die wir mit einer positiven Assoziation abgespeichert haben.
Aber es gibt auch andere typische Situationen: Wir entscheiden uns für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die uns womöglich an uns selbst in dieser Phase unserer Karriere erinnern, und wir arbeiten in Organisationen, die uns aus welchen Gründen auch immer ein gutes Gefühl vermitteln. Das ist für sich betrachtet nichts Verwerfliches, aber es schränkt uns in unserer Wahlfreiheit ein, indem es unseren Instinkt und unsere Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion mit warmen Gefühlen des Bekannten überspült und sehr oft überstimmt.
Wir schalten also – ganz wie so mancher tragische shakespearesche Held – vor lauter Freude über Bekanntes oder Ersehntes und dem da-raus resultierenden Überschwang schon einmal unser Bauchgefühl und unser Denken aus. Wir folgen dann unbewusst unseren Erfahrungen und halten uns an bereits beschrittene Wege. Das erscheint uns sicher, vernünftig und klug – ist aus Perspektive unserer Führungstypen aber eine klassische risikoarme »Manager«-Entscheidung.
Auch wenn sich etwas im Moment vielleicht wie eine Bauchentscheidung anfühlt, ist es keine. Es hat eher mit der Furcht vor dem Unbekannten zu tun, die ein Leader nie treffen würde. Denn Leader gründen ihre Entscheidungen – wie wir bereits wissen – auf Mut und Furchtlosigkeit vor dem Neuen, dem Unbekannten, dem Unpopulären, der Herausforderung, dem Aufwand etc.
Der Beinah-Gipfelsturm
Am Fuß eines mittelhohen Berges in den Alpen – bei strahlendem Sonnenschein macht sich eine Gruppe ambitionierter Hobbywanderer auf den Weg – angeführt von einem 45-Jährigen, der im Dorf als »Edelweiß-Sepp« bekannt ist. Er schreitet forsch voran.
Ein Gruppenteilnehmer aus Hamburg nähert sich und spricht ihn an: »Schöne Aufnäher haben Sie da auf Ihrem Hut.«
Sepp antwortet: »Jo, i bin scho oft wo drobn gwesen.«
Hamburger: »Wie bitte?«
Sepp bemüht sich, Hochdeutsch zu sprechen: »Ich war schon oft auf Bergen.«
Hamburger: »Dann sind Sie ja wohl eine Koryphäe.«
Sepp: »Wos ...Wie bitte?«
Hamburger: »Als Koryphäe bezeichnete man im alten Griechenland jemanden, der an der Spitze steht. Und interessanterweise bedeutet es auch Scheitel oder Gipfel.«
Sepp: »Aha.«
Hamburger: »Apropos: Wie lange werden wir denn zum Gipfel unterwegs sein?«
Sepp: »Da Hupfnakogel is a Hund.«
Hamburger: »Wie bitte?«
Sepp – wieder in bemühtem Hochdeutsch: »Der Hupfnerkogel ist ein Hund.«
Hamburger: »Das beantwortet aber nicht meine Frage.«
Sepp: »I waß net, ob des überhaupt was wird.«
Hamburger: »Was reden Sie da? Es ist doch herrlicher Sonnenschein ... Kaiserwetter, wie ihr hier sagt!«
Sepp: »Ehh.«
Hamburger: »Jetzt erklären Sie sich doch, guter Mann!«
Sepp: »Do hinten kummt a Wetter.«
Hamburger: »Wo?«
Sepp deutet mit dem Kopf in Richtung eines Bergkamms: »Do hinten. Des gfoit ma net.«
Der Hamburger sucht den Himmel ab: »Also ich kann da beim besten Willen ...«
Sepp: »Sie san jo a ka ...wie ham Sie gsagt ...?«
Hamburger: »Koryphäe.«
Sepp: »Genau.«
Hamburger: »Ja, aber was heißt das jetzt? Meine Familie und ich haben uns schon so auf den Ausblick vom Gipfel gefreut ...und dafür ja auch eine schöne Stange Geld bezahlt. Bekommen wir das dann wieder?«
Sepp lacht: »Na, des geht net. I bin ja net fürs Wetter verantwortlich.« Und nach kurzer Pause: »Aber der Ausblick vom Graualm-Hüttenwirt is ja a schön.«
Hamburger: »Von wo?«
Sepp: »Da kemma ei’kehrn.«
Hamburger: »Wie bitte?«
Sepp – wieder in bemühtem Hochdeutsch: »Da können wir uns erfrischen ... und vor dem Wetter schützen.«
Hamburger: »Vor welchem Wetter?«
Sepp deutet wieder nur stumm mit dem Kopf zum blauen Himmel über dem Bergkamm.
Hamburger: »Ah ja, DAS Wetter. Dann sage ich das mal lieber den anderen.« Er lässt sich zurückfallen und spricht mit den anderen Wanderern.
Zwei Stunden später sitzt die Gruppe auf der sonnenüberfluteten Terrasse der Graualm und ordert – auf Anregung des »Edelweiß-Sepp« – große Mengen Bier.
»Die erste Runde geht auf Edelweiß-Sepp-Alpintours«, brüllt der Bergführer in die Runde – eine Ansage, die von der deutschen Urlaubergruppe mit großem Gejohle beantwortet wird. Nach und nach legt sich auch die Enttäuschung über den abgesagten Gipfelsturm.
Ein paar Runden später ist von dem befürchteten Unwetter noch immer nichts zu sehen. Im Gegenteil: Viele Gruppenmitglieder haben ihre Jacken ausgezogen und es sich in den bereitstehenden Liegestühlen bequem gemacht.
Nur einer aus der Gruppe, der Hamburger, hat das ursprüngliche Ziel des Projekts noch nicht vergessen: »Sagen Sie mal, könnten wir nicht jetzt noch hinauf zum Gipfel?«
Sepp: »Des geht sie nimma aus.«
Hamburger: »Wie?«
Sepp: »Es wird dann glei’ dunkel.« Er deutet dazu stumm mit dem Kopf auf den gegenüberliegenden Bergkamm.
Hamburger: »Mensch, Sie sind aber wirklich eine alpine Koryphäe. Da ziehe ich meinen Hut.«
Sepp blickt auf die kleine Speisekarte der Hütte: »Vielleicht sollt’ ma vor dem Abstieg noch ein Mittagessen einnehmen.«
Systemisches Denken – den Mut des Leaders in sich selbst finden
Was braucht es, um mutig genug zu sein, den ersten Weg, den uns die Angst vorschlägt, NICHT zu nehmen, sondern in uns selbst andere Möglichkeiten auszuloten? Wo in uns sitzt der verlässliche Kompass bzw. der Instinkt für die wirklich beste Lösung in einer Situation? Was hilft uns dabei, nicht nur aufgrund des bereits Erlebten zu entscheiden? Wo ist die Tür zum systemischen Denken, die es dafür aufzustoßen gilt?
