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Als Filmer unter Filmemachern

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Jonas Mekas’ Selbstpositionierung im Kunstkontext vor dem Hintergrund seiner Arbeit als Filmkritiker

»Warum, glauben Sie, datiere ich alles, was ich mache?«, fragte Picasso einmal den Fotografen Brassaï und gab gleich selbst die Antwort: Er glaube daran, dass es einmal eine »Wissenschaft vom Menschen« geben werde, die sich mit dem Ursprung des schöpferischen Lebens befasse und diese Fragmente wieder in eine temporale und kausale Ordnung füge.1

Picasso eröffnete damit seinen Werken ein zusätzliches Dispositiv – sie waren auf diese Weise nicht mehr nur Kunstwerke, sondern Lebensdokumente in einem allgemeineren Sinn, den tiefer zu erschließen er späteren Generationen auftrug. Jonas Mekas’ filmische Tagebücher wären für diese Wissenschaft wohl von ganz besonderem Interesse. Wie Picasso schuf er sie mit Blick auf spätere Generationen, auch wenn er das nie offen bekannt hätte. Einen beträchtlichen Teil seiner Lebenszeit verwendete er auf den Aufbau eines Archivs und die Akquise immenser Spendengelder für ein Gebäude, in dem sie – gemeinsam mit den bedeutenden Filmsammlungen der Anthology Film Archives – dauerhaft ihren Platz finden würden.

Anders als Picasso zeigte sich Mekas jedoch wenig überzeugt vom Kunstwert seiner Werke. Und das, obwohl er als Publizist, Kritiker und Archivar wie nur wenige Zeitgenossen zur Etablierung eines Kanons des nicht-industriellen Kinos beigetragen hatte. Man mag darüber streiten, inwiefern es für die Rezeption eines Kunstwerks entscheidend ist, ob sich sein Urheber selbst für einen Künstler hält. Vielleicht sah sich Jonas Mekas tatsächlich nur als filmenden Amateur im Gegensatz zu den eigentlichen Filmkünstlern, für deren Anerkennung er sich engagierte. Tatsächlich aber waren beide Betätigungsfelder eng verbunden. Die Ansprüche, die er an die Werke anderer stellte, seine persönlichen Vorlieben in der Filmästhetik, finden auch in seinem eigenen Œuvre ihren Niederschlag.

Mekas hatte seit den 1950er Jahren als Filmkritiker gearbeitet und sich dabei nicht vor normativen, ja mitunter dogmatisch vorgebrachten Werturteilen gescheut. Seine persönliche Geschmacksbildung teilte er dabei mit seiner Leserschaft, die er auf eine Reise vom italienischen Neorealismus bis zu Stan Brakhage und Andy Warhol führte. Davon unabhängig entstand sein eigenes filmisches Werk, das im Rückblick die gleichen Ideale einer Fusion zwischen Realismus und ästhetischer Radikalität anstrebt.

Wie kaum ein Filmkünstler dokumentierte Mekas sein öffentliches und privates Leben, die Zeugenschaft und Mitgestaltung kulturgeschichtlicher Schlüsselmomente mit der Kamera. Seine 16-mm-Bolex-Kamera machte er sich zu eigen wie stilbildende Jazzmusiker ihre Instrumente – mit dem Ergebnis einer unverwechselbaren, improvisatorischen Stilistik. Das Fragmentarische der Form, das Stop and Go der Kamera, verweist dabei auf den unsichtbaren Teil der Totalität des Lebens, die einzufangen so unmöglich wäre wie die Utopie, die Picasso formulierte. Seine späten, auf Video gedrehten Tagebuchfilme – die meisten bislang unveröffentlicht – verfolgten das gleiche Ziel auf denkbar gegenläufige Art und Weise – etwa wenn er über eine ganze Bandlänge seinen Fußweg durch New York festhielt.2