Lassen Sie uns dazu ein wenig in die Theorie gehen und erforschen, was bekannte Denker dazu meinen: Biologen wie Humberto Maturana und Francisco Varela zählen ebenso zum systemischen Wissensfeld wie der Physiker Fritjof Capra, der Mathematiker und Physiker Heinz von Förster, der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick und die Gehirnforscher Gerhard Roth, Joachim Bauer und Gerald Hüther.
Was ist das Besondere am systemischen Denken und warum ist es gerade hier so wichtig? Es unterscheidet ganz klar nicht lebende Systeme (Maschinen und Technik), lebende Systeme (Organismen, Tiere, Pflanzen, Ökosysteme und Menschen) und soziale Systeme (Paare, Gruppen und Organisationen). Das erscheint vielleicht selbstverständlich und logisch. Dennoch war es nicht immer so. Lange Zeit – und wir reden hier von wirklich langer Zeit – wurden in der Denk- und Verhaltensforschung auch lebende Systeme als »Maschinen« betrachtet. Dementsprechend drehte sich in der Auslotung des menschlichen Verhaltens das meiste um technische Prozesse, Abläufe und ein fertiges Endprodukt (Ziel).
Das systemische Denken – als Zusammenspiel von Kybernetik, Konstruktivismus und Systemtheorie – änderte die Denkrichtung: Die Kybernetik erforscht selbst organisierte Steuerungsprozesse und die vielfältigen und unberechenbaren Wechselwirkungen in einem System. Allerdings können Menschen meist Ursache und Wirkung nicht unterscheiden – sie wissen daher auch nicht, warum sie so handeln, wie sie handeln. Im Bemühen, eine Ursache zu erkennen, vertrauen sie dann eher auf ihren Intellekt anstatt auf ihre Instinkte. Wem aber die Ursache seines Handels bewusst ist, der kann auch sein Verhalten verändern.
Sehen wir uns zur besseren Veranschaulichung ein Beispiel aus der Medizin an: Wenn Sie nicht wissen, woher Ihre Kopfschmerzen kommen, haben Sie auch keine Ahnung, was Sie verändern könnten. Wissen Sie aber, dass die Kopfschmerzen von Verspannungen – und nicht vom Kopf selbst – herrühren, wissen Sie: Eine Massage und mehr Bewegung wären hilfreich. Sie könnten auf Basis der bekannten Ursache Ihr Verhalten verändern, damit Sie eine andere Wirkung (weniger Kopfschmerzen) erzielen.
Genauso ist es in der Führung. Wenn Sie wissen, warum Sie handeln, wie Sie handeln – z. B. auf einen bestimmten Mitarbeiter aggressiv reagieren –, sind Sie in der Lage, sich anders zu verhalten. Ohne bewusste Grundlagenforschung fällt Ihnen vielleicht auf, dass Sie sich unfair dieser Person gegenüber verhalten. Wenn Sie aber wissen, dass das permanente Zuspätkommen des Kollegen der Grund ist, würden Sie andere, sinnvollere Handlungsansätze erkennen. Dann würde es Ihnen höchstwahrscheinlich sinnvoller erscheinen, mit dem Mitarbeiter ein Gespräch über Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und Disziplin zu führen.
Aber das ist nicht das Ende der Erkenntnis. Im Rahmen eines solchen Gesprächs wäre es auch sinnvoll, die Ursache der permanenten Unpünktlichkeit herauszufinden, um das Verhalten des Mitarbeiters zu verändern. Schließlich macht es einen großen Unterschied, ob er zu spät kommt, weil die Tochter nicht rechtzeitig in den Kindergarten gehen will oder weil er sich die Nächte um die Ohren schlägt und in der Früh nicht in die Gänge kommt.
Systemtheorie beinhaltet aber auch den Konstruktivismus, der alles noch ein wenig komplexer macht. Alles basiert auf den essenziellen Fragen der Erkenntnistheorie:
Haben wir direkten Zugang zu der Realität, die uns umgibt?
Können wir die Welt wirklich direkt erkennen?
Der Konstruktivismus verneint beides und behauptet stattdessen, dass Wahrnehmungen (auch als Instinkte zu bezeichnen) nicht die tatsächliche Wirklichkeit, sondern lediglich Selektionen und Interpretationen unseres Gehirns sind, die wir auf Basis unserer Erfahrung treffen. Dieses von uns selbst unbewusst ausgewählte subjektive »Konstrukt« hat also nicht unbedingt etwas mit der äußerlichen Realität zu tun.
Wen dieses spannende Thema näher interessiert: Die Bücher von Paul Watzlawick sind weltberühmte Pionierarbeit auf diesem Gebiet und wärmstens zu empfehlen.
Aber bleiben wir beim Thema Führung: Der Konstruktivismus stellt einen unangenehmen Abschied von Objektivität, Wahrheit und Wirklichkeit dar. Für eine Führungskraft bedeutet das nämlich: Sie hat keine bessere oder »wahrhaftigere« Sichtweise auf die Dinge als ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Perspektive ist nur ... anders.
Noch einmal zum Auf-der-Zunge-zergehen-Lassen: Alle Menschen haben somit – egal ob Führungsposition oder nicht – eine rein subjektive Wahrnehmung, die niemals einen Anspruch auf ein »Besser, Klüger oder Richtiger« erheben kann. Wenn Sie das nächste Mal in einer Situation sind, in der jemand vehement auf sein Recht pocht (oder in der Sie sich selbst dabei ertappen), denken Sie an den Konstruktivismus. Dann kommt die Bescheidenheit von ganz allein.
Schauen wir uns noch kurz die Systemtheorie als dritten Bestandteil des systemischen Denkens an, die wesentlich von dem deutschen Soziologen und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann geprägt wurde: Hier dreht sich alles um soziale Systeme und kommunikative Zusammenschlüsse von Menschen. Die zentrale Botschaft: Menschen, Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter und Führungskräfte, werden nicht als Elemente von Organisationen, sondern als relevante Umwelt des Systems gesehen.
Das stellt – Sie haben es wahrscheinlich schon geahnt – einen weiteren radikalen Bruch mit den ansonsten üblichen Vorstellungen des Zusammenspiels von Personen und Organisationen dar. Die Idee dahinter kann man aber noch radikaler formulieren: Der Mensch ist möglicherweise austauschbar und ein System (bzw. eine Position) lässt sich durch einzelne Personen nicht verändern.
Was bedeuten all diese Hintergründe jetzt konkret für Sie als Führungsperson? Lassen Sie uns Ihnen eine kompakte Zusammenfassung geben:
Lebende Systeme – also Systeme mit menschlicher Beteiligung – sind eigensinnig, selbstgesteuert, unberechenbar und zu ungeahnten Entwicklung fähig.
Allzu starre Führung kann nach hinten losgehen.
Wenig bis gar keine Führung kann zum Chaos führen.
Wir Menschen unterscheiden uns hier sehr stark von nicht lebenden Systemen (Maschinen), deren lineare und mechanistische Logik unglücklicherweise das Weltbild der letzten 500 Jahre geprägt hat.
Unglücklicherweise? Aus gegenwärtiger Sicht ja, denn leider hat dieses Denken dazu geführt, dass wir unsere Instinkte verdrängt haben. Da Organisationen jedoch nicht wie Maschinen funktionieren, entgeht einem ohne sensible Instinkte Wesentliches – in einer Gruppe, in einem Team, in einer Abteilung oder auch in der Unternehmensführung.
Die gute Nachricht: Der Instinkt lässt sich wieder einschalten und nützen! Doch das erfordert, dass Sie einen ehrlichen Blick in sich selbst wagen und dort an ein paar »Schrauben« drehen.
Auch wenn wir Menschen und keine Maschinen sind, haben wir im metaphorischen Sinn ein paar »Knöpfe«, die wir selbst unbewusst drücken und die uns, anstatt nur instinktiv zu fühlen, auch immer wieder denken und handeln lassen.
Werfen Sie Ihren persönlichen Ballast ab!
Als Menschen halten wir in den verschiedenen Phasen unseres Lebens nur selten inne und stellen uns die Frage, warum wir eigentlich sind, wer wir sind. Wir versuchen uns so gut wie nie jene Erfahrungen in Erinnerung zu rufen, die uns geprägt haben. Wir sind selten willens dazu, ausgiebig in den Rückspiegel zu blicken und den Ursprung jener Aspekte von uns selbst zu lokalisieren, von denen wir glauben, dass sie »angeboren« wurden. Aber dass es da Schlüsselerlebnisse, Erziehungserfolge, Aha-Momente, Autoritäten und Geschichten geben muss, liegt auf der Hand – oder besser gesagt in unserem Gehirn.
Das Gehirn ist unser zentrales Organ, in dem menschliche Erfahrungen gespeichert werden. Der Mensch kommt mit einer Vielzahl angeborener Instinkte zur Welt und muss diese jeweils seiner Umwelt – seinen sozialen Systemen – anpassen. Dabei kann er motiviert oder enttäuscht werden. Das bedeutet: Wir verhalten uns in verschiedenen Umgebungen möglicherweise anders, weil wir unterschiedliches Feedback auf unser Verhalten erhalten.
Instinkte sind keine genetischen Urtriebe, nichts Esoterisches, Unkontrollierbares oder sogar Irrationales. Vielmehr spielen viele unterschiedliche Kräfte zusammen, die Instinkte in uns entstehen lassen. Und bei diesen Instinkten geht es immer (noch) ums Überleben. Da wir aber keine Jäger mehr sind, »kämpfen« wir heute gegen andere Gefahren: Es geht um unser psychisches, soziales, wirtschaftliches und berufliches Überleben.
Aber lassen Sie uns ein wenig in die Theorie gehen, damit all das als Bestandteil unseres Arbeitslebens verständlicher wird: Welche Instinkte sind tatsächlich angeboren und was erleben wir unmittelbar über unsere Erfahrungen?
Instinktverhalten ist die Motivation, der Drang und die Tendenz eines Menschen, auf bestimmte Art auf etwas zu reagieren. Ein Großteil dieses Instinktverhaltens ist tatsächlich angeboren und besteht aus verschiedenen Verhaltensbausteinen. Diese »Instinktbewegungen« werden vom Körper kontrolliert und lassen uns – wie der Name schon sagt – instinktiv handeln. Ausgelöst werden sie von Schlüsselreizen, die wiederum von unserer Wahrnehmung ausgelöst werden.
Diese angeborenen instinktiven Handlungen sind permanenter Bestandteil unseres Lebens. Allerdings laufen sie so schnell ab, dass wir sie nicht bewusst wahrnehmen. Unsere Reflexe sind – wenn es um Gefahr, Atmung und Nahrungsaufnahme geht – in der menschlichen Grundausstattung enthalten und laufen sehr ähnlich ab. Wenn es jedoch um Reaktionen auf unsere Umwelt geht, entwickeln wir im Laufe der Zeit eigene Reflexe und bauen darauf unser individuelles Instinktverhalten auf.
Was unseren Instinkt darüber hinaus prägt, ist erworbenes Verhalten, das wir uns von klein auf aneignen. Sprechen, Laufen und komplexere Bewegungen bekommen wir nicht über die Gene mit, sondern wir müssen es selbst erlernen – genauso wie das Verstehen von Zusammenhängen und soziales Verhalten.
Wir eignen uns also Wissen an und kombinieren dieses Wissen, um bei ähnlichen Problemen das Erlernte und Verstandene neu anzuwenden bzw. zu erweitern. Ebenso lernen wir den Umgang mit Menschen durch den Umgang mit Menschen. Was letztendlich dabei herauskommt, ist also in großem Maße davon abhängig, welche Umgebung und welche Menschen auf uns Einfluss genommen haben (Erziehung, Familie, Schule) bzw. welchen Menschen wir Einfluss gegeben haben (Freunde, Vorbilder, Idole).
Ihr Leben – Ihr Rucksack – Ihr Instinktrepertoire
Stellen Sie sich alle diese Einflüsse Ihres bisherigen Lebens vor und stecken Sie diese gedanklich in einen großen Rucksack. Aus diesem Rucksack heraus wirken alle Ihre Verhaltensmuster, wenn Sie instinktiv handeln. Sie sehen: Instinkt ist keine reine Bauchsache und kein Überbleibsel im Reptiliengehirn. Er ist zu einem großen Teil »hausgemacht« und sehr persönlich. Die gute Nachricht: Sie können bestimmen, was Sie in Zukunft in Ihren Rucksack packen!
Das menschliche System ist auf Wahrnehmung ausgelegt: Was wir bei anderen Menschen oder in unserer Umgebung wahrnehmen, gleichen wir mit unseren inneren Erfahrungen ab. Erhebt jemand die Hand gegen uns, werden wir reflexartig unsere Hände zum Schutz vors Gesicht halten. Finden wir uns in einem unangenehmen Gespräch wieder, in dem wir angebrüllt werden, kramen wir, metaphorisch gesprochen, in der »Soziale-Erfahrungen-Sektion« unseres Rucksacks. Haben Sie schon früh gelernt, sich gegen verbale Angriffe zu wehren, werden Sie Ihrem Gegenüber schnell klarmachen, dass Sie nicht so mit sich umspringen lassen. Gab es in Ihrer Kindheit jedoch Menschen, die Ihnen gegenüber regelmäßig laut wurden, werden Sie womöglich eine passive Schutzhaltung einnehmen und die Tirade still und gebückt über sich ergehen lassen.