Mekas selbst begegnete freilich jedem auf sein Werk bezogenen Kunstbegriff mit einer Distanz, mit der er seine Zeitgenossen gerne in Verlegenheit brachte. Wer ihn als Journalist interviewte oder als Kurator einem Publikum vorstellte, tappte oft in Fallen bezüglich der Kategorisierung seines Schaffens, die er genüsslich auszulegen wusste. Die Begriffe Experimentalfilm und Avantgarde, die er anfangs selbst als Autor verwendet hatte, hielt er schließlich für abwertend, gleich wessen Werk es betraf. Und wenn man einen Vertreter des independent cinema suche, dann solle man sich besser an Steven Spielberg wenden: »Er ist wirklich unabhängig. Er kann tun und lassen, was er will.«3

Aber konnte das Jonas Mekas nicht erst recht? Seine mit minimalen Produktionsmitteln geschaffenen Werke brauchten keine Auftraggeber, keine Förderinstitution und sie mussten es keinem Publikumsgeschmack recht machen. Auch wenn er sie kontinuierlich im Programm der Film-Maker’s Cinematheque präsentierte, versagte er ihnen in der Diskussion darüber den gleichen Status, den er anderen Filmkünstlern einräumte. Oder lag darin gerade ein unmissverständliches Understatement, das dem wachsenden Ruhm aus einer Außenseiterposition heraus umso wirkungsvoller zuarbeitete?

Für Peter Kubelka war er die Verkörperung des filmenden Zeitzeugen aus einem Klassiker der sowjetischen Stummfilmavantgarde: »Als Parallelfigur zu Jonas sehe ich Dziga Vertov, der sich selbst als Mann mit der Kamera sah, wobei in meinen Augen Jonas dieser Titel viel stärker gebührt.«4

Wenn Kubelka ihn in diesem Vergleich noch über Vertov stellt, kommt er dem erwartbaren Widerspruch des Angesprochenen zuvor. 1968 hatte sich Mekas im Gespräch mit Pier Paolo Pasolini ablehnend zu einer Filmavantgarde geäußert, der es primär um Modernität bestellt sei – und Vertov als Beispiel genannt: »Maybe what we need is a very OPEN understanding of ›new‹, so that they couldn’t use it to club us on the head. Otherwise there will be more and more surrealists, Dziga Vertovs und cubists to club us on the head. I know it’s on its way.«5


Jonas Mekas spricht anlässlich der VIDEONALE.scope über das Werk von Joseph Cornell, Köln, Filmclub 813, 21.11.2015

Mekas’ Verweigerung gegenüber einem Avantgardebegriff, der sich auf Innovation stützt, ließ ihn für sein eigenes Werk vorsichtshalber jede Positionierung innerhalb des Dispositivs Kunst ablehnen. Die Verweigerung gegenüber jeder, selbst der wohlwollendsten Einordung endete nicht beim Schubladendenken der professionellen Vermittler oder der kommerziell bestimmten Präferenzen des Filmmarkts. Es betraf den Status seiner beruflichen Existenz an sich.

»I’m not a filmmaker«, war Mekas überzeugt, »I just keep on filming.« Und ein Regisseur sei er erst recht nicht, da er ja nichts inszeniere.6 Sein einziger abendfüllender Spielfilm, THE BRIG (1964), stand dazu für ihn nicht im Widerspruch – schließlich hatte er lediglich eine Inszenierung des Living Theatre in eine filmische Inszenierung übertragen.

Das heißt nicht, dass sich Mekas nicht doch in einem künstlerischen Berufsbild positioniert hätte – dann aber ebenfalls in distanzierender Absicht. 1961, auf dem Höhepunkt seiner Meinungsmacht als Filmkritiker der Village Voice, sagte er in einem Interview mit den Tänzern Erick Hawkins und Lucia Dlugoszewski: »I am not a dance critic. I am a poet and, as poets usually are, I have always been interested in other arts, which are as great a source of inspiration as life itself.«7

Mit fortschreitender Anerkennung durch künstlerische Institutionen ging Mekas in seinen späten Jahren nur noch mehr auf Distanz zum Kunstbegriff. »Er dozierte geradezu, dass er kein Künstler sei«, erinnert sich der Filmemacher, Kurator und zeitweilige Filmrestaurator in den Anthology Film Archives Bruce Posner. »Er machte daraus viel Aufhebens. Wie konnte er so etwas behaupten, ohne eine Miene zu verziehen? Es war doch vollkommener Unsinn. Ich weiß beim besten Willen nicht, was Mekas von seinem eigenen Werk hielt.«8