Sie sehen: Dieser Rucksack ist auch für Führungskräfte ein wichtiger Referenzpunkt, den es zu beachten gilt. Bereits mit 30 oder 35 Jahren hat eine Führungskraft eine Menge positive und negative Erfahrungen gemacht, die in ihrem Rucksack programmiert sind. Jeder Mitarbeitende, der mit seinem Verhalten an diese Erfahrungen erinnert, löst unweigerlich instinktive Reaktionen aus, die im Moment vielleicht als gut und richtig empfunden werden – aber deswegen nicht unbedingt die besten Entscheidungen sind.
Wir reagieren auf gegenwärtige Erlebnisse instinktiv so, wie ähnliche frühere Erfahrungen uns geprägt haben.
Aber natürlich ist das nur eine Seite des Ganzen: Denn schließlich tragen nicht nur Führungskräfte, sondern alle Menschen ihre persönlichen Rucksäcke. Somit treffen in Wahrheit bei jeder zwischenmenschlichen Begegnung Rucksack auf Rucksack bzw. persönliche Erfahrungen auf persönliche Erfahrungen. Unbewusst in Kauf genommen ergibt das einen Emotionsbaukasten ohne Anleitung, der Sympathie, Hass, Gleichgültigkeit, Anziehung, Unbehagen und viele andere Dinge zwischen zwei Menschen hervorbringen kann.
Das alles passiert dank der menschlichen Spiegelneuronen in Sekundenbruchteilen und manchmal sogar, ohne dass dabei ein einziges Wort gewechselt werden muss. Menschen sind in der Lage, ihre Rucksäcke in wenigen Momenten abzugleichen und dadurch zu erkennen, ob ihnen ihr Gegenüber sympathisch ist oder nicht.
Wir gleichen in den ersten MInuten unseres Aufeinandertreffens Rucksäcke ab.
Instinktiv auf der Suche nach sich selbst
Aber warum erzählen wir Ihnen das an dieser Stelle und was hat das denn nun mit Führungsverhalten zu tun?
Es ist nicht nur wichtig für Sie, dass Sie erkennen, dass Sie einen persönlichen Instinkt-Rucksack mit sich herumtragen, wie sie ihn im Laufe der Zeit zusammengestellt haben und wie er unbewusst ihr Verhalten beeinflusst – für Sie als (angehende) Führungskraft ist es besonders wichtig, dass Sie auch erkennen, wie maßgeblich er alle Ihre Entscheidungen beeinflusst.
Ein Beispiel: Wenn Führungskräfte ihr Team personell zusammenstellen bzw. verändern oder aufstocken, hat dieser Rucksack meistens eine sehr maßgebliche Funktion. Üblicherweise endet der Prozess damit, dass das Team in seiner Gesamtheit nicht sehr viel anders tickt als der Chef selbst. Oder anders formuliert: Aufgrund ähnlicher Hintergründe, Ansichten, Erfahrungen und Weltbilder kommt man gut miteinander aus.
Ist das gut? Auf den ersten Blick schon. Wer fühlt sich nicht gerne wohl und wertgeschätzt in einer Gruppe? Aber wenn man ein bisschen hinter den Wellnessaspekt der Entscheidung blickt (oder blicken lässt), zeigt sich, dass man mit der Entscheidung für jene, die so ähnlich ticken wie man selbst, der Gruppe einen wichtigen Faktor von vornherein genommen hat: den anderen Blickwinkel, die anderen Ideen, den anderen Background, die neuen Sichtweisen. Doch genau das ist für ein Team, eine Gruppe, eine Abteilung, eine Organisation wichtig, um neue Lösungen zu finden.
Dieser typischen Rucksack-Entscheidung begegnen Sie, wenn sie bewusst hinschauen, wahrscheinlich auch in Ihrem Freundeskreis oder in Gruppen, denen Sie auf Social Media angehören. Bei ähnlichen Erfahrungen und Haltungen fühlen wir uns »instinktiv wohl«. Dort können wir auch Dinge gut annehmen, weil wir zu wissen glauben: Der oder die andere versteht uns.
Problematisch wird es aber, wenn wir im Berufsleben auf Menschen treffen, die offensichtlich ganz anders ticken als wir selbst. Doch dabei stoßen – wenn wir noch einmal gemeinsam in die Metaebene wechseln – lediglich zwei Menschen mit völlig verschieden gepackten Rucksäcken aufeinander und reagieren instinktiv ablehnend aufeinander.
Werfen Sie doch noch einmal einen Blick auf die Grafik von Seite 45. Sie werden erkennen, dass die andere Person weder »böse« ist, noch Ihnen etwas Böses will. Sie hat lediglich andere Erfahrungen als Sie.
Die Erkenntnis, dass Menschen in der Regel nichts »Böses« tun, sondern vielmehr aufgrund von fehlender Erfahrung, Unwissenheit oder auch aus Überzeugung andere Wege als »richtig« empfinden, ist eine wesentliche Erkenntnis für Führungskräfte, die als Leader agieren wollen. Der Weg dorthin führt über die bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Rucksack und das Aha-Erlebnis, dass es in der Begegnung mit anderen auf elementarer Ebene um unterschiedliche Erfahrungen und nie um vordergründige persönliche Geringschätzung geht.
Wer anderen eine andere Meinung nicht mehr grundsätzlich krummnimmt, ist dazu in der Lage, einen geraden Weg zu gehen und vorzuzeigen. Wer das Verhalten anderer nicht mehr persönlich nimmt, kann als Person beeindrucken und im Idealfall auch andere damit authentisch, wertschätzend und respektvoll führen.
Stellen Sie sich folgende Fragen:
Was habe ich in meinem Rucksack, das meine Führung beeinflusst?
An welche Person erinnert mich mein größter Rivale oder Feind im Unternehmen?
Welches Teammitglied kann ich nicht leiden? An wen erinnert mich diese Person?
Welches Umfeld brauche ich, um gut führen zu können?
Vertraue ich meinen Instinkten?
Wie kann ich in nächster Zeit meine Instinkte schärfen?
Leader sind unweigerlich in Kontakt mit Menschen. Dabei ist wichtig, welche Rolle Sie einnehmen, an wen Sie jemanden erinnern und was andere in Ihnen auslösen. Ihr Rucksack führt Sie und stellt Sie gleichzeitig immer wieder vor neue Herausforderungen im Alltag.
Aufwachen und aufmachen – Antworten und Lösungen in sich selbst finden
Die Dinge einigermaßen klar zu erkennen und nicht mehr alles persönlich zu nehmen, ist jedoch nur ein erster Schritt. Letztlich müssen die neuen Erkenntnisse auch ins Tun einfließen. Nur dann macht man »etwas aus sich«, das auch für andere erlebbar ist.
Aber wie kommt man dorthin? Der klassische und manchmal auch einzig denkbare Weg ist für viele die Teilnahme an möglichst vielen Führungsworkshops. Nur das – so glauben viele – bringt einen auf den richtigen Kurs, ins »bessere Führen«.
Wir wollen in keiner Weise abstreiten, dass Workshops und Lehrgänge tatsächlich gut und sinnvoll sind. Allerdings ist es einer der größten Fehler, zu glauben, dass ein Workshop oder eine ähnliche Veranstaltung jegliche Arbeit an sich selbst 100-prozentig ersetzt und Menschen an zwei, drei Workshop-Tagen wie von Zauberhand in Leadertypen verwandelt.
Trotz aller Ambitionen auf ein wichtiges Führungstool, das im Rahmen eines Workshops vielleicht kurz angesprochen und auch kurz geübt werden kann, vergessen viele etwas, das man eigentlich schon davor entdecken, trainieren und wertschätzen muss und dem man zu vertrauen lernen sollte: die eigene Wahrnehmung.
Tatsächlich ist die Wahrnehmung jenes menschliche Werkzeug, das heutzutage in unseren Breiten am wenigsten geschult wird, obwohl es speziell in der Führung anderer Menschen am dringendsten benötigt wird.
Die menschliche Wahrnehmung ist eine Gabe, die – virtuos eingesetzt – sogar manchmal wie Magie wirken kann: Wir können prinzipiell, ohne ein Wort zu wechseln, erkennen, wie es jemand anderem geht. Das ist eine Basiseigenschaft, mit der wir alle von Kindheit an ausgestattet sind. Und simpel ist sie auch noch: Wir nehmen Dinge wahr und verhalten uns danach.
Auch wenn uns als Kinder vielleicht noch die nötigen Worte fehlen, um uns adäquat verbal auszudrücken, sind uns Eindrücke und Empfindungen von außen nicht nur vertraut, sondern wir suchen sie geradezu. Das Gras der Wiese unter den nackten Füßen zu spüren, ist für viele Erwachsene geradezu eine Klischee-Empfindung für eine unbeschwerte Kindheit und Jugend. Und dennoch wiederholen wir sie später so gut wie kaum bewusst – vielleicht einmal im Jahr, wenn mit uns im Sommerurlaub die nostalgischen Pferde durchgehen. Aber selbst dann kommt uns das schnell irgendwie albern oder auch enttäuschend vor, weil es die erlebte Erfahrung mit der in der Erinnerung abgespeicherten doch nicht aufnehmen kann.
Die menschliche Wahrnehmungsebenen: erkennen, verstehen, sich selbst wahrnehmen
Wie ist es möglich, dass unsere Wahrnehmung mit steigendem Alter dermaßen abstumpft? Warum fühlen wir manchmal sogar gar nichts mehr? Die traurige Wahrheit ist, dass die Wahrnehmung ein sehr sensibles menschliches Spezialinstrument ist, das bei »Überbelastung« schnell kaputtgehen kann oder etwas ist, das man unbewusst auch sehr oft ganz ausschaltet, um sich zu schützen. Dafür verantwortlich ist letztlich jede und jeder selbst.
Mögliche Auslöser gibt es entlang des Lebensweges viele: Menschen, die Grenzen überschreiten, keine Distanz einhalten, uns einfach so viel zumuten, dass wir uns künftig lieber auf unser rationales Wissen verlassen, anstatt auf unser Bauchgefühl zu hören. Und so sehr uns Wissen dienlich sein kann: Wenn es in manchen Situationen die Oberhand gewinnt, indem es zu Vorsicht, Distanz und Oberflächlichkeit »rät«, berauben wir uns selbst eines zutiefst menschlichen Sinns, der uns (an dieser Stelle ein gedanklicher Gruß an Viktor und Hermine ins Robotiklabor) dann womöglich wirklich zu Führungsrobotern werden lässt.
Wissen ist bekanntlich Macht – aber es ist nicht alles und es benötigt Updates. Was man im Kopf hat, reicht also nicht aus, um aus der Perspektive eines Leaders einen guten Job als Führungskraft zu machen.
Schauen wir uns das anhand eines konkreten und plakativen Beispiels an: Vielleicht haben Sie vor Jahren in einem Buch über Körpersprache gelesen, dass vor der Brust verschränkte Arme bei einem Gegenüber nur eines bedeuten können: Ablehnung auf allen Ebenen! Verlassen Sie sich 100-prozentig auf dieses Wissen (auf diese rationale Wahrnehmung und Erfahrung), werden Sie bei sämtlichen Meetings, in denen jemand die Arme verschränkt, auf eine vermeintliche Ablehnung Ihrer Person, Ihrer Botschaft oder Ihrer Position reagieren. Wenn Sie aber Ihre anderen Sensoren (Ihr Bauchgefühl) einsetzen, würden Sie vielleicht etwas ganz anderes wahrnehmen: Möglicherweise ist Ihr Gegenüber trotz verschränkter Armer hochkonzentriert, gelassen, interessiert. Vielleicht hat er einen Tennisarm oder eine Mausschulter und verschafft sich mit den verschränkten Armen lediglich eine halbwegs schmerzfreie Körperhaltung. Wenn Sie dieser Wahrnehmung (ganz oder auch nur zu einem Teil) vertrauen, ändert sich auch sofort Ihre eigene Haltung und das Gespräch nimmt höchstwahrscheinlich einen völlig anderen Verlauf als nach der rein rationalen Wahrnehmung.
Halten wir fest:
Rationale Wahrnehmung basiert auf Wissen und Erfahrung, also auf Vergangenem.
Bauchgefühl basiert auf realer Erfahrung im Moment.
Um Bezug auf das schöne Rucksack-Bild aus dem vorigen Kapitel zu nehmen: Rationale Wahrnehmung ist zu einem Großteil in unserem persönlichen »Rucksack« beheimatet, in dem all unsere Erfahrungen – positive wie negative – verstaut sind. Schauen wir uns kurz im Detail an, was wir dort noch finden: unvergessliche Glücksmomente mit Menschen, die wir geliebt haben, aber auch die enttäuschte Liebe. Genauso finden sich im Rucksack vergangene Erfahrungen in Jobs – gute und schlechte, bedeutungslose und katastrophale. Beim Durchwühlen würden wir auch Gefühltes finden, das zu einer Zeit passiert ist, an die wir uns nicht bewusst erinnern können (z. B. Erlebnisse als Säugling).
Um es auf den Punkt zu bringen: Alles, was Menschen mit uns gemacht haben, was wir selbst mit uns gemacht haben und was wir erlebt haben – also alle Erfahrungen – sind in unserem Rucksack aufbewahrt. Auf manches können wir nicht bewusst, sondern nur über unser Unterbewusstsein zugreifen.