Bei Publikumsgesprächen erregte Mekas’ vehement vorgetragene Ablehnung gegenüber nahezu jedem üblichen Attribut künstlerischer Arbeit regelmäßig Debatten. Am 6. April 2013 wollte bei einem von Peter Kubelka moderierten Abend im Österreichischen Filmmuseum ein Besucher von Mekas wissen, was er mit dem Satz gemeint habe, der in einem Gespräch mit Ulrich Obrist gefallen sei: »My film is real life«. Offenbar hatte es Mekas gegenüber dem Kurator, mit dem er befreundet war, soweit getrieben, dass er zu einer Formulierung zurückfand, wie sie in der Filmgeschichte aus anderem Kontext bekannt ist – als Credo des Cinéma Vérité. Dazu passte auch Mekas’ Antwort gegenüber dem Wiener Zuschauer: »Eine Kamera kann nichts anderes aufnehmen als das, was vor ihr ist. Erwarten Sie nicht, dass ich ihnen etwas über Intuition erzähle, das führt nirgendwo hin.«9

In seiner Verweigerung, seine Arbeitsweise zu erklären, fand er in Kubelka einen Verbündeten. Schon als Filmjournalist und Herausgeber seiner Zeitschrift Film Culture hatte er dem österreichischen Filmkünstler 46 Jahre zuvor gegenübergesessen. Damals war er der Interviewer und Kubelka diktierte: »When you transcribe this interview, you should state that nothing I say has anything to do with my films.«10


Jonas Mekas und Peter Kubelka, Collage aus: Film Culture (1967), Nr. 44, S. 42

Tatsächlich zelebrierte Mekas in späteren Jahren geradezu die Gleichsetzung von Film und Leben in seiner visuellen Arbeit – als würde jeder künstlerische Eingriff diese Balance unweigerlich zum Einsturz bringen. Im Kommentar seines Films AS I WAS MOVING AHEAD OCCASIONALLY I SAW BRIEF GLIMPSES OF BEAUTY (2000) erklärt er aus dem Off in einem schwelgerischen, melodischen Tonfall, der an die musikalischen Textdeklamationen des von ihm verehrten Komponisten John Cage erinnert: »Every second of what you see is real. It’s real. Right there in front of your eyes. What you see, it’s real.«11 – als sei die Beschwörung des Wirklichkeitsanspruchs aus dem Off nicht selbst ein Weg, die Bilder aus der wirklichen Welt in die Ebene der Poesie zu überführen. Selbstverständlich war ihm das Artifizielle seiner bereits in der Kamera vorgenommenen Schnitte und die Montagen, an denen er lange arbeitete, durchaus bewusst – doch, wie er vorgab, nicht rational erklärlich. In einem späten Interviewfilm äußerte er: »It’s not really real. Because to be really real I would have to film it non-stop. But I only make excerpts. Why did I chose those 15 seconds and not the rest?«

In der Geschichte des nicht-fiktionalen Films ist die Gleichsetzung von Film und Leben, wie sie die veristische Schule des Dokumentarfilms forderte, selbst eine Irrealität – und als Utopie fast ein Äquivalent zu Picassos Gleichsetzung von Werk und menschlicher Existenz. 1957 hatte Mekas als Chefredakteur von Film Culture zu den ersten Filmkritikern gehört, die die ersten Kurzfilme der britischen Free-Cinema-Bewegung dem US-amerikanischen Publikum anempfahlen. In der Februar-Ausgabe 1958 bezeichnet er die Veröffentlichungen von TOGETHER (1956), O DREAMLAND (1953), MOMMA DON’T ALLOW (1956), NICE TIME (1957) und EVERY DAY EXCEPT CHRISTMAS (1957) als »the only creative contribution to cinema that reached us from Britain in 1957.«12