Und das Unterbewusstsein greift ziemlich oft in den Rucksack: Jede Begegnung mit Menschen lässt das Unterbewusstsein aktiv werden und es vergleicht sie mit früheren Erfahrungen. Je größer die Anzahl früherer Begegnungen und Situationen, desto größer sind die Möglichkeiten des Abgleichs. Sind Sie bisher nur relativ wenigen Menschen begegnet, wird Ihre Wahrnehmung schwächer ausgeprägt sein. Ein praller Rucksack wird zu einer prallen Einschätzungsfähigkeit führen.
Natürlich ist alles weitaus komplexer, als wir es hier schildern: Neben dem Rucksack und unserem Bauchgefühl spielt auch die Körperlichkeit eine Rolle. Klarer formuliert: Der Mensch (bzw. sein Unterbewusstsein) kann andere auch über Einfühlungsvermögen – besser bekannt unter Empathie – wahrnehmen. Empathie ist sogar mehr als »nur« passive Wahrnehmung, sondern hat auch eine wichtige aktive Komponente: Sie vereint Einfühlungsvermögen und die angemessene Reaktion auf die Gefühle von anderen.
Was das mit Körperlichkeit zu tun hat? Sie kennen vielleicht folgende Reaktionen ihres Körpers auf Musik oder einen Vortrag oder ein Gespräch: Gänsehaut, Bauchkribbeln, Nervosität. Diese Phänomene sind Ausdruck einer Qualität, die eigentlich seelischer Natur ist und die sich so auch physisch manifestiert.
Empathie komplettiert die für Leader wichtigen Ebenen der Wahrnehmung: rationale Wahrnehmung, dann das sogenannte Bauchgefühl und schließlich die seelische Wahrnehmung. Diese drei Ebenen helfen Leadern, ein Gegenüber – ohne Worte bzw. Dialog – wahrzunehmen und einzuschätzen.
Lust auf ein kleines Experiment, das Sie all das, was wir theoretisch behauptet haben, auch in der Praxis erfahren lässt? Sie brauchen dazu nur 15 Minuten in einer kommenden Besprechung oder einem Teammeeting.
Ihr Auftrag bei dieser Gelegenheit: Suchen Sie sich eine Teilnehmerin oder einen Teilnehmer aus und beobachten Sie diese oder diesen 10 bis 15 Minuten lang bewusst. Wählen Sie eine Person, die sie nicht wirklich kennen, mit der Sie nach dem Meeting aber die Möglichkeit haben, ein kurzes Gespräch zu führen.
Phase 1: Rationale Wahrnehmung
Notieren Sie sich alles, was Ihnen während der Beobachtung auffällt – auch wenn es noch so unbedeutend sein mag: Trägt die Person zum Beispiel eine farblich auf den Rest der Kleidung abgestimmte Krawatte oder Schuhe? Trägt sie die Haare länger als andere Personen im Raum? Wie gepflegt wirken Hände und Fingernägel? Sind die Haare gefärbt?
Phase 2: Emotionale Wahrnehmung
Halten Sie kurz inne und geben Sie dann das »Wahrnehmungszepter« an Ihr Gefühl weiter: Was nehmen Sie jetzt wahr? Wirkt Ihr Gegenüber traurig oder nervös? Spielt sie oder er mit einem Stift oder wackelt mit den Beinen? Fährt sie oder er sich nervös durch die Haare und lässt den Blick unruhig durch den Raum schweifen? Oder ruht sie oder er in sich und bleibt auch körperlich entspannt und ruhig?
Alles, was Sie bis jetzt gesehen haben, sind Fakten und rein subjektive Wahrnehmungen, die sich auf Ihre eigenen Gefühle und Stimmung beziehen und von Ihrer Persönlichkeit (und Ihrem Rucksack) interpretiert wurden. Wichtig ist, dass Sie all diese Wahrnehmungen im Moment und ohne nachzudenken schriftlich festhalten! Nehmen Sie sich dafür 10 bis 15 Minuten Zeit!
Phase 3: Analyse
Nun sollten Sie genug wahrgenommen haben, um mindestens drei Annahmen über das Wesen des beobachteten Menschen formulieren zu können, zum Beispiel diese:
Was zeichnet diese Person aus?
Worin ist sie gut?
Womit hat sie Schwierigkeiten?
Worauf ist sie stolz?
Phase 4: Check
Nach dem offiziellen Ende des Meetings ist es Zeit, Ihre getroffenen Annahmen zu überprüfen und aktiv auf die Person zuzugehen. Stellen Sie sich vor und kommen Sie mit der Person ins Gespräch! Um Ihre Annahmen bestätigt zu bekommen, sind wahrscheinlich gezielte Fragen notwendig, die das Gespräch in die gewünschte Richtung lenken. Wenn Sie also etwa angenommen haben, dass die Person sehr korrekt ist und heute sehr nervös war, fragen Sie einfach »Wie geht es Ihnen?«, »Haben Sie heute noch andere Termine?« oder »Was ist Ihr Spezialgebiet?«. Auch wenn Sie wahrscheinlich keine direkten Antworten auf Ihre Annahmen erhalten werden – es wird genug Input kommen, um Ihnen ein Gefühl dafür zu geben, ob Sie halbwegs richtig oder komplett falsch lagen. Das Wichtigste ist jedoch, dass Sie Ihr Wahrnehmungsvermögen bewusst eingesetzt und reflektiert haben. Denn auch Phase 4 ist bewusstes Wahrnehmen – diesmal allerdings in aktiver Verbundenheit und nicht nur auf dem Fundament Ihres eigenen Rucksacks und Ihrer bisherigen Erfahrungen. Es ist neuer Input, der Ihnen für die Zukunft Mut gibt, wahrzunehmen und nachzufragen.
Sie lernen durch ihre bewusstere Wahrnehmung einerseits andere Menschen besser kennen, andererseits vertrauen Sie wieder öfter Ihren Instinkten. Nur zur Erinnerung, falls Sie noch Bedenken haben sollten: Diese Gabe zur bewussten Wahrnehmung tragen Sie von Geburt an in sich! Als Kind haben Sie dieses Talent zur Wahrnehmung ständig verwendet. Sie konnten gar nicht anders, weil Ihnen andere Mitteln noch nicht zur Verfügung standen. Babys tun nichts anderes, als den ganzen Tag Stimmungen wahrzunehmen. So erkunden sie Menschen um sich herum: Wahrnehmen ohne Urteil. Auf Basis dieser Inputs ziehen sie ihre Schlüsse und agieren dementsprechend.
Gehen Sie also zurück zu Ihren Wurzeln und in eine Zeit, als Ihr Rucksack noch ziemlich leer war. Vertrauen Sie Ihrer Wahrnehmung wieder etwas mehr und holen Sie sich die entsprechende Bestätigung, dass Sie sich auf Ihre Wahrnehmung verlassen können. Denn ein intakter Instinkt ist eines der wichtigsten Tools, die Sie als Leader benötigen!
Ein feiner Unterschied
Ronja und Heiko waren seit einigen Jahren Kollegen in einem großen internationalen Konzern. Auch wenn sie in zwei verschiedenen Ländern arbeiteten und sich – wenn überhaupt – nur einmal im Jahr persönlich sahen, waren sie einander menschlich verbunden. »Auf einer Wellenlänge«, wie man so sagt. Das Bemerkenswerte daran war, dass sie nicht einmal im selben Unternehmensbereich tätig waren, aber dennoch im Rahmen von abteilungsübergreifenden Projekten immer wieder miteinander zu tun hatten. Aber auch über die reine Arbeit hinaus tauschten sie sich ein- bis zweimal pro Woche über Mail, Chat oder Telefon aus. Sie erkundigten sich, wie es beim anderen so läuft, und fragten nach, ob sie einander unterstützen könnten. Und diese Fragen allein waren in gewissen Situationen oft schon die wichtigste Unterstützung von allen.
Speziell Ronja fühlte sich mit einigen Aufgaben manchmal alleingelassen und hatte darüber hinaus noch das Problem, dass sie manchmal mit ihrem geringen Selbstvertrauen zu kämpfen hatte. Da sie an ihrem Standort die Einzige aus ihrer Abteilung war und kein direkter Vorgesetzter vor Ort greifbar war, lag es oft an ihr, Dinge zu gestalten und zu entscheiden – eine Situation, die ihr nicht immer behagte. Und obwohl sie ihre Arbeit gut machte, fehlte ihr noch immer die nötige Sicherheit, um persönlich den entscheidenden nächsten Schritt zu machen und die quälenden Fragen loszuwerden, die sie sich immer wieder aufs Neue stellte: »Bin ich wirklich gut in meinem Job?«, »Sind meine Entscheidungen richtig?«, »Wird meine Leistung anerkannt?«, »Werde ich als Person anerkannt?«
Bei einem wichtigen internationalen Projekt fanden sich Ronja und Heiko wieder einmal in einem gemeinsamen Projektteam wieder. Ronja hatte sogar die Leitung inne, obwohl viele wichtige Persönlichkeiten des Unternehmens auch mit im Team waren, die leider sehr entgegengesetzte Meinungen dazu hatten, welche Schritte man setzen sollte.
Während einer Telefonkonferenz, bei der diese Meinungen aufeinanderprallten, hörten Ronja und Heiko, jeder in seinem Büro sitzend, nicht nur zu, sondern schrieben sich parallel dazu auch über den firmeninternen Chat ihre Eindrücke.
Ronja: »Ich kenne mich überhaupt nicht mehr aus.«
Heiko: »Ich auch nicht, ehrlich gesagt. Jeder will etwas anderes.«
Ronja: »Das Beste wäre, ich melde mich krank und lass andere entscheiden.«
Heiko: »Nicht aufgeben. Alles wird sich klären.«
Doch nach Ende der Telefonkonferenz, in der Ronja wie gewohnt sehr leise und zurückhaltend geblieben war, hatte sich nicht viel geklärt. Also griff sie danach abermals zum Hörer, um persönlich mit Heiko nicht nur über das Projekt, sondern vor allem über ihre eigene Leistung mit jemand zu sprechen, dem sie vertraute und bei dem sie ganz offen sein konnte.
Im Gespräch zu zweit äußerste sie zunächst ihre gewohnten Selbstzweifel. Doch dann lieferte sie plötzlich eine messerscharfe Analyse der Probleme, zeigte Verständnis für die unterschiedlichen Positionen und schlug schließlich nächste Schritte vor, die mit hoher Wahrscheinlichkeit alle Hindernisse, die noch vor Kurzem als unüberwindbar erschienen, beseitigen würden.
Heiko war beeindruckt: »Wahnsinn. Das ist ... genial! Wieso hast du bei der Telefonkonferenz nichts gesagt? Und wieso kannst du es jetzt – nur fünf Minuten später – bei mir?«
Ronjas Antwort: »Weil du mir wirklich zuhörst.«
Sie schickte daraufhin ihre Gedanken in einer Mail an alle Projektbeteiligten, brachte das Vorhaben wieder auf Kurs und Wochen später auch zu einem erfolgreichen Abschluss.
Heiko wurde erst viel später bewusst, dass sein wichtigster Anteil an dem Erfolg gewesen war, seiner Kollegin in einem entscheidenden Moment bewusst eine Möglichkeit gegeben zu haben, sich selbst zuzuhören.
Als die beiden Jahre später Mitarbeiterverantwortung hatten, erinnerten sie sich bei ihren wöchentlichen Gesprächen, die sie nach wie vor führten, oft an das damalige Projekt und an den Durchbruch.
Heiko: »Weißt du, was mir damals klar geworden ist?«
Ronja kannte die Antwort natürlich, aber sie wollte es von Heiko hören und sagte: »Schieß los!«
Heiko: »Es ist oft gar nicht so wichtig, wer das Sagen hat, sondern wer anderen die Möglichkeit gibt, angstfrei zu sprechen und sich so vor sich selbst zu beweisen.«
Ronja erwiderte lächelnd: »Das ist für mich noch immer die schönste Erklärung für Empathie, die ich kenne.«
Spiegelneuronen – unsere unfehlbaren Wahrnehmungshelfer
Aber wie funktioniert das eigentlich alles? Womit nehmen wir andere – abgesehen von unseren körperlichen Sinnen– wahr? Wo entsteht der Funke der Erkenntnis in uns?
Hier kommt etwas ins Spiel, das zutiefst menschlich ist, uns aber gleichzeitig fremd bzw. sogar fantastisch erscheint: die menschlichen Spiegelneuronen. Wir müssen lächeln, wenn der andere lächelt. Wir müssen weinen, wenn der andere weint. Wir können durch Beobachtung Verhaltensweisen übernehmen oder »nur« erkennen. Auf den Punkt gebracht: Spiegelneuronen ermöglichen es uns, zu erkennen, was der andere gerade fühlt oder was in ihm vorgeht. Mehr noch: Sie geben uns auch die Möglichkeit zu erkennen, was der andere gerade braucht oder zu tun beabsichtigt.
Gerade bei Personen, die einander sehr gut kennen, wird dieses Phänomen oft und deutlich sichtbar – bis hin zu dem Punkt, an dem sie gleichzeitig und synchron eine Aussage tätigen. Aber auch bei Menschen, die einander völlig fremd sind, funktionieren Spiegelneuronen und statten uns mit einem einzigartigen Talent aus, das wir auf vielfältige Weise – auch in der Führung – einsetzen können. Denn letztlich »senden« und »empfangen« wir Menschen permanent im Austausch mit anderen.
Ein kurzer Blick zurück: Menschliche Kommunikation hat ihren Ursprung im motorischen System des Körpers. Das sogenannte »Broca-Areal«, das die Spracherzeugung steuert, liegt im motorischen Teil der Hirnrinde und ist direkt mit dem Spiegelneuronen-System verbunden. Die menschliche Sprache hat sich nicht aus Vokalisation (zum Beispiel aus Warnrufen) entwickelt, sondern aus Gesten (motorischen Aktionen). Daher beruht das Verstehen der Sprache letztlich auf der inneren Nachbildung des motorischen Handelns anderer.