Ebenso gehörte Mekas einige Jahre später zu den Verfechtern der US-amerikanischen Cinema-Vérité-Bewegung des Direct Cinema. 1964 verteidigte er in seiner Village-Voice-Kolumne die Vorzüge des Films WHAT’S HAPPENING! THE BEATLES IN THE U. S.A (1964) von John und David Maysles gegenüber dem von Kritik und Publikum wegen seiner aus der Avantgarde entlehnten Stilmittel gefeierten Spielfilm A HARD DAY’S NIGHT (1964): »You have to see the Maysles film to realize what really good photography is, or what cinema is, or what really the Beatles are… Only one who is completely ignorant of the work of the ›new American cinema‹ film-makers during the past three years can call ›A Hard Day’s Night‹, even jokingly, the ›Citizen Kane‹ of the hand-held cinema (Sarris did it). But why should I argue about it. There are so many people who like ›A Hard Day’s Night‹ for so many different reasons. I have said often enough that art is not the only thing in life. But I haven’t said strongly enough, and I may as well say it right now, that art exists. Aesthetic experience exists. ›A Hard Day’s Night‹ has nothing to do with it. At best, it is fun. But ›fun‹ is not an aesthetic experience: fun remains on the surface. I have nothing against the surface. But it belongs where it is and shouldn’t be taken for anything else.«13

In seiner stark wertenden Grenzziehung zwischen der unverstellten dokumentarischen Arbeit und der ästhetisierenden Adaption dokumentarischer Stilformen steht Mekas in einer langen Tradition. Ende der 1920er Jahre hatte Walter Ruttmanns Film BERLIN – DIE SINFONIE DER GROSSSTADT (1927) eine Debatte über Wirklichkeitsinszenierungen ausgelöst. In seinem einflussreichen Text »The First Principle of Documentary« zitierte der britische Publizist und Filmemacher John Grierson Ruttmanns Werk als Antithese zu seiner Definition des Dokumentarischen.14

Indem Mekas seiner eigenen Arbeit das Etikett Kunst versagte, betonte er indirekt ihren dokumentarischen Wert. Zugleich nahm er es aus der Schusslinie jener, deren Beruf es ist, Kunst kritisch zu hinterfragen und zu bewerten (wie der Autor Mekas es tat). Mekas war seit seinen Anfängen ein ausgesprochen scharfzüngiger Kritiker, was seinen frühen Village-Voice-Artikeln eine besondere Aufmerksamkeit verschaffte. Anders als viele Filmkritiker, die später Filmemacher wurden – wie etwa François Truffaut, Claude Chabrol, Lindsay Anderson, Peter Bogdanovich, Bertrand Tavernier oder Hans-Christoph Blumenberg –, tauschte er nicht einen Beruf gegen einen anderen. Er verstummte nicht als Kritiker, und auch als er nicht mehr schrieb, hielt er sich mit seinem Urteil über die Werke von Kollegen nicht zurück.

Ohnehin verstanden sich Mekas’ Filmkritiken selten als Betrachtungen von Einzelwerken. Vielmehr lesen sich seine Texte als Bausteine zu einer programmatischen Absicht, seine Idee des Unabhängigen Films in Opposition zur bisherigen US-amerikanischen Experimentalfilmszene zu etablieren. Als Kurator (das Wort lehnte er ebenfalls ab) oder Programmierer der 1962 gegründeten Film-Makers’ Cooperative gab er diesen Ideen eine dauerhafte Präsenz im New Yorker Kinoleben.

Henning Engelke sieht Mekas’ Wirken in Opposition zu dem von Amos Vogel geleiteten Filmclub Cinema 16, der sich seit den 1940er Jahren zu einer Institution der Experimentalfilmszene entwickelt hatte: »Die Konkurrenz beschränkte sich nicht nur auf wirtschaftliche Aspekte; beide Organisationen wetteiferten auch um Filmemacher und Filme. Einer immer wieder vorgebrachten Anekdote zufolge entstand die Idee zur Gründung der Coop aus Vogels Weigerung, Brakhages ›Anticipation of the Night‹ in den Verleih aufzunehmen.«15

Bereits Mitte 1963 stellte das Cinema 16 seinen Vorführbetrieb ein; nun war Mekas’ Film-Makers’ Cooperative das Zentrum der New Yorker Experimental- und Undergroundfilmszene. Damit hatte Mekas’ auch eine beachtliche filmpolitische Meinungsmacht gewonnen. Er stand für ein Kino, das sich nicht formalistisch verstand, sondern auch in einem gesellschaftspolitischen Sinne revolutionär sein sollte: »What’s the use of cinema if man’s soul goes rotten«16, schrieb er 1962 in seinem programmatischen Text Notes on the New American Cinema.

Auch innerhalb der progressiven Experimentalfilmszene fand Mekas formalistische Dogmen und Ausschlusskriterien, gegen die sich opponieren ließ. 1963 zeigte er beim Experimentalfilmfestival im belgischen Knokke Jack Smith’ von der Jury abgelehnten Film FLAMING CREATURES (1963) vor Gästen wie Agnès Varda, Roman Polanski und Jean-Luc Godard in seinem Hotelzimmer. Smith’ Betonung des technisch Unvollkommenen – für viele Vertreter eines fotografisch hochstehenden Experimentalfilms eine Zumutung – entsprach Mekas’ anti-formalistischem Credo. Besonders beeindruckten ihn die tänzerischen Inszenierungen des Filmemachers, für Smith »one of the last and most uncompromisingly great artists our generation had produced.«17 Smith’ unschuldig-erotische Camp-Ästhetik eröffnete der damaligen Experimentalfilmszene eine im künstlerischen Kontext unbekannte Gegenkultur, und darin steckte auch ein gesellschaftlich revolutionäres Potenzial.

Es ist in diesem Zusammenhang von Interesse, dass Mekas’ persönliche filmische Geschmacksbildung vom modernistischen Kanon der großen Formalisten Eisenstein oder Hitchcock abweicht. Prägender waren Begegnungen mit dem italienischen Neorealismus und gesellschaftskritischen Werken von Helmut Käutner und Wolfgang Staudte, die er in der Nachkriegszeit in Deutschland gesehen hatte.18 Auch als Mekas 1958 im Rückblick auf das zurückliegende Kinojahr das britische Free Cinema rühmt, lobt er im selben Text den in den USA kaum bekannten Helmut Käutner für seinen Antikriegsfilm DIE LETZTE BRÜCKE (1954) neben den jüngsten Werken von De Sica und Fellini.

Vor dem Hintergrund der hohen Wertschätzung für realistisches Kino wirken Mekas’ eigene 16-mm-Filme wie die logische Verbindung zwischen den Idealen des Dokumentar- und Experimentalfilms. Im Februar 1962 lässt er den Pionier der Filmtheorie in Deutschland, Rudolf Arnheim, über das Free Cinema schreiben. Arnheim rühmt die Werke der Briten als »small injections of reality«19 – eine Formulierung, die gewiss auch eine Intention von Mekas’ eigenem Filmwerk beschreiben könnte.

Im selben Jahr formuliert Mekas programmatisch: »With Man’s soul being squeezed out in all four corners of the world today, when governments are encroaching upon his personal being with the huge machinery of bureaucracy, war and mass communication, [the American artist] feels that the only way to preserve man is to encourage his sense of rebellion, his sense of disobedience, even at the cost of open anarchy and nihilism. The entire landscape of human thought, as it is accepted publicly in the Western world, has to be turned over.«20

Was Mekas von den US-amerikanischen Filmkünstlern fordert, findet er in europäischen Werken vorformuliert, im italienischen Neorealismus, dem britischen Free Cinema oder der französischen Nouvelle Vague. Dabei hatte gerade dieser neue künstlerische Realismus zeitgleich auch US-amerikanische Vorreiter. Truffaut nannte als persönliches Vorbild für seinen ersten Spielfilm LES 400 CENT COUPS (SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN IHN, 1958) etwa den 1953 unabhängig produzierten Spielfilm LITTLE FUGITIVE (DER KLEINE AUSREISSER, 1953) des New Yorker Filmemachers und Fotografen Morris Engel.21 Man sollte annehmen, dieses 1953 ohne Budget und mit einer Handkamera in Coney Island gedrehte Drama entspreche geradezu idealtypisch Mekas’ radikal-veristischem Programm, doch auch in späteren Interviews hält er Engel auf Distanz zur eigenen Bewegung.