Der italienische Neurophysiologe Giacomo Rizzolatti und sein Forschungsteam gelten als Entdecker des Spiegelneuronen-Systems. Sie wiesen seine Existenz 2002 im Brodmann-Areal des menschlichen Gehirns nach. Dieses Areal hatte Rizolatti mit »Action Recognition« (Wiedererkennung von Handlungen) und Imitation in Verbindung gebracht.
Eine 2010 publizierte Studie (»Single-Neuron Responses in Humans during Execution and Observation of Actions«) berichtete dann schließlich über den ersten direkten Nachweis von Spiegelneuronen beim Menschen. Einem Team der University of California unter der Leitung von Roy Mukamel war der direkte Nachweis von Motoneuronen, den Nervenzellen, die das Phänomen der Wechselwirkung möglich machen, gelungen. Das Team beobachtete die Hirnaktivität von 21 Versuchspersonen, denen Elektroden ins Gehirn implantiert worden waren, im Rahmen diverser Wahrnehmungstests.
Spiegelneuronen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sowohl auf das eigene Durchführen einer Aktion als auch auf die Beobachtung dieser Aktion bei anderen Menschen – eine gespiegelte Aktion – völlig identisch reagieren: Sie geben elektrische Impulse ab. Wir erleben das als Intuition.
Spiegelneuronen helfen uns also intuitiv dabei, Menschen wahrzunehmen. Doch nicht immer läuft diese Gabe einflussfrei ab. Unser persönlicher Rucksack spricht – wie schon erwähnt – immer ein Wörtchen mit. Es ist also nicht ratsam, immer nur auf den Kopf oder nur auf den Bauch zu hören. Darum ist die Kombination unserer Wahrnehmungen auf rationaler Ebene, empathischer Ebene und von körperlichen Reaktionen so wichtig. Oder mit anderen Worten: Das Gesamtpaket der Wahrnehmung muss stimmig sein!
Ein Beispiel dazu: Wenn Sie einem Mitarbeiter aus Ihrem Team eine Aufgabe übertragen, könnte Ihnen auffallen, dass etwas nicht stimmt. Sein Körper ist angespannt und er wirkt nicht wirklich glücklich. Trotzdem sagt er mehrmals, dass er die Aufgabe gerne übernimmt. Für die rationale Wahrnehmung ist alles in Ordnung. Schließlich hat er ja gesagt, dass es kein Problem gibt. Bauchgefühl und Empathie sind jedoch sicher: Da stimmt etwas nicht.
Also: Nachfragen!
Doch der Mitarbeiter sagt erneut, dass er die Aufgabe gerne übernimmt. Wenn Sie sich damit zufriedengeben, hat der Kopf gegen den Körper gewonnen bzw. diesen ausgetrickst.
Um die anderen Ebenen ins Boot zu holen, wären folgende Fragen zielführend:
Was würde dich bei deinen Aufgaben unterstützen?
Was würde dir helfen?
Du wirkst auf mich nicht ganz glücklich, was geht dir durch den Kopf?
Schaffst du das im vereinbarten Zeitraum oder brauchst du länger?
Damit würden Sie auf Ihren Instinkt hören, der ganz klar signalisiert hat, dass irgendetwas nicht stimmt.
Mit derart in die Tiefe gehenden Fragen fällt es dem Mitarbeiter höchstwahrscheinlich auch leicht, zu sagen, dass er die Aufgabe wirklich gerne machen würde, aber nicht weiß, wie er alles unter einen Hut bekommen soll. Jetzt können sie gemeinsam eine Lösung finden. Wären Sie Ihrem Instinkt nicht gefolgt, wäre der Mitarbeiter mit negativen Gefühlen an die Arbeit gegangen und ein klärendes Gespräch hätte womöglich erst nach dem ersten Scheitern stattfinden müssen.
Aber natürlich ist es nicht immer nur der Verstand, der in die Irre führen kann: Manche vertrauen ausschließlich auf ihr Bauchgefühl und landen dank dem persönlichen Rucksack erst recht auf dem Hosenboden.
Stellen Sie sich vor, Sie treffen auf jemanden, der ganz anders tickt als Sie. Noch dazu erinnert Sie der Kleidungsstil der Person auch noch an den aalglatten Typen aus der Buchhaltung, den sie auf den Tod nicht ausstehen können. Für das Bauchgefühl ist klar: Ablehnung! Aufgestellte Nackenhaare! Bloß schnell raus aus dieser Situation! Wir alle kennen das von beruflichen oder privaten Begegnungen, ebenso wie unsere Reaktion darauf. »Instinktiv«– also total irrational – gehen wir diesen Menschen aus dem Weg. Schließlich ist das Urteil unseres Rucksacks klar: »Damit habe ich schlechte Erfahrungen gemacht und ich habe keine Lust auf eine Wiederholung!«
Nun ist es wichtig, Ihrer rationalen Wahrnehmung Gehör zu schenken. Also nichts wie ran an diese Person! Nur so können Sie ein Gespräch ankurbeln und feststellen, ob diese Person wirklich das ist, was Sie aufgrund Ihrer Erfahrungen zu erkennen glauben. Oft werden Sie feststellen, dass dem ganz und gar nicht so ist.
Wenn Sie sich nun Situationen, wie Bewerbungsgespräche, vorstellen, können Sie erkennen, dass es eigentlich grob fahrlässig für jede Führungskraft ist, wenn sie dem ersten Instinkt nachgibt, ohne die anderen Aspekte zu berücksichtigen. Denn so würden sie möglicherweise gute Kandidatinnen und Kandidaten wegschicken – nur weil sie eine Person an jemand erinnert, mit dem sie in der Vergangenheit nicht so gute Erfahrungen gemacht haben.
Stellen Sie sich folgende Fragen:
Wie weit nehme ich andere wirklich wahr?
Wie schnell denke ich an etwas anderes bzw. jemand anderen?
Was hält mich davon ab, meine Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt zu beschränken?
Wie anstrengend ist es für mich, andere wirklich wahrzunehmen?
Was kann ich tun, um meine Wahrnehmung bewusst zu schärfen?
Was hält mich davon ab?
Was würde mich dabei besser unterstützen?
Wahrnehmungsübungen, wie sie in diesem Kapitel beschrieben werden, sind sowohl im Alltag als auch im Berufsleben äußerst nützlich und lohnend. Nehmen Sie andere bewusster wahr, fällt Ihnen das Vermitteln von Respekt, Wertschätzung und Vertrauen leichter, und diese Fähigkeit wächst mit jeder Anwendung und verändert Ihre Kommunikation mit anderen.