Zwar räumt er ein: »Luckily, just around that time there were in New York people like Morris Engel and Sidney Meyers, who were beginning to make a different kind of cinema, who began breaking away from Hollywood«, wirft dann aber Engel eine fehlende Distanz zu Hollywood vor: »All the so called New York School film makers such as Morris Engel, Lionel Rogosin, Emile De Antonio, and Shirley Clarke, had Hollywood dreams.«22 Als ich Mekas 2008 nach Engel fragte, gab er zur Antwort: »Natürlich kannte ich Morris Engel. Was soll ich über ihn sagen? Er hatte zwei Arme und zwei Beine.«23 Offensichtlich maß Mekas mit zweierlei Maß, wenn er den kommerziell produzierten europäischen Filmen eines Helmut Käutner oder Albert Lamorisse mehr Anerkennung zollte als dem No-Budget-Film seines völlig unabhängig arbeitenden Kollegen.

Die Überzeugung, selbst kein Künstler zu sein, hinderte ihn nicht daran, in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens mit zahlreichen Museumsausstellungen für seine Werke ein weiteres Dispositiv zu erobern, den Kunstkontext. Auch auf dem kommerziellen Kunstmarkt war Mekas plötzlich gefragt. Im Jahr 2010 verklagte er den New Yorker Galeristen Harry Stendhal, weil dieser mit Mekas’ Fotoarbeiten eine Restaurantrechnung von 90.000 Dollar bezahlt hatte – ohne ihn am Verkauf zu beteiligen (man einigte sich 2014 außergerichtlich). In der Berichterstattung der New York Post lagen die Sympathien klar bei Mekas, der von einem der reichen Galerie-Besitzer in Chelsea zur Finanzierung des extravaganten Lebensstils betrogen worden sei. Eine Sammlung von 40 Elvis-Presley-Stills sei an den Luxus-Gastronomen Giuseppe Cipriani gegangen.

Sollten Mekas’ auf Fotopapier ausbelichtete Filmstreifen, die er 2000 im Bildband Just Like a Shadow24 versammelte, etwa die Werke eines Mannes sein, der sich nicht für einen Künstler hielt? Formal erinnern sie in ihrer Betonung von Randperforation und Reihung an Werke von Robert Frank und Andy Warhol. Beide haben dem Doyen der New Yorker Filmavantgarde unendlich viel zu verdanken; und natürlich tauchen sie auch als Porträtierte auf den Seiten dieses filmisch-fotografischen Tagebuchs ein ums andere Mal wieder auf.

Flüchtigkeit und Präzision trafen sich ursprünglich in der robusten Mechanik von Mekas’ Bolex-Kamera, doch erst in den destillierten Fragmenten, den Frozen Film Frames, wie sie Mekas nennt, wird der ganze impressionistische Zauber des körnigen 16-mm-Formats sichtbar.

Wen immer Mekas porträtierte – Dalí, Lennon & Ono, Hermann Nitsch, Allen Ginsberg oder Nico –, stets konnten seine Modelle sicher sein, dass der Augenblick, den sie ihm schenkten, auch in all seiner Augenblicklichkeit überleben würde. Mekas bewegte seine Kamera so virtuos und sicher wie ein erfahrener Violinist den Geigenbogen. »When I film, I try to go directly to the essence, to what I feel is the essence, and this has absolutely nothing to do with ›creation‹. I just film it. That’s all«, erklärt er im Interview mit Jérome Sans. Um im selben Gedankengang selbst die Verbindung zu den Filmemachern herzustellen, die er in seiner Zeit als Filmkritiker gefeiert hatte. »Cinéma vérité? That was a term used to describe a certain style, a certain way of filming ›real life‹, films usually concerned with certain themes that society was interested in. Cinéma vérité grew out of the excitement caused by the coming into existence of light portable cameras with sound. So we had Jean Rouch and Richard Leacock and many others. They made films for either social or anthropological interest, some great films. But I am somewhere else. My films are totally of no interest to society. They are totally useless to society.«25

1 Brassaï, Gespräche mit Picasso, Reinbek b. Hamburg 1986, S. 79 f. — 2 Beschreibung von Bruce Posner, der viele dieser Bänder gesichtet hat. Gespräch mit dem Autor, 22.1.2021. — 3 In person: Jonas Mekas im Gespräch mit Peter Kubelka, Video von Luise Kubelka vom 6.4.2013 auf dem YouTube-Kanal des Österreichischen Filmmuseums, https://www.youtube.com/watch?v=RgS8Wacyi9o (letzter Zugriff am 6.3.2021). — 4 Peter Kubelka, »Jonas liebt die Welt, also macht die Welt ihn glücklich« (Interview mit Christoph Gnädig), in: Jonas Mekas. Der Flaneur mit der Kamera, Wien 2013, S. 13–18, hier S. 13. — 5 »A Conversation Between Pier Paolo Pasolini, Jonas Mekas and Gideon Bachmann« (1967), in: Jonas Mekas, Scrapbook of the Sixties. Writings 1954–2010, Leipzig 2015, S. 157–180, hier S. 160. — 6 Jonas Mekas, »Just Like a Shadow …« (Interview mit Jérome Sans), in: Jonas Mekas. Interviews, hg. von Gregory R. Smulewicz-Zucker, Jackson 2020, S. 112–126, hier S. 120. — 7 »›Here and Now with Watchers‹, or Dance as a Modern Art. A Conversation between Erick Hawkins, Lucia Dlugoszewski, and Jonas Mekas« (1961), in: Mekas, Scrapbook of the Sixties (s. Anm. 5), S. 19–39, hier S. 19. — 8 Gespräch mit dem Autor, 22.1.2021. — 9 In person: Jonas Mekas im Gespräch mit Peter Kubelka (s. Anm. 3). — 10 Jonas Mekas, »Nothing I Say Has Anything to Do with My Films«, in: Film Culture (1967), Nr. 44, S. 42–47, hier S. 43. — 11 Jonas Mekas – Always Beginning, 11.09.2017, https://www.youtube.com/watch?v=kzkzQExJ9rc (letzter Zugriff am 7.3.2021). — 12 Jonas Mekas, »Editorial«, in: Film Culture 4 (1958), Nr. 2, S. 2. — 13 Jonas Mekas, »Movie Journal«, in: Village Voice, 10.9.1964, S. 16. — 14 John Grierson, »The First Principle of Documentary« (1932), in: Grierson on Documentary, hg. von Forsyth Hardy, London 1979, S. 35–46, hier S. 42. — 15 Henning Engelke, Metaphern einer anderen Filmgeschichte. Amerikanischer Experimentalfilm 1940–1960, Marburg 2018, S. 16. — 16 Jonas Mekas, »Notes on the New American Cinema«, in: Film Culture (1962), Nr. 24, S. 6–16, hier S. 14. — 17 Jonas Mekas, »Jack Smith, or the End of Civilization«, in: Mekas, Scrapbook of the Sixties (s. Anm. 5), S. 235–244, hier S. 244. — 18 Jonas Mekas, »Brief Glimpses of Beauty« (Interview mit Hans-Ulrich Obrist), http://jonasmekas.webfactional.com/images/cmag_interview.pdf (letzter Zugriff am 7.3.2021). — 19 Rudolf Arnheim, »Free Cinema«, in: Film Culture (1958), Nr. 17, S. 11. — 20 Mekas, »Notes on the New American Cinema« (s. Anm. 16), S. 14. — 21 Vgl. Ulrich Gregor/Enno Patalas, Geschichte des Films, München/Gütersloh/Wien 1973, S. 450. — 22 Jonas Mekas, »Just Like a Shadow …« (s. Anm. 6), S. 120. — 23 Gespräch mit dem Autor, Köln, 9.11.2008. — 24 Jonas Mekas, Just Like a Shadow, Göttingen 2000. — 25 Mekas, »Just Like a Shadow …« (s. Anm. 6), S. 122.

FILM-KONZEPTE 61 - Jonas Mekas

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